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Moniuszko-Monographie
Mehr als ein Nationalkomponist Polens

Der Komponist Stanisław Moniuszko wird oft als "Vater der polnischen Nationaloper" bezeichnet - allerdings ist er außerhalb seiner Heimat kaum bekannt. Der Musikwissenschaftler Rüdiger Ritter hat sich in seinem Buch "Tröster der Nation" mit dem Mythos Moniuszko auseinandergesetzt.

Von Johannes Jansen | 29.04.2019
    Stanislaw Moniuszko in einer Schwarz-weiß-Aufnahme
    Stanisław Moniuszko (1819 - 1872) komponierte vor allem Lieder und Opern (picture-alliance / akg-images)
    Musik: Stanisław Moniuszko, "Halka", Oper in 4 Akten, Ausschnitt IV. Akt (Vorspiel Arie des Jontek)
    Frédéric Chopin als Aushängeschild polnischer Musik im Ausland, Stanisław Moniuszko für zu Hause, als Komponist für Herz und Gemüt: Eine seltsame Zwiegespaltenheit der nationalen Erinnerungskultur in Polen beschreibt Rüdiger Ritter im Schlusskapitel seiner Moniuszko-Monografie. Als er sich selbst zum ersten Mal dem Thema näherte – um die Jahrtausendwende im Vorfeld einer fächerübergreifend angelegten Dissertation –, stand er vor Moniuszko als einem großen Unbekannten: ein Mythos, in Polen jedermann vertraut – und dennoch schwer zu greifen.
    "Man kann es vielleicht so sagen, dass Moniuszko auf eine Art Sockel als Nationalkomponist gestellt worden ist – und dann war er so ein bisschen entrückt. Heute ist er jemand, da führt man Schulklassen hin, so wie wir hier in der Schule 'Nathan der Weise' lesen lassen. Aber den richtigen Kontakt zur Alltagswelt hat das irgendwann nicht mehr."
    Zwei Opern von Moniuszko halten sich bis heute im Repertoire polnischer Opernhäuser
    Den ritualhaften Umgang mit dem kulturellen Erbe aufzubrechen, wurde in Polen lange versäumt. Auch den Bewunderern drohte Denkmalstarre. Damit hatte Ritter nicht gerechnet.
    "Das war damals natürlich ein ungewöhnliches Thema. Auch in Polen hat man das dann sehr interessant gefunden, dass da plötzlich ein Deutscher ankommt und sich mit Moniuszko beschäftigen will, weil das nun vorher überhaupt nicht der Fall gewesen ist. Es war auch musiktechnisch schwierig. Ich habe zunächst mal angefangen, mich einzulesen, und dann wollte ich irgendwann auch wissen: Was für eine Musik ist das eigentlich, über die ich da arbeiten will? Wie klingt das? Das wusste ich die ersten drei, vier Wochen noch gar nicht. Meine erste akustische Hörerfahrung mit Moniuszko ist tatsächlich das Schallarchiv von Radio Bremen. Dann fuhr ich für einen längeren Forschungsaufenthalt das erste Mal nach Polen und ging in ein großes Musikgeschäft und fand – nichts! Es gab eine einzige Ausgabe von 'Straszny dwor' auf vier Musikkassetten. Ich war erschüttert!"
    "Straszny dwor" (Das Gespensterschloss) ist neben "Halka" Moniuszkos zweite große Oper, die sich in Polen bis heute im Repertoire gehalten hat, trotz anfänglicher Versuche, sie zu unterdrücken. Auch als Leiter des Warschauer Teatr Wielki – der großen Oper, die Nationaloper nicht heißen durfte – hatte Moniuszko nicht die Macht, das Werk durchzusetzen. Obwohl heiter verpackt, klangen die patriotischen Untertöne und das Loblied altpolnischer Tugenden, die er darin eingeschmuggelt hatte, allzu aufwieglerisch in den Ohren der zaristischen Zensoren im damaligen Kongresspolen. Die Aufstände in Warschau, aber auch in Wilna beziehungsweise Vilnius, Moniuszkos heute litauischer Heimatstadt, lagen noch nicht lange zurück.
    "In dieser aufgeheizten Atmosphäre nach 1863, wo die Januaraufstände blutig niedergeschlagen worden sind – in diese Situation kommt so eine Oper, die alte polnische Werte glorifiziert. Und das ist natürlich ein Manifest. 'Der Tröster der Nation', der Titel des Buches, nimmt das auf. Man hat diese Oper in einer Formulierung, die Moniuszko selbst gebraucht hat, als Trösterin angesichts fortwährender Niederlagen aufgefasst. Und so sollte sie auch gehört werden. Das heißt, Moniuszko hat unter der verschärften polizeilichen Beobachtung des Theaters eine Oper aufgeführt, in der polnische Werte gegen die Teilungsmacht ganz prononciert dargestellt werden konnten."
    Politische Symbolik entging der Zensur
    Als vornehmste Bewahrerin dieser Werte – obenan die Liebe zu Gott und Vaterland – sah sich die sogenannte Szlachta, die Schicht des Kleinadels, der auch Moniuszko angehörte. Verkörpert sind sie im Bild der Mutter Polin, wie es der Nationaldichter Adam Mickiewicz gezeichnet hat. Als Polens geschundene Tochter wiederum ist "Halka" zu verstehen, das Geschöpf Moniuszkos und seines Librettisten Wolski. Das arme Bauernmädchen, verführt von einem unwürdigen Adelsspross, wurde zur Symbolfigur ohnmächtigen Aufbegehrens gegen die Fremdherrschaft und, solange diese dauerte, mehr als 500 Mal aufgeführt. Moniuszko hatte die politische Symbolik, die Standes- und Sozialkritik so geschickt dosiert beziehungsweise gegenüber der Wilnaer Erstfassung so weit zurückgenommen, dass sich weder die Zensur noch die aristokratische Elite herausgefordert sah. Die Botschaft kam dennoch an – nur, wer sie verstand, tat gut daran, sie für sich zu behalten.
    Aus Angst vor inneren wie äußeren Gefahren wurde "Halka" gewissermaßen in der Herzkammer der Musiknation verschlossen: "Wenn das ins Ausland kommt, was werden sie über uns sagen?", zitiert Rüdiger Ritter einen satirischen Kommentar aus dem Jahr der Warschauer Premiere, 1858. Auch damit hat zu tun, dass aus "Halka" trotz ihrer unbezweifelbaren musikalischen Schönheit und des mitreißend folkloristischen Kolorits kein Exportschlager geworden ist, obwohl sie selbst dem Ausland – Donizetti, auch Verdi – viel verdankt. Das stärkste Vorbild lieferte eine Revolutionsoper par excellence, 'Die Stumme von Portici' von Daniel-François-Esprit Auber – eine Tatsache, von der die polnische Musikforschung lange Zeit kaum Notiz genommen hat.
    "1830 haben die Aufständischen in Warschau als wichtiges Ziel gesehen, die Oper von Auber aufzuführen: als Symbol des revolutionären Willens, und Kurpiński als Moniuszkos Lehrer hat ihm das natürlich vermittelt. Das heißt, Moniuszko wusste haargenau, worum es da ging. Hier sind wir wieder an der Frage der Intensität der Sozialkritik. Bei Auber ist es ja so, das die Fischer tatsächlich zu den Waffen greifen und die Oper eine dramatische Wendung kriegt. Bei 'Halka' haben wir eben nur ein Bauernmädchen, das sich in den Fluss stürzt. Das ist tragisch genug. Aber die Idee, das so anzulegen – ich nenne es mal die revolutionäre Stoßrichtung –, ist im Kern, dass er Aubers 'Muette' als eine der Vorlagen nimmt."
    Sein Schaffen nur aus dem nationalen Kontext heraus verstehen zu wollen, hieße Moniuszko unter Wert zu handeln. Das ist, kurz gefasst, Ritters Fazit in seinem Buch, das Moniuszko, den "Tröster der Nation", wieder ins Blickfeld der internationalen Musik-Öffentlichkeit rücken soll. Auch Polens Startenor Piotr Beczała, der neue Bayreuther Lohengrin, setzt sich dafür ein, mit Erfolg. Am Theater an der Wien wird "Halka" mit ihm in der männlichen Hauptrolle des Jontek im Herbst Premiere haben, derweil auf dem CD-Markt eine in Polen auf Italienisch (!) eingesungene Neuproduktion unter Fabio Biondi für Aufhorchen sorgt. Den nachhaltigsten Beitrag zum Gedenkjahr leistet freilich Ritter, der in seinem Buch praktisch jeden Stein umdreht, um dem Moniuszko-Mythos auf den Grund zu kommen. – Nichts für Schnellleser, aber mit Schwung geschrieben, der die enorme Faktenfülle konsumierbar hält.
    Musik: Stanisław Moniuszko, "Halka", Oper in 4 Akten, Ausschnitt IV. Akt