Dienstag, 16. April 2024

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Mono

"Also, es sieht ganz einfach aus, aber es wird immer schwieriger. Ehrlich, wenn ich könnte, würde ich sofort gehen." Dieses Zitat von Antonio Lobo Antunes hat Jörg Matheis an den Anfang seines Buches gestellt. Damit ist der Grundkonflikt beschrieben, in dem sich fast alle Figuren des Bandes befinden: Wo sie gerade sind, da zieht es sie fort. Der Ortswechsel ist ein zentrales Motiv der Erzählungen.

Ilja Braun | 01.08.2003
    Zum einen ist das sozusagen eine geographische Metapher für Sich-Entwickeln, Seinen-Platz-im-Leben-finden, das lässt sich wunderbar in Seinen-Platz-Örtlich-Verändern übersetzen (...). Zum zweiten glaube ich selbst, dass es schon nötig ist, einfach mal das Geburtstal zu verlassen sozusagen (...) und einen anderen Blickwinkel zu gewinnen.

    Es ist nicht in erster Linie Abenteuerlust oder Fernweh, was die Figuren zum Aufbruch drängt. Es ist eher ein Gefühl von Enge, von Eindimensionalität des eigenen Lebens. Nicht zufällig heißt die Titelerzählung des Bandes schlicht "Mono". (14)

    Diese Metapher der Beschränkung, die war mir für den Titel entscheidend, denn alle Figuren in dieser Geschichte, aber vor allem auch in dem Buch, agieren aus der Empfindung einer Beschränkung ihrer persönlichen Lebenssituation heraus. (...) Um es mal mehr oder minder soziologisch zu sagen, sind in aller Regel die gesellschaftlichen Umstände, in denen diese Personen leben, so, dass sie aus ihren Gegebenheiten gerne ausbrechen möchten, sei das beruflich, sei das familiär, was auch immer.

    Ein 16jähriger, der als Kartenabreißer in einem Vorstadtkino jobbt, hadert mit sich selbst, ob er der Studentin, in die er sich verliebt hat, in die Universitätsstadt folgen soll. Ein nervlich zerrütteter Geschäftsmann stürzt sich alleine und völlig unvorbereitet in einen Griechenlandurlaub, wo er sich betrügen und ausrauben lässt. Und ein kleines Mädchen, das bei seinen Stiefeltern aufwächst, flüchtet sich in der Phantasie zu ihrem verstorbenen leiblichen Vater. Die Vielzahl unterschiedlicher Charaktere, denen der Autor seine Stimme leiht, verblüfft. Mal wird aus der Sicht einer jungen Frau berichtet, dann aus der eines alten Mannes, dann wieder ist es ein kleiner Junge, der dem Leser erzählt. Mit großer Einfühlungsgabe nimmt der Autor sich dieser Figuren an. Dicht und konzentriert ist die Darstellungsweise; insgesamt herrscht ein eher ruhiger Ton vor. (50)

    Nein, ich lege es nicht darauf an, lustig zu sein, ich lege es auch nicht darauf an, selbstironisch zu schreiben, was auch immer dann schwer ist, wenn man aus Figurenperspektive schreibt, und das mache ich ja auch relativ häufig (...). Also, die Figuren, die da etwas erzählen, die nehme ich schon sehr, sehr ernst, so wie sie sind und gestehe ihnen diese Würde zu. Also, ich möchte die nicht deklassieren in irgendeiner Art und Weise.

    Viele dieser Figuren leben auf dem Land. Sie wachsen bereits zwischen Feld und Wald auf oder haben sich entschieden, hier alt zu werden. Die ländliche Umgebung ist also ihr unmittelbarer Erfahrungsraum. Ein Gegenentwurf zur städtischen Szene-Literatur, gar zum vielzitierten Berlin-Roman?

    Es war einfach mein Wunsch, und das liegt mir einfach auch nahe durch meine Herkunft, der Stadtliteratur noch einmal eine Landliteratur entgegen zu halten, das auf jeden Fall. Aber es ist nicht so, dass ich das Leben auf dem Land propagiere, darum geht es mir nicht.

    Tatsächlich kommt es in diesen Erzählungen nie zur Verkitschung der ländlichen Szenerie. Die ist der Aktionsraum der Figuren, aber wichtiger sind die Figuren selbst, ihr Denken und Handeln steht im Vordergrund. Und das ist von allen modernen Einflüssen geprägt, die auf dem Land genauso spürbar werden wie in der Stadt. (15)

    Es ist definitiv keine Heimatliteratur, weil sich Heimatliteratur z.B. darüber definiert, dass sie idealisiert, Heimat als solche, dass sie ideologisch wird darüber, dass bestimmte Sprachnuancen und bestimmte Fauna und Flora einen Selbstwert zugedacht bekommen, den sie natürlich nicht haben. Und das spielt in diesen Geschichten überhaupt keine Rolle.

    Jörg Matheis hat seinen Erzählungsband in zwei Teile gegliedert. Während die Figuren im ersten Teil vor allem aus familiären Zusammenhängen ausbrechen wollen, haben die Erzählungen im zweiten Teil stärker einen gesellschaftlichen, mitunter auch einen eindeutig politischen Hintergrund. Eine der Figuren ist beispielsweise ein Kfor-Soldat, der sich im verwüsteten Ex-Jugoslawien um einen kleinen Jungen kümmert, den er allein am Grab seiner Eltern fand. (25)

    Ich halte den Krieg letzten Endes, und die aktuelle Diskussion um den Irak zeigt das ja, für ein eminent wichtiges literarisches Thema augenblicklich. (...) Das ist wirklich entstanden aus der Beschäftigung mit Zeitungsartikeln zum Thema Nachkriegsjugoslavien, und das, ich weiß auch nicht, hat mir keine Ruhe gelassen und ist für uns Europäer, denke ich, auch nach wie vor ein ganz wichtiges Thema, weil da in unserer bisher sehr friedlichen Einigungsgeschichte eben ein Bruch eingetreten ist, den wir sicherlich immer noch nicht verarbeitet haben.

    Wo gibt es das schon in der jungen deutschen Literatur, einen UN-Soldaten als Hauptfigur einer Erzählung? Das ist ein echtes Wagnis, und doch kommen die Texte von Jörg Matheis allesamt eher leise daher, eher unauffällig. Und mehr als zum Lachen oder Weinen regen sie zum Nachdenken an. Denn sie sind in hohem Maße welthaltig, ihr Autor widmet sich seinen Stoffen mit großer Ernsthaftigkeit. Das Buch gewinnt dadurch gleichsam an Gewicht, was es an möglichen Oberflächenreizen einbüßt. Das ist nicht der schlechteste Tausch, den ein Autor machen kann.