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"Mit der Wahrheit so enorm gequält"

Besonders das Buch "Kindheitsmuster" empfindet die Schriftstellerin Katja Lange-Müller als besonders prägend. Auf einer Lesung spürte sie "ihre Zerrissenheit, ihre Wahrheitslust und gleichzeitig Wahrheitsangst", die auch ihr Werk bestimmt.

Katja Lange-Müller im Gespräch Karin Fischer | 01.12.2011
    Karin Fischer: Christa Wolf hat auf eine ganze Generation von Schriftstellerinnen in der DDR wie Brigitte Reimann einen großen Einfluss gehabt. Deshalb geht jetzt die Frage an die Schriftstellerin Katja Lange-Müller: Welche Rolle spielte sie für Ihre Generation? War sie ein Vorbild oder musste man sich an ihr abarbeiten?

    Katja Lange-Müller: Nein. Vorbild wurde sie, wenn überhaupt, für mich dann erst später. Ich kann es nur für mich sagen, für meine Generation kann ich nur bedingt sprechen. Abarbeiten ist vielleicht auch das falsche Wort. Ich habe sie so richtig kennengelernt eigentlich erst im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung. Ich war damals Hilfspflegerin in der Charité und gerade jetzt heute denke ich an die Lesung, die sie vor Patienten, vor Ärzten, Schwestern und Pflegern gehalten hat, damals aus "Kassandra", also wirklich mit zitternder Stimme und angstvoll. Es war eine riesenhafte, aber dennoch konspirative Veranstaltung. Da hat man schon gespürt, welche Probleme sie sozusagen mit dem Mut hat, mit dem sich Obrigkeitswidriges zuzutrauen. Nie und zu keiner anderen Zeit habe ich ihre Zerrissenheit, ihre Wahrheitslust und gleichzeitig Wahrheitsangst stärker gespürt als bei dieser Lesung.

    Fischer: "Kassandra", "Kindheitsmuster", "Kein Ort Nirgends", das sind ja interessanterweise genau die Bücher, die im Westen immer auf einen Subtext hin analysiert worden sind, nämlich auf einen systemkritischen. War das die allgemeine Lesart auch in der DDR oder stand da etwas anderes wie zum Beispiel auch die Frauenfiguren im Vordergrund?

    Lange-Müller: Nein. Also in diesem Punkte waren wir uns, glaube ich, doch ähnlich oder näher, als wir es damals vermutet hätten. Natürlich haben wir in jedem neuen Buch eines großen Autors dieses Landes erst mal sozusagen das zwischen den Zeilen versucht zu finden, zu lesen, zu interpretieren, zu spekulieren, wie und wie viel und in welcher Substanz da etwas vorkommt, was sozusagen in gewisser Weise systemkritisch ist. Klar: Auch wir waren so blöd sozusagen, die Texte, literarische Texte erst mal unter diesem Aspekt mit den Augen abzuleuchten. Das ist interessant. Das ist mir erst in letzter Zeit aufgefallen, wie stark wir alle fokussiert auf diese Dinge waren.

    Fischer: Und wieso sagen Sie von heutiger Sicht aus, wir waren so blöd?

    Lange-Müller: ..., weil man so Literatur nicht lesen sollte. Aber natürlich: Wir sind alle Menschen und unsere Wahrnehmung ist nicht multipel genug, um immerzu alle Aspekte zu berücksichtigen, wenn wir lesen.

    Fischer: Was macht für Sie die Literatur von Christa Wolf aus?

    Lange-Müller: ..., dass sie sich mit der Wahrheit so enorm gequält hat, wie kaum eine andere. Und das auch vielleicht am stärksten in "Kindheitsmuster", meinem Lieblingsbuch von ihr übrigens, weil sie die Widersprüche wirklich auch offen lässt, weil sie irgendwie schon versucht, herauszufinden, wie unsere Erinnerung funktioniert, wie selektiv, wie unzuverlässig, aber dennoch intensiv. Sogar unsere Erinnerungen an uns selbst sind pausenlos irgendwelchen Veränderungen, Korrekturen, Selektionen ausgesetzt. Und dafür ist "Kindheitsmuster" sozusagen für mich das exemplarische literarische Beispiel. Es ist vielleicht mehr ein Buch für Schriftsteller oder so, ich weiß es nicht. Aber ich habe da das meiste von ihr und auch über sie gelernt, an diesem Buch.

    Fischer: Nun ist ja der politische Kontext seit damals, seit 1989, ein ganz anderer geworden. Wie haben Sie Christa Wolfs Rolle in der DDR beurteilt, nach dem Fall der Mauer? Wie haben Sie diesen ganzen Prozess, der dann losging, beurteilt?

    Lange-Müller: Beurteilen – das ist so ein Wort, in dem das Wort Urteil für mich dominant drinsteckt. Und ich habe nichts beurteilt. Mich hat auch nicht gewundert, dass diese Geschichte mit IM Margarete irgendwie rauskam. Ich habe mich sehr viel später erst gefragt, ob man denn sozusagen als jemand, der als Kind und als junge Frau so intensive Kriegserfahrungen hat machen müssen wie Christa Wolf, ob so jemand etwas anderes sein konnte als denkender deutscher Schriftsteller, als Kommunist. Ich verstehe es besser, wie man das werden konnte, seit ich selber nicht mehr 20 und nicht mehr dauerpubertär bin oder so. Und das hatte natürlich dann auch bestimmte Konsequenzen, wenn man zur Konsequenz neigte, wie Christa Wolf es gerne getan hätte. Aber so konsequent, wie sie gerne gewesen wäre, war sie vielleicht gar nicht.

    Fischer: Katja Lange-Müller, Jahrgang 1951, die Autorin von unter anderem "Böse Schafe", zum Tod von Christa Wolf.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.