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Moderne Hexenjagd

Die Schriftstellerin Juli Zeh besitzt ein gutes Gespür für gesellschaftlich relevante, politisch brisante Themen. Genau das zeigt sich auch jetzt wieder bei "Corpus Delicti", ihrem ersten Theaterstück, das sie im Auftrag der RuhrTriennale geschrieben hat. Das Stück über eine moderne Hexe, die von einem System zur Strecke gebracht wird, hatte nun in Essen Premiere.

Von Karin Fischer | 16.09.2007
    Ein Gerichtsverfahren im Jahr 2057. Mia Holl, 30-jährige erfolgreiche Biologin, wird zum "Einfrieren auf unbestimmte Zeit" verurteilt. Das Einfrieren ist die zeitgemäße Form von Strafe, mit dem sich das System - hier ESSENZ genannt -, seine "Vernünftigkeit" demonstriert: Falls eine künftige Gesellschaft das Urteil revidieren sollte, könnte Mia wieder aufgetaut werden. Andererseits ist das System von einem Rigorismus gekennzeichnet, den man ungesund nennen müsste, wenn das in diesem Fall nicht reichlich absurd wäre. Es herrscht nämlich eine Gesundheitsdiktatur: Gesellschaft wird als "kollektiver Körper" definiert, dessen oberstes und mit allen Mitteln des Überwachungsstaates durchgesetztes Ziel die körperliche Gesundheit seiner Mitglieder ist. Mia gerät ins Visier der Gerichtsbehörde, weil sie die geforderten Schlaf- und Ernährungsberichte nicht eingereicht hat oder Urintest und Blutdruckmessung vernachlässigt. Außerdem verzeichnet ihr elektronischer Steckbrief einen Einbruch im sportlichen Profil. Das System kennt Mia bis in ihre Eingeweide: Wenn sie kotzt, tut sie das deshalb in eine Schüssel, die sie nachts in den Gulli schüttet, damit man sie nicht identifizieren kann. Und Mia hat einen Grund, weshalb es ihr schlecht geht. Ihr Bruder wurde wegen Vergewaltigung und Mord verurteilt, obwohl er unschuldig ist; er hat sich umgebracht. Wie kann das sein in einem perfekten System, für das DNA-Analysen die unhinterfragbare Grundlage jeder Rechtsprechung bilden? Juli Zeh entwirft diesen Krimi, dessen Setting verstörend in die Zeit passt, um ebenso grundsätzliche wie aktuelle Fragen durchzuspielen: Wie weit darf der Staat individuelle Freiheitsrechte zugunsten der eigenen Sicherheit einschränken? Wem nützt das Recht, und wann versklavt es die Menschen? Denn Mia wird zur Terroristin erklärt und damit (fast) eine Märtyrerin der Widerstandsgruppe R.A.K., "Recht auf Krankheit", weil sie sich einfach eine Weile um sich selber kümmern wollte.

    Juli Zeh ist nicht nur Juristin, sondern auch Raucherin und musste nicht lange nach Alltagsphänomenen suchen, die sich zu einem Zwangssystem umdichten ließen. Mit ihrem dezidiert politischen Stück will sie aber mehr:

    " Wenn man in der Vergangenheit schaut, wie sich Unrechtssysteme entwickelt haben, dann denkt man immer, das war sehr früh erkennbar, na klar, warum haben die Leute das nicht gemerkt. Aber in der Gegenwart ist man blind, weil einem die Vogelperspektive fehlt. Deshalb versucht das Stück, diese Überhöhung vorzunehmen wie um einen vorgezogenen Rückblick auf die heutige Zeit zu simulieren."

    In den hohen backsteinernen Saal des ehemaligen Maschinenhauses der Zeche Carl in Essen sind an allen vier Seiten um ein kleines Bühnenquadrat lichtgraue Sitzreihen gebaut. Auf drei der vier Seiten nehmen die Zuschauer Platz - wie in einem Gerichtssaal oder medizinischen Hörsaal oder in einem Parlament. Neben Moritz und Mia spielen eine sympathische Richterin, ein überangepasster Journalist, ein Staatsanwalt und ein Verteidiger. Der Verteidiger hat wie Mia einen Makel, er liebt eine Frau mit dem falschen Immunsystem, was verboten ist. Die ESSENZ wird als fundamentalistische Ersatzreligion deutlich, die der Liebe, den echten Empfindungen, dem Menschen selbst den Garaus gemacht hat. Da wird selbst die rationalistische Naturwissenschaftlerin zur unfreiwilligen Revolutionärin:

    " Ich entziehe einer Essenz das Vertrauen, der lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat."

    Dem Stück ist noch anzumerken, dass es im Original fast doppelt so lang und ein Prosatext war. Harter Stoff ist das für die Schauspieler, die bei der Premiere überdurchschnittlich oft hängen. Das Ideen-Drama ist mit Anne Ratte-Polle als Mia oder Norman Hacker als Staatsanwalt hervorragend besetzt, und Regisseurin Anja Gronau, die statt der schwangeren Friederike Heller inszeniert hat, schafft es, aus dem thesenlastigen Text viel schauspielerische Funken zu schlagen. Letzten Endes aber hätte man doch gern - ein Buch. Wegen der schönen Prosa von Juli Zeh und weil man dem Thema massenhafte Verbreitung wünscht. Juli Zeh ist mit "Corpus Delicti" der weibliche George Orwell der Gegenwart geworden.