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Miteinander leben
Untergang des Abendlandes?

Wie verändern sich die deutsche und die österreichische Identität durch die Einwanderer? Über diese Frage diskutiert der Deutschlandfunk in einer dreiteiligen Debattenreihe, veranstaltet gemeinsam mit dem ORF und der Bertelsmann Stiftung. Der Auftakt fand in Berlin statt.

09.03.2016
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    "Was wir brauchen, ist eine gemeinsame Lösung." Dieser Aussage von Alev Korun, Sprecherin für Menschenrechte, Migration und Integration der Grünen im österreichischen Nationalrat, stimmten vermutlich alle Teilnehmer der Podiumsdiskussion "Untergang des Abendlandes? Identität und Zusammenhalt im 21. Jahrhundert" am 4. März in der Repräsentanz der Bertelsmann-Stiftung in Berlin zu. "Weil große Teile der Politik, vor allem große Teile der Regierenden, jahrelang ihren Bevölkerungen nicht reinen Wein eingeschenkt haben, und jahrelang so getan haben, als wäre Migration so etwas, was man wie einen Wasserhahn auf und zu drehen kann", sagte Korun auf die Frage, warum die Regierungen in Deutschland und Österreich es nicht schaffe, den Ängsten der Bevölkerung souverän zu begegnen.
    "Wir wissen ja schon seit Jahren, dass Menschen übers Mittelmeer nach Europa kommen", stimmte Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin, ihr zu. Den Ängsten könne man unter anderem begegnen, indem man die Dimensionen der derzeitigen Migration deutlich mache. Bisher spreche man von einem Bevölkerungszuwachs von nur einem Prozent sowohl in Deutschland als auch in Österreich.
    Reinhard Müller, verantwortlicher Redakteur für "Staat und Recht" sowie "Zeitgeschehen" bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, äußerte Verständnis für den jüngsten Kurswechsel Österreichs in der Flüchtlingspolitik. Die Sorge vieler Menschen auch in Deutschland begründe sich in der "Wahrnehmung eines Kontrollverlustes staatlicher Organe".
    Auch Migrationsforscher Rainer Münz, Mitglied des European Strategy Centre, sprach von einem gefühlten Kontrollverlust, weshalb die Willkommenskultur vielfach durch Skepsis abgelöst werde. Ein Problem sei, dass die Flüchtlinge gezwungen sein, illegal einzureisen, um dann Asyl zu beantragen. Gäbe es einen legalen Weg für sie, ins Land zu kommen, würde das die Situation verbessern.
    Hören Sie hier den Mitschnitt der Diskussionsrunde , die auf dem Dokumentationskanal im Internet "Dokumente und Debatten" ausgestrahlt worden ist.
    Diskussionsteilnehmer:
    • Prof. Dr. Naika Foroutan, Humboldt-Universität zu Berlin, stellv. Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung
    • Dr. Reinhard Müller, Journalist, verantwortlicher Redakteur für "Staat und Recht" sowie "Zeitgeschehen" bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
    • Alev Korun, Politikerin, die Grünen, Sprecherin für Menschenrechte, Migration und Integration, Abgeordnete im österreichischen Nationalrat
    • Dr. Rainer Münz, Migrationsforscher, Mitglied des European Political Strategy Centre, EU Kommission
    Moderation
    • Doris Simon, Deutschlandfunk
    • Christoph Takacs, ORF III
    Aufzeichnung am 4. März 2016, 11:00 Uhr, in der Bertelsmann-Repräsentanz Berlin.

    "Miteinander leben - Perspektiven durch Einwanderung"
    "Miteinander leben - Perspektiven durch Einwanderung", so heißt unsere neue Reihe. In der ersten Veranstaltung am 4. März war der Debattenbeitrag unter dem Titel "Zwei Staaten, zwei Nationen – und jede Menge Identitäten: Nationales Selbstverständnis und Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt in Deutschland und Österreich" (Verfasser: Werner T. Bauer) ein Ausgangspunkt des Gesprächs.
    Hier eine Zusammenfassung des Beitrags:
    Deutschland und Österreich unterscheiden sich bezüglich des Umgangs mit gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt augenscheinlich. Denn der Umgang mit "dem Fremden" ist immer auch eine Frage des Umgangs mit sich selbst, eine Frage der Identität.
    Da ist auf der einen Seite die "verspätete Nation" Deutschland, ein Landstrich mit hoch entwickelter Kultur, politisch jedoch lange Zeit ein Flickenteppich kleiner Staaten und deshalb ein Spielball mächtigerer Nachbarn. Historisch gesehen wurde es eher durch Aus- als durch Einwanderung geprägt – ein Land, das, endlich vereint, durch seine nationale Hybris Europa und die Welt zweimal ins Unglück stürzte. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs fand Deutschland dennoch relativ rasch zu einer neuen, unaufgeregten Identität.
    Auf der anderen Seite Österreich, das Erbe eines kontinentalen und multinationalen Großreiches. Das Land ist seit Jahrhunderten von Zuwanderung geprägt. Seither ringt die Gesellschaft mit der Frage nach der nationalen Identität. Österreich ist bis heute hin- und hergerissen zwischen der Erinnerung an die imperiale Vergangenheit und der Realität eines zwar wohlhabenden, aber international weniger bedeutenden Staates.
    Daraus resultieren Mentalitätsunterschiede. Entscheidend für den unterschiedlichen Verlauf der Integration der "Gastarbeiter" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren allerdings in erster Linie ökonomische und politische Faktoren. Während zahlreiche "Gastarbeiter" Arbeit in der deutschen Großindustrie fanden, wurde die Anstellung von Ausländern in den verstaatlichten (und staatsnahen) Betrieben Österreichs von Politik und Gewerkschaften erfolgreich verhindert. Den "Gastarbeitern" und ihren Nachkommen gelang in Deutschland zumindest teilweise der soziale Aufstieg, in Österreich gehören sie über Generationen der Unterschicht an.
    Die 1980er- und 1990er-Jahre waren in beiden Staaten vom vergeblichen Abwehrkampf gegen die weitere Zuwanderung gekennzeichnet. Im Unterschied zu Österreich vollzog Deutschland unter der rot-grünen Koalition allerdings einen Paradigmenwechsel – unter anderem durch die Einführung des ius soli, des Geburtsortsprinzips im Staatsbürgerschaftsrecht.
    Die deutsche Wiedervereinigung stellte das Land vor immense Herausforderungen und führte gleichzeitig zu einem beängstigenden Anstieg ausländerfeindlicher Gewalttaten. Das "neue deutsche Wirtschaftswunder" bildete die Basis für eine pragmatische, von Nützlichkeitserwägungen geprägte Herangehensweise an das Thema Zuwanderung. In Österreich "besetzt" die rechtspopulistische FPÖ das Thema seit nunmehr zwei Jahrzehnten. Politik und Gesellschaft verweigern sich einem von Vernunft und Augenmaß geprägten Umgang mit der Zuwanderungs- und Integrationsfrage konsequent. Abzuwarten bleibt allerdings, wie sich die aktuelle "Flüchtlingskrise" in den kommenden Monaten auch auf Deutschland auswirken wird.
    Den kompletten Debattenbeitrag "Zwei Staaten, zwei Nationen - und jede Menge Identitäten" finden Sie auf den Seiten der Bertelsmann-Stiftung zum Download.
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