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Momentaufnahme eines unbekannten Landes

In seinem Tagebuch zeichnete Christopher Isherwood 1949 die Stationen einer Reise durch Südamerika nach. Es entstand eine facettenreiche Momentaufnahme eines Kontinents, der damals tief im Schatten der Weltgeschichte stand. Jetzt ist sie ins Deutsche übersetzt worden.

Von Michael Schmitt | 25.06.2013
    Als die Erzählerin und Essayistin Joan Didion 1982 an einem Aufsatz über das revolutionäre El Salvador im mittel- und südamerikanischen Hinterhof der USA arbeitet, erinnert sie sich an einen Reisebericht von Christoph Isherwood aus dem Jahr 1949, in dem gleich zu Beginn das Erstaunen darüber formuliert wird, dass der nordamerikanische Reisende erst im unmittelbaren Angesicht Südamerikas begreife, dass dessen Städte und Landschaften immer schon da gewesen sind, an jedem Tag, an dem man gelebt hat, unabhängig davon, ob man etwas darüber gewusst hat oder nicht. "Kondor und Kühe" heißt dieses Buch, es beruht auf den Erfahrungen einer ungefähr halbjährigen Reise durch mehrere Länder und Regionen des Subkontinents zwischen September 1946 und März 1947 und liegt zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung von Matthias Müller vor. Erschienen ist es 1949 und gilt als eines der unbekanntesten Bücher des schillernden Verfassers der Roman-Vorlagen für das Erfolgsmusical "Cabaret".

    Christopher Isherwood hatte erst 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen, hatte aber schon seit 1939 in Hollywood als Schriftsteller und Drehbuchautor gearbeitet. Dem Milieu einer englischen Oberschichtfamilie, in die er 1904 hineingeboren worden war, hatte er sich Ende der Zwanziger entzogen, indem er für vier Jahre nach Berlin übersiedelte und dort zeitweise gemeinsam mit W. H. Auden und Stephen Spender unter Schwulen, unter jungen Nazis, in Kreuzberg oder am Nollendorf-Platz lebte. Er hatte später auch China zur Zeit der japanischen Invasion 1938 bereist und war dann in die USA übergesiedelt.

    Isherwood ist unkonventionell, kann sich aber auf gesellschaftlichem Parkett souvrän bewegen und zählt zu den "celebrities". Er lebt in wechselnden Beziehungen mit vielen Männern, und mit einigen von ihnen arbeitet er auch zusammen. "Kondor und Kühe" ist ein Beispiel dafür – auch wenn es kein Buch über das Privatleben von zwei Homosexuellen ist, sondern ein diskreter Reisebericht. Isherwood schreibt, der junge irischstämmige Fotograf William Caskey, mit dem Isherwood zwischen 1946 und 1953 liiert ist, macht die Bilder dazu, und nur wenige Sätze lassen erkennen, dass mehr als berufliches Interesse die beiden Reisenden verbindet.

    Eines aber teilen sie – und das wird für das entstehende Buch und später für seine Rezeption zu einem Problem: Beide sprechen kein Spanisch, sind also während des halben Jahres immer auf Vermittlerdienste anderer angewiesen – sehr oft auf Diplomaten in englischen oder amerikanischen Botschaften oder Kultureinrichtungen. Südamerikanische Kritiker haben Isherwood daher vorgehalten, er habe sich allzu leichtfertig informiert und sich auch zu herablassend über die südamerikanische Kultur, vor allem auch über die Literatur geäußert. Das trifft passagenweise sicher zu - aber es ist nicht die ganze Wahrheit über diesen aus heutiger Sicht zwar altmodischen und auch leicht nostalgisch anmutenden Bericht. Denn neben den abenteuerlichen Episoden finden sich immer auch informative, zu Teilen sehr analytische Skizzen der Zustände auf einem Kontinent, der damals noch mehr als heute im Schatten der Weltgeschichte existiert. Der aber mit Argentinien zu der Zeit eines der reichsten Länder der Erde aufweist und nicht nur wilde Urwälder, beeindruckende Gebirge oder die Spuren menschenverachtender Hochkulturen aus der Zeit vor der Eroberung durch die Europäer.

    "Kondor und Kühe" lebt von den gleichen Schreibstrategien, die Isherwood schon in anderen Büchern ausprobiert hat: von der Vermischung von Dokumentarischem und Fiktionalem, vom genauen Blick – "I'm a camera", lautet die Maxime, die in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert wird. Hinzu kommt aber auch eine oft nur unterschwellig spürbare ironische Distanz zum Gegenstand und zu sich selbst. Das beginnt schon auf dem Kreuzfahrtschiff, auf dem die beiden den Subkontinent erreichen, und setzt sich fort, wenn die Reise mühsamer, aber auch lehrreicher wird – auf holprigen Straßen, in Zügen, die sich steile Berge hinaufschleppen, oder in kleinen Flugzeugen, die zwischen den kaum zugänglichen, entlegenen Camps der Ölbohrer von Shell die einzige Verbindung herstellen. Alles, was überschwänglich als exotisch beschrieben werden könnte, wird durch Nüchternheit und Understatement gebrochen.

    Und je weiter die Reise führt, je detaillierter die Eindrücke werden, desto expliziter werden auch gesellschaftspolitische Interessen des Reisenden: Wenn die Stadt Medellin als Manchester Südamerikas beschrieben wird, wenn Argentinien unter dem populär-populistischen Juan Peron als Fluchtort für viele alte Nazis Thema wird und mehr noch als ein Land, das nur zu gerne die Vorherrschaft in Südamerika erringen würde, um den USA entgegentreten zu können. Isherwood macht kein Geheimnis daraus, dass er Lateinamerika beängstigend findet – weil es noch nicht zu sich selbst gefunden und das Erbe der Kolonialzeit noch nicht abgeschüttelt hat. Vielleicht hat gerade das seine südamerikanischen Kritiker empört.

    Er hat aber in diesem Reisetagebuch auch als einer der Ersten über Jorge Luis Borges geschrieben, hat Victoria Occampo besucht und die Vielzahl der Buchhandlungen in Bogota und deren erstaunlich reiches Sortiment an übersetzter Weltliteratur bewundert.

    "Wie war Südamerika?" ist als Frage kaum zu beantworten – 1947 so wenig wie heute. Isherwood selbst weist darauf hin und hat auch gar nicht den Anspruch, es dennoch zu versuchen. Wozu sollte man – vor allem im Rückblick – von einer halbjährigen Reise auch mehr verlangen als eine so facettenreiche Momentaufnahme?


    Christopher Isherwood: "Kondor und Kühe. Ein südamerikanisches Reisetagebuch. Mit Fotografien von William Caskey." Deutsch von Matthias Müller. Liebeskind, München 2013, 368 Seiten