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Mit der e-Petition gegen Rentenzwang für Selbstständige

Wussten Sie, dass es möglich ist, online bei der Bundesregierung eine Petition einzureichen? Jährlich gehen etwa 20.000 solche Anfragen und Beschwerden ein - auch die von Tim Wessel. Der Jungunternehmer wehrt sich gegen Rentenzwang für Selbstständige - und hat Zehntausende Mitunterzeichner gefunden

Von Jonas Reese | 24.05.2012
    Demokratie von zuhause aus. Oder, im Fall von Tim Wessels, von seinem Büro aus. Der 27-Jährige sitzt vor seinem Rechner in einer Altbauwohnung in Münster, Westfalen, Sitz seines IT-Unternehmens mit zehn Mitarbeitern. Von hier aus berät er Kunden in allen möglichen Computerfragen. Oder er mischt sich ein - in die Bundespolitik. Der Jungunternehmer ist der Initiator einer Internet-Petition gegen die Einführung einer Rentenversicherungspflicht für Selbstständige wie ihn. Mehr als 80.000 Unterstützer unterzeichneten innerhalb der vierwöchigen Frist. Einer von ihnen hat sogar einen dramatisch anmutenden Werbefilm dazu verfasst.

    "Ein Drittel aller Freiberufler leben unter der Armutsgrenze. Das ist hart, aber okay, denn wir denken langfristig. Ein monatlicher Pflichtbeitrag von bis 400 Euro würde das Aus bedeuten für mich, meine Freunde, und viele andere. Das Aus für wirtschaftliche Kreativität und Innovation."

    Die Petition richtet sich gegen einen Bestandteil des Rentenpakets von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Sie will Selbstständige vor Altersarmut schützen, indem sie sie zu einer Altersvorsorge verpflichtet. Sie sollen einen einkommensunabhängigen Mindestbeitrag von bis zu 400 Euro zahlen. Für den Petenten Tim Wessels ein Angriff auf seine unternehmerische Freiheit.

    "Ich will halt Verantwortung für mein eigenes Leben übernehmen. Gerade bei Selbstständigen ist das Bewusstsein sehr stark dafür da, und da kann der Einzelne eigentlich wesentlich bessere und sinnvollere Entscheidungen treffen."

    Bereits als Schulkind im Alter von 15 Jahren hat Wessels sein Unternehmen gegründet. Schon damals hat er sich auch für Politik interessiert. Stundenlang verfolgte er die Parteitage der Grünen im Fernsehen. Heute trägt er ein blaues T-Shirt zur blauen Jeans, einen leichten drei Tage Bart und eine randlose Brille. Hätte es damals einen Pflichtbetrag für die Rentenversicherung und somit zusätzliche Fixkosten gegeben, er hätte sich wohl nicht selbstständig gemacht, sagt er. Von der Leyens Ansatz, vor Altersarmut zu schützen, findet er aber dennoch grundsätzlich richtig.

    "Ich will den gar nicht absprechen, dass da eine gute Intention hintersteht, ich halte das nur nicht für gut durchdacht. Ich kann mir auch vorstellen, dass man ein Defizit hat in den Rentenversicherungen, und dass es interessant ist, neue Beitragszahler zu gewinnen, um die Kassen wieder aufzufüllen."

    So ähnlich werden es wohl auch seine gut 80.000 Mitunterzeichner sehen. Auf der Internetseite des Bundestages konnten sie sich mit Namen registrieren und elektronisch ihre Unterschrift leisten. Von denen hätten Wessels 50.000 genügt, um eine öffentliche Behandlung seines Ersuchens im Petitionsausschuss zu erzwingen. Eine politische Diskussion über seinen Einwand – mehr nicht. Für den 27-Jährigen schon ein großer Erfolg.

    "Dass man quasi eine Unterschriftensammlung hat, mit der man jetzt zu Politikern gehen kann und sagen kann, ich bin nicht der Einzige der damit ein Problem hat, sondern über 80.000 andere Menschen auch. Und dass man das auch gegenüber den Medien so sagen kann, das ist eigentlich das Wichtigste an so einer e-Petition, fast noch wichtiger als der Petitionsausschuss."

    Knapp 20.000 Bitten oder Beschwerden gehen jährlich beim Petitionsausschuss ein. Dem Kummerkasten der Nation, wie das Gremium genannt wird. Jede vierte Eingabe erfolgt mittlerweile als e-Petition übers Internet – Tendenz steigend. Seit 2005 ist das möglich. Rot-Grün hat dies damals durchgesetzt, um den Bürgern die Beteiligung am politischen Geschehen zu erleichtern. Für Wessels scheint das geglückt.

    "Ich hoffe, dass sich da was wandelt, und was in Bewegung kommt, und man nicht nur alle vier Jahre seine Stimme abgibt, sondern dass man sich etwas mehr einbringt, ein bisschen mehr Gedanken macht, Bürger mehr einbezogen werden; wobei man - glaube ich - auch sagen muss, dass die Beteiligungsmöglichkeiten gar nicht so schlecht sind. Oft mangelt es einfach an den Leuten, die sich für Dinge interessieren."

    Interesse zu generieren, das war auch für Wessels die größte Herausforderung. Vier Wochen lang schien kaum jemand sein Online-Begehren bemerkt zu haben. Der pfiffige IT-Unternehmer schrieb Politiker und Medien an – keine Reaktion. Erst über das soziale Netzwerk Facebook kam dann der nötige Schub – dann boomte es.

    "Das ist halt ein ganz faszinierendes Beispiel an Schwarmintelligenz, wo man sieht, dass ganz viele Leute, die man überhaupt nicht kennt, an irgendwas mitschreiben, und man hat innerhalb kurzer Zeit tolle Ergebnisse."

    Erheblicher Gegenwind durch die Schwarmintelligenz droht Ursula von der Leyen nicht zum ersten Mal. Die bisher erfolgreichste Online-Beschwerde an den Bundestag war die gegen ihr "Zugangserschwerungsgesetz" im Kampf gegen Kinderpornografie im Internet. Rund 130.000 Unterzeichner wehrten sich vor zwei Jahren gegen die geplante Netzsperre – sie trat kurzzeitig trotzdem in Kraft. Mittlerweile ist das Gesetz zurückgenommen.

    So könnte es auch im Fall der Rentenversicherung für Selbstständige laufen. Bis zur Sommerpause will die Bundesarbeitsministerin einen Gesetzentwurf vorgelegen. Mit einer öffentlichen Anhörung vor dem Petitionsausschuss kann Tim Wessels aber frühestens Ende des Jahres, vielleicht sogar erst zu Beginn des kommenden rechnen. Bis dahin aber könnte von der Leyens Rentenpaket längst verabschiedet sein. Für Wessels wäre das sehr ärgerlich.

    "Ich fände es schon sinnvoll, wenn das alles etwas zeitnaher geschehen würde, wenn man sagen würde, wir machen schon mal eine Anhörung eine Woche später. Ich denke, ein bisschen mehr könnte da schon noch passieren, wenn man über die 50.000 kommt."

    Bis der Petitionsausschuss sein Anliegen auf die Tagesordnung nimmt, will der junge Mann nicht warten. Er will nun offline weitere Unterschriften sammeln. Vielleicht noch eine reale Demonstration organisieren. Echter, sichtbarer Widerstand auf der Straße ist durch das Web 2.0 eben nicht zu ersetzen.

    e-Petitionen-Webseite des Deutschen Bundestages