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Mogelscheiben und stimmsinfonische Dichtungen

Hörbücher für junge Zuhörer von Eduard Bass, Heike Makatsch, Werner Holzwarth, Ben Becker, Christine Nöstlinger, Hanna Johansen und vielen mehr, dazu noch dreimal "Alice im Wunderland".

Von Florian Felix Weyh | 19.06.2010
    Heute groovt es gewaltig zu Beginn des Büchermarkts für junge Leser - nein Hörer! -, denn es gibt allen Anlass für eine gute Portion Spannung: Stehen wir nicht mitten in einer Fußball-Weltmeisterschaft? Und schenkt uns der Fußball nicht ein nachgerade staatsmännisches Vokabular, um die Welt zu begreifen?

    "Es ist Englands ruhmreiche Tradition, dass es sich immer gehütet hat, abseits zu stehen. Getreu diesem ehrenvollen Vermächtnis unserer Vorfahren geloben wir auch heute, dass wir niemals abseits stehen werden! Dass wir unsere Farben männlich und redlich verteidigen und alle Gefahren ins Aus oder wenigstens zur Ecke abwehren werden. Wir versprechen, dass wir nicht foulspielen und unsere Nation der Gefahr eines kriegerischen Elfmeters nicht aussetzen wollen. Wir wollen immer dafür sorgen, dass unter allen Einwohnern ein harmonisches Zusammenspiel herrscht und geben dem Kurzpassspiel den Vorzug vor dem abenteuerlichen System eines Systems eines Kick-and-rush!"

    Wir vernehmen die Antrittsrede des britischen Thronfolgers, eines fanatischen Fußballfreunds und ausgebildeten Mittelstürmers, der zum staatspolitischen Zwecke der Charakterbildung die harte Schule des alten Klapperzahn absolvierte. Und der ist ein scharfer Hund, was seine Jungs angeht:


    "Er lehrte sie, wie man den Ball aus der Luft nimmt, ihn stoppt, vorlegt und abfälscht. Er zeigte ihnen das Schießen aus dem Stand und aus dem Lauf, vom Boden und nach einem Anspiel, das Flanken, den Hackentrick, das Dribbeln und den Kopfball, Elfmeter, Eckball, Einwurf, die Annahme per Fuß, das Stoppen mit der Brust. Sie lernten eine Dreieckkombination mit Innensturm, Flügel und Läufer, das Zuspiel zum Flügel, Durchbrüche zu unternehmen oder zu unterbrechen."

    "Klapperzahns Wunderelf" des tschechischen Autors Eduard Bass, knorrig-grummelnd vorgetragen von Henning Venske, ist ein Kinderbuchklassiker aus dem Jahr 1922, der allerdings nur in Zeiten allgemeiner Fußballeuphorie ausgegraben wird. Dann staunt man freilich nicht schlecht, wie zeitgenössisch die Geschichte um einen proletarischen Vater und seine elf Söhne - plus zeitweilig der englische Thronfolger - in den sportlichen Passagen wirkt. Bizarr dagegen erscheint der Blick des Autors auf die Medien, aber das liegt an der historischen Distanz, mit der wir das Geschehen verfolgen. Hochmoderne Technik von anno 22 wirkt auf uns kurios. Bei einem Spiel in England sitzt der Reporter auf dem Stadiondach und benutzt - Radio ist noch nicht so recht verbreitet - eine seltsame Apparatur:

    "Da stand ein Stuhl mit einem Telefonistenhelm. Cormick nahm den Helm und setzte ihn sich auf den Kopf. Beide Hörer lagen auf seinen Ohren, und die Sprechmuschel war genau vor seinem Mund. Zwei einige Meter lange Leitungen führten zum Mast, und von dort aus lief der Telefondraht zu den entfernten Häusern. An seinem Ende, viele Kilometer weit weg, waren die Redaktionsräume von New Sporting Live. Dort saß an einem kleinen Tisch ein junger Mann, ebenfalls mit einem Helm auf dem Kopf und einer Schreibmaschine vor sich. Ein paar Männer fläzten sich in Clubsesseln. Alle warteten darauf, dass Cormick seinen Bericht telefonisch durchgab. Auf dem Tisch daneben waren kleine Glasscheiben vorbereitet, auf denen ein anderer Schreiber knapp den Verlauf des Kampfes aufzeichnete, damit die Nachrichten gleich auf eine künstlich verdunkelte Scheibe nach draußen übertragen werden konnten. Hunderte Leute warteten schon vor der Redaktion auf die erste Nachricht."

    Die Tricks der Klapperzähne, mit denen sie es bis zur Weltmeisterschaft bringen, sollen hier nicht verraten werden, aber manchmal müssen sie ganz schön gewitzt sein. Bösartige Machenschaften erwarten sie vor allem beim FC Barcelona, der offensichtlich schon 1922 eine internationale Größe darstellte. Den Katalanen schiebt Autor Bass den Schwarzen Peter zu. Sie planen, die aufrechten tschechischen Jungs krankenhausreif zu foulen. Doch der Barça-Präsident wiegelt mit einem schlagenden Argument ab:


    "Wenn wir sie alle umlegen, legen wir denen nicht ein Tor rein!" - "Warum denn nicht?" - "Wieso!" - "Oho!" - "Das werden wir sehen!", brüllte die Mannschaft durcheinander. "Weil wir dauernd im Abseits wären."

    Trotz einiger Längen: "Klapperzahns Wunderelf" gehört in jeden gut sortierten Fanhaushalt und wird dort den medialen Hype der WM überdauern. Apropos Medienhype: Es ist schon seltsam aus welchem Anlass die Hörbuchverlage ihre Programme einander angleichen. Dreimal kann man in diesem Sommer zu einem weltliterarischen Stoff auf CD greifen, bei dem doch gar kein Jubiläum vorliegt.



    Nur weil "Alice im Wunderland" spektakulär neu verfilmt wurde, hängt sich eine ganze Branche an die Lokomotive Hollywood ... und bringt dabei noch Fehlleistungen zustande. Während die private Produktion von Titania Medien den Stoff als opulenten und inhaltlich nicht zu beanstandenden Hörfilm neu aufbereitet, greift der Audio Verlag blind ins Archiv der Öffentlich-Rechtlichen. Keine Frage, was die Anstalten der ARD auf dem Kindersektor produzieren, gehört meist zur Oberklasse. Doch wenn man ein halbes Jahrhundert zurückgeht, muss man schon mit Kuriositäten rechnen:

    "Da sah sie plötzlich auf einem dreibeinigen Glastisch ein winziges Schlüsselchen aus Gold liegen. Da Alice wie alle weiblichen Wesen kein Augenmaß hatte, probierte sie das Schlüsselchen an sämtlichen Türen aus. Aber natürlich war es viel zu klein."

    Dass der selige Hans Söhnker als bräsiger Erzähler in dieser Südwestfunkproduktion des Jahres 1958 nicht gerade vor Energie sprüht, sei hingenommen ... aber wie kommt er dazu, dem weiblichen Geschlecht alles Augenmaß abzusprechen? Das steht weder im Originaltext bei Lewis Caroll, noch in einer deutschen Übersetzung. Es ist schlicht ein Artefakt der 50er-Jahre, das diese CD ziemlich indiskutabel macht. Wer gegen Bearbeitungswillkür solcher Art grundsätzlich allergisch ist, der greift auf die reine Lesung zurück. "Alice im Wunderland" gibt es auch ganz asketisch mit nur einer Stimme - der von David Nathan - bei Oetinger. Solide gemacht ... und so wenig spannend, wie dieser klassische Fantasietext nun einmal ist: Literatur aus dem 19. Jahrhundert mit dem Witz des 11. Jahrhunderts:


    "Dies ist nämlich die trockenste Geschichte, die ich kenne. Also absolute Ruhe bitte! Wilhelm der Eroberer, 1066 bis 87, Sohn Herzog Roberts von der Normandie, geboren 1027, gestorben in Rouen, 1087, soll 1051 vom kinderlosen König Eduard ..."


    Da hilft nur etwas Groove gegen das Müdewerden. Aber nun ist Bruder Jakob ganz sicher auf den Beinen! Heike Makatsch legt bei Diogenes eine CD mit, gelinde gesagt, ungewöhnlich arrangierten Kinderliedern vor.



    Das raue Timbre der Schauspielerin dürfte von mancher Mutter im Kinderzimmer melodisch überboten werden, aber unsere Kinder singen zu wenig! Wenn diese Vertonungen aus dem "Großen Liederbuch" von Diogenes die Lust herauskitzeln, es einmal selbst zu versuchen, dann haben sie trotz zu erwartender Irritationen bei älteren Zuhörern ihren Sinn. Empfehlung: Nicht unbedingt in Gegenwart von Oma und Opa hören!

    "Heißt du Schwein, denkt jeder, du bist ne Sau"

    Gleiche Bedenken gelten bei diesem Musical nicht, denn wo amerikanische Traditionsmärsche und Melodien aus "My fair Lady" verwurstet werden, um eine Wurstgeschichte zu erzählen, tolerieren auch Großeltern, dass es sich dabei um eine Kackwurstgeschichte handelt, um den Fäkalklassiker schlechthin: "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat". Das Original ist ein Bilderbuch - wie kriegt man es nur auf eine CD? Ganz einfach, indem man Werner Holzwarths Musicalfassung auf die Scheibe presst. Vor 12 Jahren war das schon einmal richtig erfolgreich, doch heute, in der Neuauflage, hört sich das Ganze ziemlich verstaubt an. Times are changing ... aber der Vorgang scheint symptomatisch dafür, wie die Hörbuchverlage versuchen, Seherlebnisse von Bilderbüchern mutwillig in Hörerlebnissen auf CD zu verwandeln. Die saure Zitrone des Tages erhält diesbezüglich ...

    Der Baumhaus Verlag.

    Womit wir bei unserem Kurzkritik-Block angekommen wären.

    "Die Mutter lächelte peinlich berührt. Der Direktor räusperte sich und entschied dann nach einer Weile beschämender Stille, der kleine Bruno möge dem Unterricht von nun an mit Mütze beiwohnen."

    22 Sekunden für ein paar Sätze, die normal gesprochen höchstens die Hälfte der Zeit in Anspruch nähmen. Im Fußball gäbe es dafür die Gelbe Karte wegen Verzögerung.

    "Bruno - Der Junge mit den grünen Haaren" ist ein selbst verfasstes Kurzkinderbuch des Schauspielers Ben Becker. In seiner eigenen Interpretation klingt der Text nun so, als habe Becker bei der Aufnahme seiner bekannten Bibel-CD kurz das Manuskript gewechselt und dabei vergessen, dass er sich damit auch in einem anderen Sujet befindet. Aber die gedehnte und bedeutungshuberische Vortragsweise mag auch profane Gründe haben: Die ganze CD dauert nur 24 Minuten, wovon fünf alleine auf Musik entfallen. Prädikat: Verpackungsgrößenmogelei - Stiftung Warentest, greifen Sie ein!

    "Gruselfurzwuselpups! Gruselfurzwuselpups!"

    schreit Joschi immer, wenn er wütend ist, und beschwört damit den Auftritt eines echten Gruselwusels herauf. Karl Menrad liest Christine Nöstlingers Zorn- und Spukgeschichte, wie man sie erwarten darf: mit leicht österreichischem Unterton, der das Gespenstische durch Heurigengemütlichkeit entschärft. Stimmen bestimmen eben die Atmosphäre, das gilt auch für die nächste Aufnahme:

    "Was sagen Sie? Sie sind es nicht gewohnt, dass man zu Ihnen Sie sagt? Das hab ich mir gedacht! Aber es gefällt mir nun einmal, Sie zu sagen."

    Schön, aber als Anrede in einem Kinderhörbuch ist das deplaziert - wie überhaupt der Katharina-Thalbach-Lesung von "Ich bin hier bloß die Katze" bei Oetinger ein Missverständnis zugrunde liegt. Denn Hanna Johansens Katzenmonolog ist ein mediokres Coffeetable-Book für Erwachsene, das unsere Welt im Katzenauge spiegelt, ohne dabei nennenswerten satirischen Gewinn einzufahren. Wo schon Erwachsene trotz der herausragenden Vorleserin nach wenigen Minuten gähnen, rufen Kinder lautstark nach ihren Favoriten.


    Paul Dessau im Vorspiel zu einem Arbeiteroratorium? Nein - die Musik zu einer neuen Räuber-Hotzenplotz-Edition. Das ist für ohrwurmgeschädigte Eltern, die die Schrammelmusik der alten Hotzenplotz-CDs auch nach Jahren nicht aus dem Kopf kriegen, eine wahre Labsal ... ob es ansonsten der erneuten Hörspielproduktion bedurft hätte, lässt sich kaum entscheiden: Geschichten und Umsetzung wirken wie unverändert. Nur: Die alten CDs kriegt man halt nicht mehr im Laden. Prädikat: schwer nachvollziehbarer Innovationsdrang.

    "Du hörst Geschichten aus dem Buch - das ist normal! Und zugleich spricht das Buch zu dir. Das ist ungewöhnlich! Das Buch sagt dir etwas über dich und andere, es kann dir das Leben und die Welt erklären."

    Das Buch ist die Bibel - und Rainer Oberthür ein verdienstvoller Mann. Mit seiner "Bibel für Kinder und alle im Haus" hat er 2004 einen sich nie anbiedernden Versuch unternommen, das Buch der Bücher jungen Lesern nahezubringen, ohne sich entschärfend an den Originaltexten zu vergreifen. Nun gibt es bei Kösel das Hörbuch dazu. Hildegard Meier liest Auszüge aus dem Alten und Neuen Testament - weit weniger pathetisch als Ben Becker sein Kinderbuch -; Rainer Oberthür erläutert Hintergründe und liefert Interpretationen. Für wache Ohren und wissbegierige Herzen.

    "Die Vertraulichkeit zwischen Wolf Larsen und mir nahm zu. Wenn man mit Vertraulichkeit Beziehungen zwischen Herrn und Diener oder besser noch zwischen König und Hofnarr bezeichnen kann. Ich war ihm nichts als ein Spielzeug, und er schätze mich nicht mehr als ein Kind das seine."

    Also doch, Ben Becker kann auch anders! Das beweist die Einspielung von Jack Londons "Seewolf" bei Lübbe Audio. Hier passen Stimme und Vortragsweise zum Sujet, und seien wir ehrlich: Beckers Bass lässt eher an See- als an Kuschelbären denken, und das raue Personal eines Robbenschoners nimmt man ihm eher ab als die Rolle des säuselnden Gute-Nacht-Onkels.

    Wir bleiben an Bord eines Schiffes. Zum Auslaufen fehlen nur noch ein paar fleißige Pfoten im Range unterhalb von Kapitän und Steuermann.

    "Komm in unsere Mannschaft, Kumpel! Smutje, Auskuck, Schiffsjunge - such dir deinen Lieblingsjob aus! Es ist alles zu vergeben. Keine Gitter mehr vor der Nase und ab geht's als Freibeuter nach Südamerika." - "Oder Australien", sagt Rita. "Karibik inklusive." Das Meerschwein nagt weiter an seiner Gurke. "Hast du Möhren in den Ohren?", grölt Ruth, dass ein Quadratmeter Boden bebt und die Regenwürmer sich vor Schreck verknoten. "Schrei doch nicht so!", hustet das Meerschwein. "Jetzt hab ich mich verschluckt! Gibt's dort Gurken? Gurken esse ich für mein Leben gern." - "Besteht das Leben nur aus Gurken?" - "Ja, wenn es Riesensalatgurken sind!"

    Rita und Ruth haben genug vom Haus- und Nutztierdasein, ihr Traum ist eine Kaperfahrt in der Karibik. Karibik ... ja warum eigentlich Karibik? Fragen wir eine welterfahrene Schildkröte:

    "Ich bin dort geboren, und ich sage euch: Ich habe in über 250 Jahren keinen besseren Ort kennengelernt!" - "Das ist eine gute Idee", erwidern Rita und Ruth wie aus einem Mund. "Da wollten wir sowieso zuerst hin!" - "Ihr wärt töricht, würdet ihr von dort jemals wieder fortgehen."

    Die unvergleichliche Mechthild Großmann - für Erwachsene: "Tatort Münster" - macht aus "Rita, das Raubschaf", dem unterhaltsamen Roadmovie von Revoluzzerschaf und anarchischem Meerschwein, eine stimmsinfonische Dichtung allererster Güte. Ihr mächtiges Organ kann hell und dunkel, rau und schmeichlerisch sein, in Dialekte verfallen und verleiht jedem Tier sein eigenes Gepräge. Das ist großartig und verhilft dem ohnehin schon starken, ironisch gewitzten Text von Martin Klein zu noch stärkerer Wirkung. Man möchte eigentlich, dass diese CD nie zu Ende geht, denn die vierbeinigen Piraten in Aktion sind ... nun, echte Helden eben! Jede Maus muss vor ihnen zittern:


    "Örgöbt öuch Zwörgö und röckt öurön Schatz röus! Heihou!" Dann stürmen zwei kleine graue Gestalten wie piepsende Raketen aus dem Bau. Sie stürzen genau auf Rita zu. Die kuckt grimmig und schlägt energisch die Vorderhufe gegeneinander. Klock! Klock! Die Flüchtlinge quieken vor Schreck auf und erstarren. "Du hömma, tut-tut-tut uns nichts!", stottert der eine Zwerg. "Hömma, wir sind nur zwei bettelarme Strandmäuse", jammert der andere. "Bettelarm? Von wegen!" Ruth taucht hinter den beiden auf. Mit den Vorderpfoten rollt sie einen Haufen orangefarbener Beeren vor sich her und im Maul schwenkt sie stolz ein Geldstück mit dem Aufdruck "10 Cent". Es glänzt wie Gold. "Issas n Schatz oder issas keiner?" - "Dat is unser Speisekammervorrat und unser Esstisch", piepst die eine Strandmaus empört. "Also ... na gut! Von den Beeren, da könnt ihr ein paar nehmen, wenn ihr unbedingt wollt", sagt die andere. "Aber den Tisch, hömma den Tisch brauchen wir komplett selbst, dass ihr's nur wisst!"



    Mit der Veränderung von unbefriedigenden Lebensbedingungen hat auch unsere letzte CD zu tun. Ihre Helden sind Kühe, also für gewöhnlich sich ausführlich dem Wiederkäuen hingebende, geistig genügsame Geschöpfe. Bis plötzlich einem davon die entscheidende Frage in den Sinn kommt:


    " (Kuh) "Was passiert, wenn ich ein Bein hochhebe?" (Erzähler) Naja, das ist keine wirklich großartige Idee, aber immerhin ein Anfang. Die große Kuh in der Mitte der Herde hebt also vorsichtig ein Bein und ... nichts passiert! Die Kuh steht auf drei Beinen, oben Himmel, unten Gras. Wie eh und je. (Kuh) "Aha! Soso!" "

    Die Kuh hat ein philosophisches Prinzip entdeckt, das dem Riesenhörspielspaß von Claudia Schreiber auch den Titel gibt: "Was? Wenn!" Sprich: die unerhörte Entdeckung der Freiheit durch Infragestellung aller Gegebenheiten ... auch der schier unantastbaren:


    " (Erzähler) Der Bauer kommt. Er will melken. Alle zehn Kühe sollen sich in eine Reihe aufstellen und nützlich sein. "Was wenn..." - "Was wenn wir heute keine Lust dazu haben?" - "Wir haben auch keine Milch! Wir haben geturnt. Da kommt keine Milch. Sondern Spaß!" - "Häh?" - "Wir sind nicht immer nützlich! Wir brauchen auch mal Quatsch!" - "Wir sind nicht harmlos, wir experimentieren, wir sind Wissenschaftlerinnen geworden!" - "Macke?!?" (Erzähler) Der Bauer spricht, wie man hört, nicht gerne in langen Sätzen. Er mag lieber einzelne Worte sagen. Sein Wort "Macke?" bedeutet zum Beispiel, dass er weder von Unsinn, noch von Wissenschaft etwas wissen will. "

    Wir aber genießen den Unsinn, der höhere Weisheit umhüllt; eine Mischung, für die Claudia Schreiber schon einige Meriten eingeheimst hat, etwa mit ihrem fulminanten Kinderhörspiel "Sultan und Kotzbrocken". Auch am aktuellen "Was? Wenn!"-Projekt entzückt einfach alles: Der hintergründige Witz des Textes, die vorzüglichen Sprechern wie Peter Fricke, Johanna Gastdorf, Laura Maire - und natürlich auch Mechthild Großmann als Kuh Nummer drei -, die hochwertige WDR-Produktion unter der Regie von Petra Feldhoff mit bis ins Detail ausgetüftelten Soundprofilen. Alles dient dieser Geschichte einer kollektiven Selbstfindung, die natürlich beim eigenen Namen beginnen muss. Wie heißt so ein Milchviehexemplar eigentlich? Schon klar: "Kuh aus der Mitte der Herde".


    " (Kuh) "Und ich bin die Kuh neben der Kuh neben der Kuh aus der Mitte der Herde." - "Ich bin die Kuh neben der Kuh neben der Kuh und so daneben weiter." (Marienkäfer) "Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: Kuhnebenderkuhnebenderkuh und so weiter, das sind doch keine Namen! So heißt heutzutage niemand mehr!" - (Kuh) "Wie heißt man denn heutzutage so?" (Marienkäfer) "Ich zum Beispiel heiße Auge Marie Käfer, weil ich nicht bloß ein Marienkäfer, sondern ein sogenannter Augenmarienkäfer bin!" "

    Angestiftet vom neunmalklugen Marienkäfer unternimmt die Herde einen Ausflug zur Straße, um sich von den Aufschriften der durchfahrenden Autos inspirieren zu lassen. "Kochkäse", "Fahrschule" und "Baustoff-Containerdienst" ... schöner kann man als Kuh kaum heißen! Immer skurrilere Blüten treibt die vierbeinige Coming-out-Komödie, die allerdings - Kühe sind servil - beim Auftritt des Bauern stets an Revoluzzerschwung verliert. Denn wenn der Herr über Leben und Tod "Suppe!" brüllt, ist Gefahr in Verzug.


    "Mist!" - "Mist!" - "Mist!" - "Mist!" - "Mist!" - "Mist!" - "Nie wieder!" - "Kein Was und kein Wenn!" - "Leise werden!" - "Brav bleiben!" - "Milch machen!"

    Bitte nicht ... wo sonst, wenn nicht im Kuhstall, sollte die Weltverbesserung denn beginnen? Und welches Medium wäre besser geeignet zur kraftvollen Anstiftung als das akustische? Hier nun gelang der Autorin ein ganz seltener Coup: Gewöhnlich liegt zuerst die gedruckte Form eines Textes vor, der dann eine szenische Adaption folgt. "Was? Wenn!", ein Originalhörspiel, hat es unter dem Titel "Oben Himmel unten Gras" zu einer Buchadaption bei Artemis& Winkler gebracht, wunderschön illustriert von Tabea Niederhauser. Wer das ganze Werk genießen will, braucht wohl beide Versionen, mit leichtem Vorsprung der CD. Dem Buch alleine fehlte nämlich etwas Entscheidendes: der fröhliche musikalische Schwung, der zum Schluss die Kühe mit dem Bauer versöhnt.


    " (Kuh) "Was, wenn beides geht?" - "Milch und Musik!" - "Oben Himmel, unten Gras, und in der Mitte Musik.""


    Bibliografie (in der Reihenfolge der Sendung)

    Eduard Bass: "Klapperzahns Wunderelf"
    Gelesen von Henning Venske
    3 CD, ca. 238 min, Audiolino

    Lewis Carroll: "Alice im Wunderland"
    Hörspielfassung von Marc Gruppe
    1 CD, ca. 70 min, Titania Medien (vertrieben durch Lübbe Audio)

    Lewis Carroll: "Alice im Wunderland"
    Hörspielfassung von Marcel Ophuls (SWF 1958)
    1 CD, ca. 52 min, Der Audio Verlag (DAV)

    Lewis Carroll: "Alice im Wunderland"
    Gelesen von David Nathan
    3 CD, ca. 181 min, Oetinger Audio

    Heike Makatsch: "Die schönsten Kinderlieder"
    1 CD, 38 min, Diogenes

    Werner Holzwarth: "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wie ihm auf den Kopf gemacht hat" (Musical)
    1 CD, 35 min, Sauerländer

    Ben Becker: "Bruno - Der Junge mit den grünen Haaren"
    Gesprochen von Ben Becker
    1 CD, 24 min, Baumhaus

    Christine Nöstlinger: "Die Sache mit dem Gruselwusel"
    Gelesen von Karl Menrad
    1 CD, 48 min, Jumbo Medien

    Hanna Johansen: "Ich bin hier bloß die Katze"
    Gesprochen von Katharina Thalbach
    2 CD, ca. 102 min, Oetinger Audio

    Otfried Preußler: "Die große Räuber-Hotzenplotz-Box"
    Hörspielfassung mit Michael Mendl, Dustin Semmelrogge u.a
    6 CD, ca. 330 min, Der Audio Verlag (DAV)

    Rainer Oberthür: "Die Bibel für Kinder und alle im Haus"
    Gesprochen vom Autor und Hildegard Meier
    4 CD, ca. 311 min, Kösel Verlag

    Jack London: "Der Seewolf"
    Gesprochen von Ben Becker
    3 CD, ca. 228 min, Lübbe Audio

    Martin Klein: "Rita das Raubschaf"
    Gesprochen von Mechthild Großmann
    1 CD, ca. 80 min, Sauerländer Audio

    Claudia Schreiber: "Was? Wenn!"
    Hörspiel mit Mechthild Großmann, Laura Maire, Peter Fricke u.a.
    1 CD, 47 min, Der Audio Verlag (DAV)

    Buchausgabe:

    Claudia Schreiber: "Oben Himmel unten Gras"
    Ein Kuhspiel in sechs Akten
    Mit Bildern von Tabea Niederhauser
    Artemis&Winkler, Mannheim 2010