Donnerstag, 28. März 2024

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Monika Maron: "Munin oder Chaos im Kopf"
Von friedlichen Nachbarn und Wutbürgern

Monika Maron hat immer wieder einen scharfen Blick für aktuelle Problemlagen bewiesen. Auch wenn sie von eher randständigen Figuren erzählt, suchen ihre Erzählwerke die Konfrontation mit dem Zeitgeist und der Politik. Auch ihr neuer Roman "Munin oder Chaos im Kopf" empfiehlt sich als deutsches Sittenbild des Jahres 2018.

Von Wolfgang Schneider | 13.03.2018
    Cover von Monika Marons Buch "Munin oder Chaos im Kopf"
    Die Krähe in Marons Roman: ein Sendbote aus dunkler Vergangenheit? (Hintergrund Lino Mirgeler / dpa / picture alliance; Cover S. Fischer-Verlag)
    "Auf dem Balkon des mickrigen Hauses aus den sechziger Jahren, schräg gegenüber meinem Haus und eingeklemmt zwischen zwei stattlichen, stuckverzierten Altbauten, stand sie wieder und sang, sofern man das Jaulen und Kreischen, in dem sich nur selten eine Melodie erkennen ließ, überhaupt Gesang nennen konnte."
    Musik, reimte schon Wilhelm Busch, werde oft "nicht schön gefunden", sei sie doch "mit Geräusch" verbunden. Davon können die Bewohner einer kleinen Westberliner Straße ein Lied singen. Sich selbst aber hält die Frau, die täglich stundenlang Arien schmettert und Koloraturen krächzt, offenbar für eine legitime Nachfolgerin der Maria Callas.
    Die Welt ist aus den Fugen, im neuen Roman von Monika Maron. In der Nachbarschaft liegen die Nerven blank, zumal kein Ende der Belästigung in Sicht ist. Der amtliche Betreuer der geistig verwirrten Frau verweist auf den besonderen Wohnungskündigungsschutz für "Behinderte". So werden aus friedlichen Nachbarn allmählich Wutbürger. Man beruft Versammlungen ein, um "Maßnahmen" zu beraten. Aber schnell zeigen sich Dissonanzen auch in der Betroffenengruppe. Die Bewohner der teuren Altbauten, die offenbar gut bezahlte Jobs "in den Medien" haben und tagsüber eh nicht zuhause sind, zeigen erstaunlich viel Empathie für die Sängerin. Einer dieser Bessermenschen kann es nicht lassen, die Wutbürger aus den Neubeuten psychologisch über ihre verborgenen Motive aufzuklären:
    "Aber ich entnehme Ihren Worten auch, sagte der Audi-Besitzer mit anschwellender Stimme, was ich hinter dem unverhältnismäßigen Aufruhr seit geraumer Zeit vermute. Ihre Wut über alles, was Sie nicht ändern können, richten viele der Anwohner auf Frau S. Wenigstens die soll verschwinden… Und das ist, entschuldigen sie das harte Worte, das ist schäbig."
    Deutschland im Jahr 2018 – Monika Marons Roman entwirft ein Sittenbild. Vom Sängerkrieg in der kleinen Berliner Straße geht er aus und kündet von der großen Gereiztheit in der heutigen Welt. Es ist, aufgepasst, ein Vorkriegsbuch.
    Wurststückchen und eine einbeinige Krähe
    Die Ich-Erzählerin Mina Wolf muss ihre Straße gar nicht verlassen, um derart ins Grundsätzliche zu gehen. Die Welt kommt zu ihr in die Wohnung. Zum einen in Gestalt einer Krähe, zum andern in Form einer Auftragsarbeit. Für eine westfälische Stadt soll sie einen Beitrag über den Dreißigjährigen Krieg verfassen. Zuerst tut sie sich schwer mit dem Thema, dann fängt sie Feuer und vertieft sich in historische Lektüren, an denen sie die Leser teilhaben lässt. Mina fällt auf, worüber auch der Politologe Herfried Münkler kürzlich in einiger Breite geschrieben hat: Es gibt beunruhigende Parallelen zwischen dem Deutschland des 16. Jahrhunderts, das von Söldnerarmeen, Warlords und religiösem Wahn verheert wurde, und der heutigen Welt: der Dreißigjährige Krieg, wieder einmal, als Katastrophenparadigma. Die vielen nach Deutschland migrierten jungen Männer aus Arabien und Afrika erscheinen Mina Wolf nun noch furchterregender: Kommen sie doch aus den heißen Zonen der Religions- und Bürgerkriege und, so die Befürchtung, schleppen ihre Konflikte und ihre Verrohung nun nach Europa ein.
    Die einbeinige Krähe, die Mina mit Wurststückchen erst auf den Balkon und dann zu sich ins Zimmer lockt, erweist sich vor diesem Hintergrund als Sendbote aus dunkler Vergangenheit: Es ist der Galgen- und Todesvogel, der sich seit je an den Leichen der Schlachtfelder sattgefressen hat. Munin nennt ihn die Erzählerin bedeutungsvoll, nach dem mythologischen Raben des Göttervaters und Kriegsgottes Odin. Raben und Krähen sind bekanntlich intelligente Vögel – und dieser schwingt sich im Roman sogar zu Minas Gesprächspartner auf, zumindest bildet sie sich das ein, wenn sie so vor sich hin grübelt über das kriegerische Wesen des Menschen und den Fanatismus der Religionen, die Gewaltexzesse von einst und den Terror von heute. Alles fügt sich in ihren Gedanken zu einem Albtraum. Wie es im Titel heißt: Chaos im Kopf…
    "die Kriege, die bedrohlichen Bilder in den Zeitungen und im Fernsehen, unser Straßenkampf, alles floss unter dem unbeirrbaren Rauschen des Regens zu einem endlosen Panorama zusammen, in dem ein Bild auf das andere folgte, manche miteinander verschmolzen, schwerterschwingende Männer liefern hinter Panzern her, feierndes Volk und mordende Kinder, sonnenbeschienene Felder, aus denen plötzlich Feuer loderte, rasendes Vieh und rasende Menschen, grölende Horden und Kirchenchöre, Kanonenkugeln, die über Stadtmauern flogen, wütende Männer, die johlend durch unsere Straße zogen, die Sängerin stumm auf ihrem Balkon und dann tot unter den Hufen eines Pferdes, und über alles fiel der ewiggleiche Regen."
    Lesefrüchte und Allerweltsreflexionen
    Marons neuer Roman ist also sehr zeitgemäß. Vielleicht etwas zu zeitgemäß. Denn der vor genau vierhundert Jahren begonnene Dreißigjährige Krieg ist zwar ein interessanter, aber literarisch nicht gerade origineller Bezug, angesichts seiner derzeitigen Dauerpräsenz in den Medien. Vor allem dann, wenn man sich erzählerisch nicht so viel Mühe gibt wie etwa Daniel Kehlmann mit seinem großen Roman "Tyll". Verglichen damit hat Maron zum Thema Dreißigjähriger Krieg kaum mehr zu bieten als ein paar Lesefrüchte und Allerweltsreflexionen.
    Dass ihre Erzählerin zur Krähen-Versteherin wird, reiht sich wiederum ein in den aktuellen Schreibtrend zum Naturkundlichen, freilich als eine eher bescheidene Variante von eindringlichen ornithologischen Romanen wie Helen MacDonalds "H wie Habicht". Dass der Vogel bei Maron über seine biologischen Grenzen hinausgeht und weltweise über die notorische Unfriedlichkeit und die Selbsttäuschungen der Menschheit zu dozieren vermag, macht die Sache nicht unbedingt besser. Sprechende Tiere wirken überzeugender im Kinderbuch.
    Vor allem aber ist "Munin oder Chaos im Kopf" ein Buch zwischen Literatur und Leitartikel. Maron gibt sich keine große Mühe, ihre Ich-Erzählerin von sich selbst abzurücken. Angeblich soll Mina Wolf eine Endvierzigerin sein. Sie wirkt aber deutlich älter und räsoniert eben so, wie Maron es tut, wenn sie sich in den Medien zu Wort meldet. Unter anderem gibt es im Roman fünf polemische Seiten über die in den Alltag der Menschen hineindrängende Geschlechtertheorie – Mina mosert über die "Genderscheiße" und den "Irrsinn genderspezifischer Sprachverhunzung". Egal, ob man als Leser solche recht pauschal daherkommenden Meinungen nun eher erfreulich oder eher ärgerlich findet, das literarische Problem liegt vor allem darin, dass es eben Meinungen sind, die zu wenig ins Erzählerische überführt werden, sondern so oder ähnlich in einem Interview oder einer Kolumne stehen könnten.
    Was dem Roman allerdings unterm Strich doch einige Souveränität verleiht und die Lektüre halbwegs reizvoll macht, ist die Klugheit und Leichthändigkeit, mit der die Themen und Motive miteinander verwoben werden. Der Nachbarschaftsstreit, der Dreißigjährige Krieg, die gefühlte oder wirkliche Bedrohung durch Migranten, das weise Gekrächz von Munin und das Krähengedicht der Annette von Droste-Hülshoff – das alles ist sehr beziehungsreich und hintergründig, auch wenn der erzählerische Vordergrund allzu dünn aufgetragen scheint. Erzählschwäche in Verbindung mit hoher Verknüpfungsintelligenz – damit erweist sich "Munin" als charakteristisches und doch auch charaktervolles Alterswerk.
    Monika Maron: "Munin oder Chaos im Kopf"
    S. Fischer Verlag, Berlin. 224 Seiten, 20 Euro