Freitag, 19. April 2024

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Mittelalterliche Pilgerlieder
Festival in romanischen Kirchen im Tessin

Das "Llibre Vermell de Montserrat" ist eine einzigartige Sammlung von Pilgerliedern und Tänzen aus dem 14. Jahrhundert. Die Capella de Ministrers singt daraus beim Festival "Cantar di Pietre" in der italienischsprachigen Schweiz.

Am Mikrofon: Rainer Baumgärtner | 22.04.2020
    Totenkopf-Fries auf weißem Putz an der Seite der Kirche San Giorgio in Morbio Inferiore (Schweiz).
    "Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen", heißt es in einem der Pilgerlieder aus dem Llibre Vermell de Montserrat (Francesco Piraneo Giuliano)
    Der Tessin weist etliche romanische Kirchen auf, und diese alten Gemäuer will eine jährliche Reihe zum Leben erwecken. Ihr Titel: ‚Cantar di Pietre‘ - frei übersetzt: das Singen der Steine. Der veranstaltende Verein präsentiert dabei ausschließlich Musik aus Mittelalter und Renaissance. Eines der herausragenden Konzerte der vergangenen Saison war das Eröffnungskonzert in der kleinen Kirche San Giorgio in Morbio Inferiore, dem südlichsten Ort der Schweiz. Das spanische Alte-Musik-Ensemble Capella de Ministrers führte dabei katalanische Pilgerlieder und -Tänze aus dem 14.Jahrhundert auf - Stücke, die sich in einer einzigartigen Handschrift im Kloster Montserrat bei Barcelona erhalten haben.
    Im 19. Jahrhundert hat man sie in einen roten Umschlag eingebunden, deshalb ist sie heute als ‚Llibre Vermell de Montserrat‘ bekannt, als ‚rotes Buch von Montserrat‘. Die Konzerte des 32. Festivaljahrgangs waren auf neun Wochenenden im September und Oktober verteilt. Und zum Auftakt hatte man die spanische Capella de Ministrers in die Kirche San Giorgio in Morbio Inferiore eingeladen. Das ebenfalls 1987 gegründete Ensemble aus Valencia führte Musik aus einer einzigartigen Sammlung von Pilgerliedern und Tänzen aus dem 14. Jahrhundert zu Ehren der Jungfrau Maria auf. Dieses "Llibre Vermell", das wegen seines Einbandes so genannte "rote Buch", hat sich im Kloster Montserrat bei Barcelona erhalten.
    Zentrum der Marienverehrung
    Das Benediktinerkloster Montserrat wurde im 11. Jahrhundert in einem Gebirge 40 Kilometer nordwestlich von Barcelona gegründet. Es entwickelte sich bald zu einem Zentrum der Marienverehrung in Katalonien und wurde ein bedeutender Wallfahrtsort. Bis heute strömen die Pilger herbei, um vor der ‚schwarzen Madonna‘ zu beten, einer Marienfigur mit Jesuskind auf dem Schoß.
    Das Kloster war im ausgehenden Mittelalter auch ein wichtiges kulturelles Zentrum mit einer großen Bibliothek. Im Jahr 1399 wurde in der Schreibstube der Abtei eine umfangreiche Handschrift fertiggestellt. Ursprünglich bestand sie aus mehr als 170 Blättern, von denen ein Großteil noch heute erhalten ist. Darauf: Ein breites Spektrum lateinischer Texte, die sich mit dem Heiligtum befassen: Wundererzählungen, Predigten, Bekenntnistexte, liturgische Gebete und vieles mehr.
    "Nur sittliche und andächtige Lieder"
    Der besondere Schatz des Kodex besteht in den zwölf Blättern, auf denen zehn Lieder mit Noten aufgezeichnet sind. Anschließend an das erste Werk hat der Kopist notiert, weshalb er die Stücke zusammengetragen hat:
    "Da die Pilger manchmal bei der Nachtwache und auch tagsüber auf dem Kirchplatz singen und tanzen wollen, und sie dort nur sittliche und andächtige Lieder singen dürfen, sind hier einige aufgeschrieben. Sie sollen in anständiger Weise und maßvoll verwendet werden, damit jene nicht gestört werden, die ihre Gebete und frommen Betrachtungen fortführen möchten."
    Aus dieser Anmerkung lässt sich schließen, dass die Pilger damals mit den Liedern der Sammlung noch nicht vertraut waren, sonst hätten sie die Mönche nicht notieren müssen.
    Die meisten Gesänge sind lateinisch, so auch das "Stella splendens in monte - Glänzender Stern auf dem Berg". Es geht darum, dass alle Mitglieder der Gesellschaft zusammenkommen, um die Jungfrau Maria anzurufen. Es gibt aber auch ein paar Ausnahmen vom Lateinischen, darunter das Stück "Los set goyts". In der Handschrift ist darüber vermerkt:
    "Ballade von den Sieben Freuden unserer Lieben Frau, auf Katalanisch in der Sprache des Volkes, als Rundtanz."
    Festival in malerischer Umgebung
    Das Ensemble Capella de Ministrers ist genauso alt wie das Festival in der italienischsprachigen Schweiz. 1987 kam dort eine Gruppe von einheimischen Alte- Musik-Enthusiasten auf die Idee, die vielen romanischen Kirchen im Tessin für ein Festival zu nutzen. Inzwischen führt man die Veranstaltungsreihe in Kooperation mit der benachbarten italienischen Provinz Lecco an einer Reihe von Wochenenden im Frühherbst durch. Ihrem Konzept sind die Schweizer aber treu geblieben. Passend zum Alter der historischen Gotteshäuser erklingt ausschließlich Musik aus dem Mittelalter und der Renaissance. So wie auch beim Auftakt zum mittlerweile 32. Festival in der kleinen Kirche von Morbio Inferiore. Diese geht auf das neunte Jahrhundert nach Christus zurück, sie ist im Laufe der Zeit aber mehrmals umgebaut worden und erhielt ihre jetzige Form im 16. Jahrhundert. Im Konzert trug das große Fresco an der Stirnseite des Gebäudes zum passenden Ambiente bei: Es stellt die Anbetung der Hirten vor dem Jesuskind und seiner Mutter Maria dar!
    Ebenfalls im Jahr 1987 hat im spanischen Valencia der Gambist Carles Magraner sein Ensemble gegründet. Die Anzahl der Mitwirkenden variiert je nach Programm - beim Festival ‚Cantar di Pietre‘ trat man zu siebt auf. Die fünf Instrumentalisten setzten dabei Fidel, Flöten, Lauteninstrumente, Dudelsack, Schalmei, Harfe sowie Glöckchen und weiteres Schlagwerk ein.
    Die ‚Capella de Ministrers’ präsentierte ihr Programm mit Musik aus dem ‚Llibre Vermell de Montserrat‘ im Konzert in der Südschweiz mit einem sehr bunten Instrumentarium. Aber nur ein gutes halbes Dutzend Musiker wirkten mit. Als Ensembleleiter Carles Magraner die spätmittelalterlichen katalanischen Marienlieder vor fast 20 Jahren für CD aufnahm, setzte er fast drei Mal so viele Musiker ein. Der entscheidende Unterschied: In Morbio sangen nur Delia Agúndez und Jordi Ricart, auf der CD hingegen ließ er die Gesänge zumeist von einem kleinen Chor vortragen.
    Innige Marienfrömmigkeit
    So führen auch andere Gruppen diese Musik häufig auf. Sie wollen damit hervorheben, dass die Lieder einst für die Schar der gläubigen Pilger zum Heiligtum von Montserrat aufgeschrieben wurden. Man kann sie aber auch anders sehen, und zwar als durchaus kunstvolle Kompositionen. Im Kloster Montserrat wirkten im späten Mittelalter viele hoch gebildete Mönche und Priester. Diese waren mit den neuen musikalischen Strömungen der Zeit vertraut, wie sie etwa am katalanisch-aragonesischen Königshof gepflegt wurden. Und Aspekte davon lassen sich auch in den Strophenformen und im Notenbild des ‚Llibre Vermell‘ nachweisen. Fünf der zehn Stücke sind einstimmige Tanzlieder, drei können als Kanons mit bis zu drei Stimmen gesungen werden und zwei sind mehrstimmige Lieder. Es scheint, dass die Komponisten der Lieder effektvolle traditionelle Melodien aufgegriffen und sie mit kunstvoll gebauten Versen kombiniert haben. Aus allen spricht eine innige Marienfrömmigkeit, besonders auch aus dem nun folgenden Lied "Mariam matrem virginem attolite - Preiset Maria, die Mutter und Jungfrau". Den Schluss bildet dann ein besonders beschwingtes Stück, das man als Totentanz auffassen kann: "Ad mortem festinamus".
    "Wir eilen dem Tod entgegen, wir wollen nicht mehr sündigen! Du wirst ein wertloser Kadaver sein – warum schützt du dich nicht gegen die Sünde? Warum begehrst du nach Geld? Warum trägst du prunkvolle Kleider? Warum nimmst du dich nicht deines Nächsten an?"
    Festival Cantar di Pietre
    El Llibre Vermell de Montserrat
    Anonyme katalanische Pilgerlieder und Tänze aus dem 14. Jahrhundert
    La Capella de Ministrers
    Fidel und Leitung: Carles Magraner
    Aufnahme vom 7.9.2019 aus der Kirche San Giorgio in Morbio Inferiore (Schweiz)