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Mobile Röntgenstationen

Litauen ist ein Land, wo man Basketball spielt und Gedichte schreibt. Jeder zweite Litauer ist ein Dichter. Ja, es schreiben wirklich sehr viele, aber wirklich gute Dichter haben wir nicht so viel.

Michael Bauer | 16.10.2002
    Es ist lange her, daß Thomas Mann ins litauische Nidden zur Sommerfrische fuhr und ihn der Sand der Nehrung von Joseph in Ägypten träumen ließ. Politisch mag Litauen in den letzten Jahren näher gerückt sein, literarisch liegt es jedoch noch immer in weiter Ferne.

    Anders bei Jurgis Kunèinas, der in seinem neuen Roman "Mobile Röntgenstationen" menschliche Tragödien skizziert, ihnen aber stets einen komischen Aspekt abgewinnt, der die Ironie so manchen Schicksals wild ausmalt und das Groteske liebt.

    Obwohl aus seinen "Mobilen Röntgenstationen" viel Alkohol und Sperma tropft, will Jurgis Kunèinas nicht als ein litauischer Vetter von Charles Bukowskis gelesen werden. Cervantes, "Don Quijote", dort wurzele sein Erzählen.

    Warum dennoch manches an Bukowski erinnert, liegt wohl daran, daß Jurgis Kunèinas jahrelang arbeitslos war. Immer wieder nahm er kurzzeitig irgendwelche Jobs an, unter anderem auch als Hilfspfleger in der Psychiatrie. Kunèinas interessiert das Anormale. Nicht die Patienten, die Psychiater sind verrückt. Ihr System ist der Wahnsinn, nicht die Phantasien der ihnen Ausgelieferten. Seine Sympathie gehört den Verlierern, den Randfiguren einer Gesellschaft.

    Jurgis Kunèinas’ Schreiben ist tief verwurzelt im Ernst der litauischen Literatur. Ironie und Groteske dienen ihm dazu, dies zu verbergen. Weil er den Wehrkundeunterricht verweigerte, mußte Kunèinas sein Germanistikstudium abbrechen. Dann holte ihn die Rote Armee. Und da er kein Held ist und nie einer sein wollte, zog er die Kaserne dem Gefängnis vor. Dies alles erzählt der Pazifist in seinem Roman "Mobile Röntgenstationen".

    Kein erbauliches Buch und trotz aller autobiografischen Bezüge aus Kunèinas’ Jugend auch kein moderner litauischer Entwicklungsroman. Hinter dem Etikett "Roman" verbirgt sich ein langer mal nachdenklicher, mal poetischer und mal obszöner Monolog. Eine Finte, wenn uns der Ich-Erzähler von seinem Plan berichtet, er wolle das Drehbuch für einen Film über Wilhelm Conrad Röntgen schreiben. Nein, "Mobile Röntgenstationen" ist ein amourös-morbider Reigen – Liebesgeschichte, Krankengeschichte, Nekrolog.

    Röntgenbusse fuhren durch Litauen, Reihenuntersuchungen, doch geht es in "Mobile Röntgenstationen" nur am Rande um Röntgen. Zwar werden Menschen durchleuchtet, doch sucht Kunèinas nicht nach TBC, er diagnostiziert die Schwindsucht eines politischen Systems - wie es die Menschen zerstört und ihre Beziehungen untereinander krank macht. Ein antikommunistischer Politthriller also, mit Sex und Saufen? Im Gegenteil: Jurgis Kunèinas zeigt Verletzungen, zeigt Wunden, auch seine Wunden.

    Anhand von Einzelschicksalen erzählt Kunèinas vom Untergang des Sowjetsystems in Litauen und vom Aufstieg des Kapitalismus, dessen "Freiheiten" die alten Wunden nicht heilen und neue zufügen. Jene Menschen, die den Schriftsteller interessieren, haben nichts zu verlieren und wenig zu erwarten. Freiheit finden Jurgis Kunèinas und sein Ich-Erzähler aus "Mobile Röntgenstationen" in der Literatur, im Schreiben:

    Schreibend "das Unterbewußtsein anzapfen" - "Mobile Röntgenstationen" ist ein anarchisches Buch - wilde Assoziationen, kluge Monologe und schöne Sprachbilder. Ein wenig kränkelt es allerdings an seiner deutschen Übersetzung. Doch gute Übersetzungen kosten Geld und wie viele Exemplare des Romans wird der kleine Athena Verlag in Oberhausen schon verkaufen? Vielleicht bringt die Buchmesse Kunèinas’ "Mobile Röntgenstationen" zum Leser… Was jedenfalls den desolaten Literaturbetrieb betrifft, sind sich die Bundesrepublik und Litauen schon näher gekommen.