Dienstag, 19. März 2024

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Molière, revisited?

Eine Woche ganz aufs Lügen verzichten würde jeden in Schwierigkeiten bringen. Ohne Notlügen, ohne barmherzigen Freundlichkeiten oder ziviles Schweigen hier und da. Alceste will aber so leben: ohne Heuchelei. Deshalb heißt er auch "Der Menschenfeind" in Molières traurigster Komödie. Unter den vielen Aufführungen dieses Stückes sieht die von Karin Henkel am Kölner Schauspielhaus nicht schlecht aus.

Moderation: Karin Fischer | 26.01.2008
    In dieser Inszenierung wird ziemlich auf die Tube gedrückt. Der Stuttgarter Star Felix Goeser, der in Karin Henkels "Platonow" brillierte, spielt die Hauptrolle auch in dieser Koproduktion. Er ist kein weltabgewandter melancholischer Moralist, sondern ein zornig Aufbegehrender, dessen egomane Züge offen zutage treten. Von vornherein aggressiv zugespitzt, schreit Alceste mit großer moralischer Geste einer maskenhaften, gefühlskorrumpierten Gesellschaft sein Leiden ins Gesicht.

    Sein Problem: Die verwitwete Célimène, seine Angebetete, hat derlei Skrupel nicht; Julia Wieninger sieht in silbernem rückenfreien Kleid von vornherein aus wie ein halb ausgepacktes Geschenk auf dem Silbertablett. Die Männer um sie herum wollen sie zwar haben, aber das genau nicht wahrhaben. Alle Rollen sind schön zeitgenössisch umgedichtet, die Bühne, ein braun ausgeschlagener breiter Kasten, der kippen kann, kippt just, als alle zum ersten Mal betrunken sind; und Michael Wittenborn darf in gleich drei kurzen Rollen komödiantisch aufdrehen.

    Mal wieder kapiert kein Mensch, worum es in dem Prozess eigentlich geht, der gegen Alceste angestrengt wurde, was aber überhaupt nichts macht, denn diese Inszenierung will die Problematik im "Menschenfeind" weniger inhaltlich als an und mit Sprache durchspielen. Deshalb bringen Alcestes Interventionen die Unterhaltung der Partygesellschaft mehrfach ins Stocken wie eine hängende Schallplatte. Célimène, die mehr von gesellschaftlichen Lügen weiß, als sie sagt, muss sich seinen verbalen Angriffen durch schnelle Schritte von Wand zu Wand entziehen. Überspanntheit und Überdruck ist das Prinzip der ganzen Inszenierung: Die eklige Selbstanpreisung von Alcestes Nebenbuhlern korrespondiert mit den Geschmacksverirrungen ihrer Kostümierung. Anja Lais als Arsinoé kompensiert ihre Niederlagen auf dem Feld des Fleisches durch eine kleine Überbetonung der Endungen. Auch ein Distinktionsgewinn, wenn man so will.

    Alceste findet sich nach dem entdeckten Betrug Célimènes als Reim-Dadaist wieder. Und nur die kindliche Eliante, Angelika Richter spielt sie großäugig und verletzlich in einem scheußlichen Tutu, darf als einzige einfach und ehrlich sprechen. Sie hält der allgemeinen moralischen und sprachlichen Auflösung eine einfache Regel entgegen: "Der Reim muss bleiben".
    Wo der Reim keine Chance mehr hat, ist das "comme il faut" der besseren Gesellschaft über Bord gegangen. Doch der Reim ist es auch, der Gefühle zur gesellschaftlichen Konvention macht, eingehegt, gegängelt, meistens unwahr. Das Korsett der Sprache macht aus der Liebe eine Manier - einerseits. Andererseits ist gerade die militante Wahrhaftigkeit, die Alceste durch Sprache fordert, lächerlich; weshalb ihn keiner ernst nimmt, als er sich dann noch eine Pistole an den Kopf hält. So leistet die Aufführung Sprachkritik: Wer spricht, der lügt, oder: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Der Clou aber besteht in einem Rollentausch ganz am Schluss, mit dem die Regisseurin Karin Henkel und die Dramaturgin Rita Thiele, die auch die Spielfassung erstellt haben, die Absurditätsschraube noch einmal weiter drehen: Da will plötzlich die gefallene Célimène ganz weit weg abhauen, während Alceste als Wendehals und Partylöwe da steht. Nicht als doppelter Verlierer wie bei Molière, sondern als angepasster Schnösel. Eine zweifellos zeitgemäße, hübsche Idee.