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Moldau und die Krim-Krise
Die Angst der russischen Nachbarn

In der Republik Moldau verfolgen die Menschen besorgt die Geschehnisse auf der Krim. Auch hier gibt es Regionen, deren Bevölkerung sich gerne Russland anschließen würde. Die zunehmende Nähe des Landes zur EU ist Moskau ein Dorn im Auge. Verunsicherung macht sich breit.

Von Andrea Rehmsmeier | 10.03.2014
    Panzer auf den Straßen der Krim. Russisch-sprachige Militärs mit schusssicheren Westen. Russische Flaggen, die auf Straßen und Plätzen der Ukraine wehen. Diese Fernsehbilder flimmern von den Monitoren im Sendestudio von Kanal 1 des moldawischen Fernsehens. Konzentriert folgen die Studiotechniker den Ausführungen der blonden Moderatorin, die in russischer Sprache durch die Sendung führt. Dann ist die Aufzeichnung beendet, und die Sprecherin tritt aus dem grellen Licht der Kamerascheinwerfer heraus: Ljudmilla Vaselaki ist die Leiterin der russischsprachigen Nachrichtenredaktion.
    "Wir beziehen unsere Informationen von verschiedenen Nachrichtenagenturen und versuchen, möglichst neutral über die Ereignisse in der Ukraine zu berichten. Für die GUS-Staaten ist das ein sehr sensibles Thema. Wir müssen sehr, sehr umsichtig sein."
    Die Krim ist nah, hier in der moldawischen Hauptstadt Chisinau – per Luftlinie sind es gerade mal 600 Kilometer bis zu dem Krisenherd auf der ukrainischen Halbinsel. "Moldova 1" sendet ein Drittel seines Programms in russischer Sprache, denn ebenso wie die Ukraine ist die kleine Republik Moldau ein Vielvölkerstaat. Außer den rumänisch-sprachigen Moldauern leben hier Russen, Ukrainer, Gagausen Bulgaren und andere. Das Russische hat in Moldova seinen Status als Verkehrssprache nie verloren – und das macht jede politische Diskussion über das Gebaren der Großmacht Russland nebenan zu einer hoch emotionalen Angelegenheit. Die bange Frage, ob die Ukraine-Krise auf die Nachbarstaaten überspringen könnte, will sich die Journalistin Ljudmilla Vaselaki daher lieber gar nicht erst stellen.
    "Wir hoffen, dass es zu so einer Situation in Moldova nicht kommen wird. Wir veröffentlichen solche Überlegungen auch nicht. Wir wollen nicht einmal darüber nachdenken. Die Situation ist heikel, und wir hoffen sehr auf eine friedliche Lösung. Jetzt ist Diplomatie gefragt – keine Muskelspiele.
    Russlands Muskelspiele sorgen für Angst
    Dabei sorgen Russlands Muskelspiele auch in Moldova immer wieder für Schlagzeilen. Ende vergangenen Jahr hatte Moskau einen Importstopp für moldawische Weine erlassen - ein schmerzhafter Schlag für die kleine Volkswirtschaft. Bezeichnenderweise kam diese Anordnung genau zu dem Zeitpunkt, als die moldawische Regierung ihrerseits mit der EU über den Abschluss eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommens verhandelte. Ein unüberhörbarer Warnschuss, glaubt die Redakteurin Rodica Dimitru, die bei Moldova 1 im Ressort Außenpolitik arbeitet.
    "Wenn unsere Wirtschaftslage besser wäre, dann würde niemand mit starrem Blick nach Moskau schauen. Aber wir sind abhängig. Wir importieren aus Russland Gas und Strom, und wir exportieren Obst und Gemüse. Russland ist ein Nachbar, der seine Bedingungen diktiert. Ich persönlich halte jetzt jedes erdenkliche Szenario für möglich."
    Werden russische Panzer jetzt bald auch durch Chisinau rollen? Völlig abwegig ist dieses Schreckensszenario nicht. Denn auch die Republik Moldau hat ihre Pulverfässer: Gagausien und Transnistrien. Diese beiden Provinzen – pro-russisch und rebellisch - hatten sich in den frühen 90er Jahren eine weitgehende Unabhängigkeit von Chisinau erstritten. In Transnistrien kam es dabei zu einer blutigen Eskalation. Den bewaffneten Auseinandersetzungen des Jahres 1992 fielen damals über 1000 Menschen zum Opfer. Und Russland schickte seine Panzer – für eine Friedensmission, wie es damals hieß. Diese Truppen haben die abtrünnige Provinz allerdings bis heute nicht verlassen. Sollte Russland also tatsächlich eine Militäraktion in Moldova planen, dann, so glaubt die Journalistin Dimitru, werde diese von Transnistrien aus starten.
    "Hier haben wir Angst. Die Bewohner von Transnistrien mögen das anders sehen. Aber wir hatten so viele Probleme mit Russland in letzter Zeit - wie die Embargos auf Obst und auf Wein. Da würde es mich nicht wundern, wenn jetzt nach der Ukraine als nächstes Moldova dran ist."
    Die europäische Integration sorgt für Verstimmungen
    Im Presseraum des moldawischen Parlaments drängeln sich die Journalisten, die Live-Übertragung aus dem Sitzungssaal zeigt hitzige Debatten. Denn die Gefahr von Störmanövern aus Moskau hängt wie ein Damoklesschwert über Moldovas Integrations-Kurs mit der Europäischen Union - seit dem schicksalhaften EU-Gipfel in Vilnius im November vergangenen Jahres. Die Folge: Die pro-europäischen Massendemonstrationen, das Blutbad auf dem Kiewer Maidan-Platz, schließlich die gefährliche Eskalation auf der Krim. Doch bei aller Dramatik der Ukraine-Krise möge die Weltöffentlichkeit Moldova nicht vergessen, wünscht der Vorsitzende des Parlaments, Igor Corman.
    "Wir sehen einen Grund, dass die internationale Gemeinschaft, und in erster Linie die Europäische Union, mehr Aufmerksamkeit uns schenkt in dieser schwierigen Zeit. Weil es gibt Entwicklungen in der Region, und natürlich diese Entwicklungen können auch die Lage hier in Moldau beeinflussen. Und wir hoffen, dass diese Bemühungen der internationalen Gemeinschaft zur Stabilisierung kommen. Wir sind sehr interessiert, weil hier intern es ist stabil, aber natürlich besteht Gefahr und es gibt viele Herausforderungen. Und deshalb sind wir besorgt."
    Corman, bis vor einigen Jahren Botschafter der Republik Moldau in Berlin, ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Integration seines Landes in Europa. Wie viele Moldauer träumt auch er von einer vollwertigen EU-Mitgliedschaft. Das Assoziierungs- und das Freihandelsabkommen werde in diesem Jahr wie geplant unterzeichnet werden, bekräftigt er.
    Was würde die Republik Moldau gewinnen, wenn sie – gegen den Willen Russlands – die Wirtschaftsbeziehungen mit der Europäischen Union ausbaute? Was würde sie riskieren? Die Regierung Putin könnte nach inzwischen bekanntem Muster auf solch eine Annäherung mit Zuckerbrot und Peitsche reagieren, also einerseits mit Import-Embargos drohen, andererseits aber mit Rabatten beim Gaspreis locken. Moskaus Gegenangebot zum EU-Freihandelsabkommen trägt - wie vorher bei der Ukraine - den Namen "Zollunion": Ein enges Wirtschaftsbündnis also zwischen Russland, Weißrussland, Kasachstan und möglichen weiteren Staaten aus der Konkursmasse der ehemaligen Sowjetunion. Die pro-europäischen Fraktionen im moldawischen Parlament sehen mit Skepsis auf diese Variante – so wie die Abgeordnete Ana Gutu, die Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Außenpolitik und EU-Integration:
    "Bis heute hat die Republik Moldau von Russland nichts bekommen, außer extrem teurem Gas. Obwohl wir ein Mitglied der GUS sind, haben wir immer die höchstmöglichen Gaspreise gezahlt."
    Bei seiner Energieversorgung sitzt Moldova zwischen zwei Stühlen. Im Mai 2010 war die Republik der "Europäischen Energiegemeinschaft" beigetreten - und diese fordert die Liberalisierung des Strommarktes und die Diversifizierung von Stromnetzen, Energieträgern und Anbietern. Für Moldova aber würde das die Abkehr von ihrem bisherigen Hauptlieferanten, dem russischen Energieriesen Gazprom, bedeuten – ein heikles Unterfangen, denn Moldovas Gasschulden bei Russland sind erheblich. Umso attraktiver erscheint vielen jetzt Gazproms Gegenangebot: ein Drittel Preisnachlass auf russisches Gas – unter der Bedingung, dass Moldova den Vertrag mit der "Europäischen Energiegemeinschaft" kündigt. Für die Abgeordnete Ana Gutu ist das allerdings indiskutabel.
    Moldau zwischen zwei Stühlen
    "Hinter der EU steht ein System, und das ist unabhängig von der Tageslaune eines Staatschefs. Als EU-Mitglied – und ich hoffe sehr, das wir das irgendwann einmal sein werden – könnte man uns nicht mehr damit erpressen, dass man uns die Gaslieferungen stoppt. So, wie es Russland tut. Wir könnten unser Gas vielmehr von allen möglichen Anbietern beziehen. Und Erneuerbare Energie könnten wir selbst erzeugen – als Agrarland haben wir doch diese Möglichkeit. Viele unserer Schulen und Kindergärten tun das ja heute schon – über Projekte, die von der EU finanziert werden."
    Assoziierter Partner der Europäischen Union, oder vollwertiges Mitglied in Putins Zollunion? Ein kühler Kopf wäre nötig für das Abwägen der Chancen und Risiken – doch im Schatten der eskalierenden Ukraine-Krise liegen in Chisinau die Nerven blank. Dabei ist in Moldova während der vergangenen Monate immer wieder der Ruf laut geworden, diese Schicksalsfrage per Referendum klären zu lassen. Doch was dabei herauskäme, das steht in den Sternen: Meinungsumfragen zufolge haben beide Varianten ihre Anhänger. Grigorij Petrenko, Abgeordneter der Kommunistischen Partei, kämpft dennoch für eine Volksbefragung. Mit einem Drittel der Sitze bildet seine Fraktion eine mächtige pro-russische Opposition in dem mehrheitlich pro-europäischen moldawischen Parlament.
    "Wir glauben, dass man für solche Entscheidungen ein Mandat des Volkes braucht. Stattdessen wird der Assoziierungsvertrag den Leuten aufgedrängt – gegen den Willen der Mehrheit, genau wie in der Ukraine. Dabei beinhaltet er ja noch nicht einmal eine Perspektive für den EU-Beitritt. Aber die Auflagen der EU, die müssen wir trotzdem erfüllen. Faktisch geben wir damit einen Teil unserer Souveränität an Brüssel ab."
    Gagausien, die winzige autonome Provinz, 100 Kilometer südlich der Hauptstadt Chisinau, hat das Experiment Referendum dennoch gewagt – gegen den Willen der moldawischen Regierung. Vor einigen Wochen stellte deren Führung ihren Einwohnern zwei Fragen: Sollte sich die Republik Moldau der Europäischen Union oder lieber der Zollunion mit Russland anschließen? Und: Sollte sich Gagausien für selbstständig erklären, falls die Republik Moldau im Rahmen des Europäischen Integrationsprozesses ihre Souveränität verliert? Das Ergebnis fiel sagenhaft eindeutig aus: 98,5 Prozent pro Russland. Die Staatsführung Moldovas reagierte brüsk: Sie nannte das Referendum verfassungswidrig.
    Parallelen zur Ukraine als mögliche Krisenherde
    Eine holprige Landstraße führt an menschenleeren Wiesen entlang, an ärmlichen Siedlungen und winterlich grauen Weinfeldern. Ein paar Bauern waten mit Gummistiefeln und Arbeitskleidung durch den Frühjahrs-Schlamm, hier und da überholt das Auto einen Pferdekarren. Gehört solch ein Agrarland wie Moldova überhaupt in die Europäische Union? Oder doch eher in eine von Russland dominierte Wirtschaftsunion? Oleg, der Fahrer, kann solche Fragen schon nicht mehr hören.
    "Alle sind das schon leid. Immer ändert sich alles, es gibt keine Stabilität weit und breit. Und niemand weiß, wo die Reise hingeht – ob nach Europa oder nach Russland - wir glauben schon an gar nichts mehr. Die einen wollen auf die eine Seite, die anderen auf die andere. Und am Ende geht sowieso alles wie Parlament und Staat bestimmen."
    Die Krise in der Ukraine aber macht sogar dem abgebrühten Oleg Angst.
    "Über die Situation in der Ukraine sind alle sehr besorgt – sehr sogar. Weil wir doch mit Transnistrien eine ganz ähnliche Situation haben - und das macht natürlich Angst. Davor, dass hier dasselbe passiert wie auf der Krim. Die russische Armee, die in Transnistrien stationiert ist, könnte einen größeren Teil Moldovas fordern. Und deshalb haben die Leute Angst vor einem Krieg. Umso mehr, weil wir selbst doch keine anständige Armee haben, und es gibt niemanden, der uns beschützt. Wir sind abhängig von Europa und Russland. Wir selbst können gar nichts entscheiden."
    Gagausien ist ein besonderer Landstrich: Das Gebiet hat eine eigene Regierung und wird weitgehend autonom verwaltet. Gerade mal 160 000 Menschen leben hier, die meisten gehören dem Turkvolk der Gagausen an – sie sprechen eine alte Turk-Sprache, dennoch sind die meisten von ihnen russisch-orthodoxe Christen. Auf dem zentralen Platz des Verwaltungszentrums Comrat steht eine überlebensgroße Lenin-Statue. Auch hier sind die Menschen über die Ereignisse in der Ukraine besorgt.
    "Eine schlimme Sache, die Ereignisse auf der Krim, schrecklich. Wenn die Krim zu Russland gehören würde, dann wäre alles besser. Russland ist mir sympathischer – irgendwie."
    Ihr Sohn, erzählt die gebürtige Gagausin, verdient sein Geld als Gastarbeiter in Russland – wie so viele in dieser Gegend. Bei dem Referendum im Februar hat sie sich für eine Zollunion mit Russland ausgesprochen – das würde künftig nicht nur die Grenzbürokratie erheblich erleichtern.
    In Gagausien, soviel steht fest, hat die Europäische Union nur wenige Fürsprecher. Und doch: Eine Zustimmungsrate von 98,5 Prozent für die Zollunion mit Russland erinnert verdächtig an längst verflossene Sowjetzeiten. Hatte Moskau nicht doch seine Finger im Spiel bei einem derart sagenhaften Wahlausgang? Die Antwort auf diese Frage kennt Mihail Formuzal. Er ist in Gagausien das Oberhaupt, "Baschkan" nennen seine Landsleute diese Funktion. Und er beteuert: Das Referendum war ein Vorbild an Basisdemokratie.
    "Nennen Sie das Ergebnis ruhig sozialistisch! Ich kann Ihnen nur sagen: Niemals in den vergangenen 20 Jahren sind so viele Leute zu einer Wahl gegangen. 70 Prozent sind zum Referendum gegangen – freiwillig! Bei Frost und Kälte! Alte Frauen und alte Männer – alle. Weil wir Angst haben. Wir fürchten, dass sich die Republik Moldau, wenn sie in die EU eintreten will, an Rumänien anschließen muss. In der moldawischen Regierung gibt es eine Elite, die danach strebt, Moldawien als Staat zu vernichten."
    Tatsächlich gibt es in Moldova einflussreiche politische Kräfte, die die Vereinigung mit Rumänien als den kürzesten Weg in die EU sehen. Unter rumänischer Regierung aber sieht der Baschkan die ethnische Minderheit der Gagausen von den gleichen pro-europäischen Schlägertrupps der Neonazis bedroht, die angeblich schon die Revolution auf dem ukrainischen Maidan zur blutigen Eskalation getrieben haben. Damit folgt er der Logik, die das russische Staatsfernsehen vorgibt. Dabei ist Michail Formuzal alles andere als ein Anti-Europäer. Im Gespräch entpuppt er sich als belesener und weit gereister Mann, der seinen Sohn zum Studieren nach Deutschland geschickt hat. Dort aber sei ihm auch klar geworden, wie es eigentlich um Moldovas Chancen für einen EU-Beitritt steht.
    Angst vor dem Verlust der Unabhängigkeit
    "In den Supermarktregalen in Deutschland habe ich Wein für anderthalb Euro entdeckt! Unser Wein kostet zwei Euro - aber das ist der Ladenpreis in Moldawien. Dazu muss man jetzt die Kosten für Logistik, Marketing und Verkauf in Europa rechnen. Wir sind nicht konkurrenzfähig!In Russland aber sind unsere Weine bekannt und beliebt. Wir könnten die Russen also noch eine Weile beliefern, und in dieser Zeit unsere Weinkeltereien modernisieren. Aber es steht uns ein langer Weg bevor. Wer jetzt sagt: 'Heute unterschreiben wir das Assoziierungsabkommen mit der EU, und schon morgen werden wir gut leben!' – der betrügt das Volk.
    Und welche Gedanken kommen dem Baschkan von Gagausien, wenn er jetzt in den Fernsehnachrichten russisch-sprachige Uniformierte mit Kalaschnikov-Sturmgewehren und schusssicheren Westen auf den Straßen der Krim patrouillieren sieht?
    "Ich will das nicht kommentieren. Die Quellen sind zu widersprüchlich. Aber ich kann sagen, was die Bürger von Gagausien wollen. Sie sagen: 'Unsere Zukunft liegt in der Republik Moldau. Wir wollen nicht weg.' Gagausien ist nicht die Krim. Wie lieben unser Land, hier sehen wir unsere Zukunft, und hier wollen wir leben. Die Republik Moldau hat es nicht nötig, sich an jemanden anzugliedern – nicht an Russland und nicht an Brüssel. Die Republik Moldau sollte ihren eigenen Wohlfahrtsstaat aufbauen – mit Menschenrechten und Pressefreiheit. Als ein demokratischer Staat auf europäischem Niveau!"