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Mit kompromissloser und analytischer Schärfe

1992 nahm sich die Schriftstellerin Gisela Elsner das Leben. Ihr Sprung aus dem Fenster einer Münchner Privatklinik signalisierte Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ihr Suizid überschattete ein großes literarisches Werk. Erstmals liegen nun ihre gesammelten Erzählungen in zwei Bänden vor.

Von Carola Wiemers | 02.09.2013
    Bei der Lektüre von Tagebüchern und Briefen berühmter Literaten drängt sich mitunter der Gedanke auf, wie intensiv beim Schreiben an eine spätere Veröffentlichung gedacht wurde. Wenige Texte gibt es hingegen, in denen der Verfasser beim eigenen Begräbnis das letzte Wort hat. Gisela Elsners Erzählung über "Die Auferstehung der Gisela Elsner" gehört dazu.

    "Man soll, heißt es so schön, die Toten ruhen lassen. Weil es sich hier jedoch um eine Tote handelt, die von vornherein auf nichts anderes als Trubel aus war, hält der Berichterstatter ein Verschweigen der Einzelheiten für unangebracht. Während manch einer unserer Dichter, die uns Wertvolleres zu sagen hatten, in aller Stille und Bescheidenheit unter seinem schlichten Stein zu Staub zerfällt, zog es Gisela Elsner bezeichnenderweise vor, selbst aus ihrer Verwesung ein Aufhebens zu machen."

    Die 1970 in der Anthologie "Vorletzte Worte. Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf" erschienene Erzählung ist eine schwarze Groteske mit Kassandra-Effekt. Denn der 1992 freiwillig aus dem Leben gegangenen Autorin wurde weder ein Elsner-Denkmal errichtet, wie es im Text heißt, noch wurden beim Begräbnis "Elsner-Plaketten" und "Luftballons mit der Signatur der Toten" verteilt. Als sie starb, war es um die große Stilistin und unbequeme Intellektuelle längst still geworden und ihr Werk aus dem Buchhandel verschwunden. In ihrem literarischen Nachruf macht die Tote als eine Art "Schaubudenfigur" aus dem Begräbnis ein makabres Happening.

    "Während die ahnungslosen Trauergäste vor der Gruft angelangt auf eine Grabrede warteten, bedienten die Halbwüchsigen (...) mehrere Knöpfe und Hebel am automatisierten Sarkophag, der sich mitsamt der angenieteten Gestalt aufrichtete. Eine Luftströmung brachte das Totenhemd sowie die beiden sorgsam gelockten Zotteln an der Schädeldecke zum Flattern, marionettenhaft nickte der Kopf der Trauergesellschaft zu (...) Die Einnahmen aus der gespenstischen Hantiererei mit ihren Gebeinen (...) sind schon jetzt so beträchtlich, dass man eine Erweiterung der Gruft ins Auge fasst, die die Familiengräber ringsum in Mitleidenschaft ziehen dürfte."

    Gisela Elsners Blick auf die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft ist kompromisslos und von analytischer Schärfe. Ihr Romandebüt "Die Riesenzwerge" von 1964 bezeichnet sie als einen "Beitrag", um die karge, emotionslose Sprache als ein Instrument ästhetischer Erkundung zu betonen. Dass Gisela Elsner bereits ein Jahrzehnt vor dem Erstling erzählend im satirisch-grotesken Fach brillierte, davon kann man sich nun in einer zweibändigen Ausgabe ihrer Erzählungen, die zwischen 1955 und 1992 entstanden, überzeugen.

    Enthalten sind sämtliche Texte aus den zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Bänden: "Triboll. Lebenslauf eines erstaunlichen Mannes" (1956), "Herr Leiselheimer und weitere Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen" (1973) und "Die Zerreißprobe" (1980) - außerdem finden sich Erstveröffentlichungen aus dem Nachlass, Radio-Erzählungen und in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien Publiziertes.
    In Band 1 – "Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen" – findet sich neben der bereits erwähnten "Auferstehung der Gisela Elsner" die Erzählung "Der Knubbel", in der es um die entwürdigende Situation von Frauen geht, die abtreiben wollen.

    "Nicht genug nämlich, dass sie sich eigens für die paar Minuten vor und nach der Untersuchung, diesmal gewillt, aufs Ganze zu gehen, wie sonst nur sonntags angezogen hatte: Frau Loos war auf Anraten ihres Mannes hin sogar eigens zum Friseur gegangen, um wenigstens für die beiden infrage kommenden Gefühlsregungen, aus denen heraus (...), von der Geldgier einmal abgesehen, der Votzenvölzner abtrieb: dem Mitleid und der Geilheit leidergottes, gewappnet zu sein."


    Mit der Erzählung schaltet sich Gisela Elsner – die 1971 auch Mitunterzeichnerin der "Stern"-Initiative "Wir haben abgetrieben" war – in die Diskussion um den Paragrafen 218 ein. Sie setzt nicht auf Identifikation, sondern konzentriert sich mit einer unterkühlten Erzählstrategie auf das Absurde der Situation, in der die Frau kriminalisiert wird. Sie thematisiert die Illegalität des Abbruchs, aber auch die Gefahr, aus finanzieller Not und Scham in die Hände einer Engelmacherin zu geraten.

    "Die Alte, der diese Art Broterwerb, bei dem es, wie sie es nannte, niemals ohne Zeter und Mordio abging, nüchtern zu sehr an den Nerven zerrte, hatte, ihrer plötzlich vom Halstuch bis zum Hutrand rotgefleckten Haut sowie den tapsigen Bewegungen nach zu urteilen, mit denen sie haarscharf an den Wasserschüsseln vorbei auf ihn zuging und ihm erst die Stricknadel und dann die Flasche abnahm, offensichtlich einen sitzen."

    Gisela Elsner distanzierte sich von der Frauenbewegung und lehnte die von vielen Feministinnen akzeptierten Begriffe "Frauenliteratur" und "weibliche Ästhetik" als eine geistige wie ästhetische Ghettoisierung mit fatalen Folgen ab.

    "Das ästhetische Verhältnis zur Welt (ist) bekanntlich nicht biologisch, sondern historisch bestimmt und durch die Interessen der jeweils herrschenden Klassen und Schichten bedingt."

    Mit resoluten Sprachgesten plädiert sie für eine souveräne Autorschaft und polemisiert 1983 im Essay "Autorinnen im literarischen Ghetto"

    "Dass eine Frau es gewagt hat, einer schriftstellerischen Tätigkeit nachzugehen, statt sich mit der traditionellen Rolle der schicksalsergebenen Hausfrau, der frustrierten Gattin, der aufopfernden Mutter oder des willfährigen Sexualobjekts zufriedenzugeben, wird ihr von der bürgerlichen Literaturkritik nur verziehen, wenn sie sich in ihren Büchern darauf beschränkt, ausschließlich Themen zu behandeln, die von den männlichen Kritikern als weibliche Themen betrachtet werden."

    Anhand der vorliegenden Erzählungen wird verständlich, warum Hans Magnus Enzensberger sie als "Humorist des Monströsen" lobt, das gerade im "Gewöhnlichen zum Vorschein kommt". Gisela Elsner, die aus einem großbürgerlichen Haus stammte - ihr Vater war Direktor bei Siemens -, nimmt die verschrobenen Marotten des westdeutschen Kleinbürgers und Mittelständlers ins Visier. Ihre Figuren sind emotional verkrüppelt und – wie Waldemar aus der Radio-Erzählung "Rüsenberg" von 1985 – krampfhaft um ein soziales Image bemüht.

    "Noch wichtiger als seine Gesundheit, deretwegen er täglich Weizenkeimlinge und Leinsamen hinunterwürgte, war Waldemar sein Ruf. Obwohl er im Grunde seines Herzens ein Liberaler war, legte er größten Wert darauf, dass man ihn für einen Linken hielt. Er riss sich darum, Protestaufrufe zu unterzeichnen, in denen das Baumsterben oder die Ausbürgerung eines Dissidenten zur Debatte stand."

    Der Geschlechterfrage steht Gisela Elsner äußerst skeptisch gegenüber. Ihre weiblichen Protagonisten behandelt sie keineswegs wohlwollender als die männlichen. So wird die Hobbytöpferin Jette Wurbs aus "Der Selbstverwirklichungswahn", einem bislang unveröffentlichten, undatierten Typoskript aus dem Nachlass, in ihrer handwerkelnden Stümperhaftigkeit als "beängstigend produktiv" vorgeführt.

    "Sie war nicht davon abzubringen gewesen, dass sie unbedingt vor dem Beginn der Wechseljahre eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung finden musste, die sich mit ihrer gesellschaftlichen Stellung als Gattin eines Leiters der Abteilung KULTURELLES WORT vereinbaren ließ (...) Das archaische Moment, dem sie nachjagte, fand indes nicht nur in ihren Töpferwaren seinen Niederschlag. Es griff auf ihr Äußeres über."

    Unter dem sezierend scharfen Blick der Autorin mutieren die Figuren – vom Ehepartner über den Arbeitskollegen bis zum Nachbarn - zu erbärmlichen Kreaturen, deren negative Energie mal in Gewalt, mal in Perversion umschlägt. Doch Gisela Elsners Interesse gilt nicht dem voyeuristischen Seelenstriptease. Ihre Texte verweigern sich einer gemütlichen Lektüre, weil sie auf Verfremdung in der sprachlichen Struktur setzen und sie in Themen wie der Arbeitslosigkeit, im Mietwucher und der Inflation politische Notstände aufdeckt, die bei den Betroffenen zu Ohnmacht oder eruptiven Gefühlsausbrüchen führen.
    In einer "Hörbild"-Reportage, die 1979 im Bayrischen Rundfunk gesendet wurde, berichtet sie vom "Glanz und Elend" in den Münchner Wärmestuben.

    "Bei den Besuchern der Wärmestube, deren Beheizungs- und Reinigungskosten vom Sozialamt Winter für Winter erstattet werden, handelt es sich um ehemalige Beamte, ein Wärmestubenbesucher war bei der Münchner Müllabfuhr tätig, ein anderer war Polizist, sowie um die Inhaber kleiner Handwerksbetriebe oder um ehemalige Angestellte."

    Gisela Elsners Erzählungen sind zeitgeschichtliche Dokumente, die durch ihre thematische Vielfalt und das satirisch-groteske Repertoire überzeugen. Die von der Kritik oftmals gerügte Schwierigkeit ihres Stils, der sich durch eine verschränkte und mitunter schwerfällig anmutende Syntax auszeichnet, erweist sich nach der Lektüre ihres Erzählerischen Gesamtwerks als Schwierigkeit beim Lesen der Wahrheit.

    Literaturhinweis: Gisela Elsner: Gesammelte Erzählungen in zwei Bänden. Hrsg. v. Christine Künzel, Verbrecher Verlag, Berlin 2013. Band 1: Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen, 272 Seiten, 15 Euro; Band 2: Zerreißproben, 224 Seiten, 15 Euro.