Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Monstergeschichte im Zirkusspektakel

Im Roman "Frankenstein oder der moderne Prometheus" von Mary Shelley ist "das Geschöpf" ein armes Monster, das seither immer auch als Projektionsfolie für Verstiegenheiten der Science Fiction, für Gruselsehnsüchte und für die Angst vor der eigenen Sexualität diente. In Jena wurde "Frankenstein" nach Mary Shelley jetzt auf dem Theatervorplatz zur Eröffnung der sommerlichen Kulturarena gegeben.

Von Hartmut Krug | 13.07.2012
    Die neue Mannschaft des Theaterhauses Jena beendet ihre erste Spielzeit, die unter dem Motto "Weine, weine, Bestie Mensch" stand, mit einer neuen Frankensteinversion. Die vorhergehende Leitung hatte sich im Jahr 2008 von Thomas Melle eine neue Frankensteinversion als kritischen Kommentar zur Gen- und Stammzellenforschung schreiben lassen. Die aktuelle Frankensteinversion, erarbeitet von Katharina Raffelt, greift dagegen auf die Urfassung von Mary Shelleys Roman zurück. Bei ihr bleibt kaum etwas von der vor allem in den Verfilmungen des Stoffes dominanten "Mad-Scientist-Problematik". So geht es weniger um das hemmungslose und gewissenlose Forschen nach dem Lebensfunken, das den ständig vom Vater kontrollierten Frankenstein zur Produktion eines Monsters aus Leichenteilen treibt.

    Der Jenaer Frankenstein von 2012 ist, wie Jekyll und Hyde, eine gespaltene Persönlichkeit, die den Zwängen der Familie zu entkommen sucht und, im Kampf mit dem Monster in sich selbst, scheitert. Die Aufführung beginnt mit einer pompösen Grablegung der Mutter, bevor der junge Frankenstein zum Studium nach Ingolstadt flüchtet. Und der Horror trifft nur die Familie, indem das Monster den kleinen Bruder Frankensteins tötet und Frankensteins jungfräuliche Ehefrau vergewaltigt und umbringt. Das Dienstmädchen der Familie wird von der irrenden Gesellschaft gelyncht, was sowohl in szenischer Blutschütt-Aktion als auch mit einem Galgenbild gezeigt wird.

    Frankenstein als Sommertheaterspektakel: Das ist ein kühnes Unterfangen. In Jena gelingt es nur teilweise. Immerhin sucht Regisseur Moritz Schönecker den Wirkungsgesetzen des Genres und des riesigen Spielraumes geschickt zu entsprechen, indem er die Frankensteingeschichte als Zirkusspektakel inszeniert. Vor der Front des Theaterhauses steht auf der einen Seite eine Rummelbude für ein kleines Orchester, auf der anderen ein Wohnwagen für die nicht weiter gezeigten Vorbereitungen von Frankensteins Experimenten. Und in der Mitte gibt es eine Videowand. Schon während die Zuschauer in die Arena strömen, mischt sich die große, bunte Zirkusmannschaft unter sie. Sie bieten eine Freakshow: mit bärtiger Frau, einem Bären, siamesischen Zwillingen, Kleinwüchsigen und skurrilen Außenseiterfiguren. Die Zirkusdirektorin leitet als Ansagerin durch die Geschichte, die uns mit Frankensteins Monster und den Zirkusfreaks überdeutlich erzählt, dass der Mensch seine Monster in der Gesellschaft selber schafft. Und die Außenseiter kommen mehrfach zu Wort, so auch, indem die Frau eines dunkelhäutigen Paares die Geschichte vom einsamen Kind aus Büchners Woyzeck erzählt.

    Das von mehr als 50 Statisten unterstützte Ensemble erschafft viele große, expressive Beeindruckungsbilder vom bunten Zirkusleben, und die Band spielt munter dazu. Vor allem aber überzeugen, ja begeistern, die Live-Videos von Peer Engelbracht und Stephan Komitsch: Wie hier im Stile von Katie Mitchell Aktionen an verschiedenen Stellen der Bühne trickreich gefaked und gefilmt und dann auf der Leinwand zu großen Aktionen zusammengeführt werden, das riss das Publikum zu Recht immer wieder zu Beifall hin. Und wenn Tom Waits von der Waltzing Mathilda sang, während auf der Bühne ein Unterhaltungsprogramm zwischen Feuertricks und Stangenturnen präsentiert wurde, dann fühlte sich das Publikum auch dadurch gut unterhalten.

    Was allerdings weniger gelang, waren die Familien- und Bedeutungsszenen. Sie wirkten viel zu langatmig, in Vorbereitung wie in Durchführung, und stoppten immer wieder den Fluss der mehr als zweistündigen, pausenlosen Inszenierung. Auch verschwand die Frankensteingeschichte fast hinter dem Zirkusspektakel.

    Mitleid mit dem hier sehr kleinen Monster mochte man kaum entwickeln, und auch dem dicklichen Familiensöhnchen Frankenstein schaute man eher distanziert zu. Als am Schluss der Kampf zwischen dem Liebe und Frau fordernden Monster und seinem ängstlich verantwortungslosen Schöpfer Frankenstein in den Eiswüsten der Antarktis kein Ende findet, wirkte mehr das "Making of" der Szene als deren Gehalt. Als aus Schubkarren splitternde Schollen geschüttet wurden, entstanden wie von selbst Assoziationen zu Caspar David Friedrichs Bild "Gescheiterte Hoffnung".

    Man muss die neue junge Truppe des Theaterhauses Jena loben für den Mut, wie sie ihr kühnes Frankensteinprojekt dem üblichen Shakespeare- und Molière-Einerlei des sommerlichen Freilichttheaters entgegen stellen. Völlig gelungen ist es nicht, aber es besitzt viele schöne Momente, die die harten Holzbänke in kalter Sommernacht gelegentlich durchaus vergessen ließen.