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Montgomery zur Maskenpflicht
"Selbst ein feuchter Lappen vorm Gesicht ist besser als gar nichts"

Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, hält es für möglich, mit guten Hygienekonzepten auch in den Wintermonaten gastronomische Betriebe zu öffnen - dazu gehöre das Tragen einer Maske. Für deren Wirksamkeit gebe es inzwischen eindeutige wissenschaftliche Beweise sagte, er im Dlf.

Frank Ulrich Montgomery im Gespräch mit Martin Zagatta | 02.09.2020
Hinweis zur Maskenpflicht in der Bahn
Über 80 Prozent der Bevölkerung stehen weiter hinter den Maßnahmen der Bundesregierung, sagt der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery (dpa/ Sebastian Gollnow)
Mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie hat auch die deutsche Politik Neuland betreten. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte bereits frühzeitig erklärt, dass man sich in der Coronakrise wohl mehrfach werde entschuldigen und um Verzeihung bitten müssen, weil es sich für alle Beteiligten, die Wissenschaftler, die Politik und die Öffentlichkeit auch um einen Lernprozess handele, bei dem manche Entscheidungen im Nachhinein nicht mehr so gerechtfertigt erscheine, wie zu dem Zeitpunkt, als man sie getroffen hat. Einen erneuten Lockdown wie im vergangenen März, hält Spahn derzeit aber für nicht mehr notwendig. Auch der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, ist dieser Meinung. Die Menschen hätten es selber in der Hand, alles zu tun, um einen Lockdown zu vermeiden oder auf sehr regionale Prozesse zu begrenzen. Voll besetzte Fußballstadien oder große Konzertsäle könne er sich in den folgenden Monaten jedoch nicht vorstellen, so Montgomery. Mit guten Hygienekonzepten, die auf den sogenannten AHA-Regeln aufbauten, sei es jedoch möglich, bestimmte gastronomische Betriebe weiter zu öffnen. "Die sind so gut, die kann man der Bevölkerung auch zumuten."
"Masken Weg!" steht auf dem "Mundschutz" eines Teilnehmers einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen.
Soziologe Nassehi: "Die Maske ist eine Zivilisierungsübung"
Die Maske sorge für Distanz und ermögliche darüber Nähe, sagte der Soziologe Armin Nassehi im Dlf. Damit symbolisiere sie im Grunde alltägliches Verhalten im Zusammenleben großer Gruppen.

Das Interview im Wortlaut:
Martin Zagatta: Herr Montgomery, sinngemäß sagt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ja jetzt nichts anderes, als dass mit dem Wissen von heute der Lockdown im Frühjahr so nicht verhängt worden wäre. Im Rückblick: War die deutsche Corona-Politik übertrieben?
Frank Ulrich Montgomery: Wenn man vom Rathaus kommt, ist man immer klüger, sagt ein ganz alter Spruch, und ich glaube, das sehen wir hier auch. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass mit dem Wissen der Zeit, mit den Bildern, die wir aus Bergamo, aus Frankreich, aus New York hatten, die Entscheidungen richtig waren. Sie sind ja auch von den Gerichten im großen Teil da, wo sie hinterfragt wurden, bestätigt worden. Und dennoch stimmt es auch, dass wir sie heute wahrscheinlich so nicht mehr machen würden, weil wir zugelernt haben.
Aber sie haben eines bewirkt, diese Maßnahmen, und das ist eigentlich ein großes Kompliment an unsere Bevölkerung. Es ist uns gelungen, die Bevölkerung mitzunehmen, und 85 Prozent der Menschen haben sich nicht nur daran gehalten, sondern haben es sogar sehr ernst genommen. Großer Erfolg der Bundeskanzlerin und von Jens Spahn, und deswegen sind wir so gut durch die Krise gekommen.
"Wir laufen Gefahr, diesen Konsens in der Bevölkerung zu verlieren"
Zagatta: Wenn Sie sagen, die Menschen wurden mitgenommen, passiert da im Moment nicht genau das Gegenteil, mit diesem Hin und Her beispielsweise um Reiserückkehrer? Das verwirrt doch mehr, als dass es hilft.
Frank Ulrich Montgomery (Vorsitzender des Aufsichtsrates der Deutschen Apotheker- und Ärztebank eG, Präsident des Ständigen Ausschusses der Ärzte der Europäischen Union (CPME), Vorsitzender des Vorstandes des Weltärztebundes (World Medical Association, WMA) gestikuliert im Februar 2017 bei einem Interview in Berlin.
Frank Ulrich Montgomery (imago / Thomas Truschel)
Montgomery: Da bin ich sehr bei Ihnen. Wir laufen Gefahr, diesen Konsens in der Bevölkerung zu verlieren, weil die Menschen sind manchmal klüger als einzelne Landespolitiker, weil die sagen sich, das Virus kennt keine Ländergrenzen und unterschiedliche Regelungen in einzelnen Bundesländern oder sogar einzelnen Gesundheitsämtern, das muss doch eigentlich bundeseinheitlich koordiniert und gleich sein. Deswegen laufen wir momentan Gefahr, durch unterschiedliche Regelungen den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren.
Das hat aber nichts mit den Protesten zum Beispiel vom letzten Wochenende zu tun. Das sind ganz geringe Prozentzahlen. Nach wie vor wissen wir, dass über 80 Prozent, nach letzten Einschätzungen sogar 85 Prozent der Bevölkerung hinter den Maßnahmen der Bundesregierung stehen beziehungsweise sagen, das ist sogar zu wenig. Aber diese hohe Zahl, das ist die Überlebensgarantie gegenüber Corona, und die wollen wir erhalten.
Zagatta: Jetzt haben Sie betont, wenn man vom Rathaus kommt, ist man klüger. Wir würden anders reagieren, als wir das im Frühjahr gemacht haben, wir Medien wahrscheinlich ganz genauso. Aber heißt das auch: Selbst wenn die Infektionszahlen jetzt weiter ansteigen, wenn diese zweite Welle kommt, dann brauchen wir keinen zweiten Lockdown?
Montgomery: Das hängt ganz davon ab. Wenn die Zahlen so exponentiell ansteigen, wie wir das jetzt erleben, zum Beispiel in Spanien, wo plötzlich über Nacht wieder 7000 Neuinfektionen pro Tag auftreten, dann würde ich nichts ausschließen wollen. Aber wir haben alle Instrumente in der Hand. Unsere Bevölkerung, die Menschen selber haben es in der Hand, alles zu tun, um einen jeden Lockdown zu vermeiden, oder aber Lockdowns auf sehr regionale Prozesse zu begrenzen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir immer wieder darauf hinweisen: Dieses verrückte Präventions-Paradoxon. Weil wir so gut waren, glauben die Leute, da war doch nichts. Hätten wir nichts gemacht, hätten sie uns alle beschuldigt, wir hätten nicht genug getan, und wir hätten Bilder gehabt wie in Italien, Frankreich oder Spanien. Deswegen: Es ist eine Situation, die muss von Tag zu Tag entschieden werden, und mit Sicherheit wissen wir heute, wir können besser behandeln, wir haben ausreichend Intensivkapazitäten, wir haben die Menschen gut mitgenommen. Deswegen werden die Entscheidungen heute nicht mehr genauso aussehen, wie sie im Februar oder März aussahen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Mehr bundeseinheitliche Regeln
Zagatta: Aber wenn der Gesundheitsminister jetzt sagt, den Einzelhandel und Friseurläden müsse man dann nicht mehr schließen – er sagt auch, die Besuchsverbote in Pflegeeinrichtungen, die brauche man nicht mehr -, da gehen Sie jetzt mit?
Montgomery: Unter der heutigen epidemiologischen Lage gehe ich mit. Bei etwa 1300 Neuinfektionen, gemittelt über die letzten sieben Tage, pro Tag kann man sich das ohne weiteres so vorstellen. Aber wir werden zum Beispiel, wenn wir in einem großen Pflegeheim irgendwo in Deutschland – ich will jetzt gar nicht sagen wo – einen Ausbruch haben, natürlich einen Lockdown für dieses Pflegeheim beschließen müssen. Aber bundesweite Lockdowns, auch in Bundesländern, die praktisch überhaupt gar keine Infektionen haben, die brauchen wir dann nicht. Nur wir müssen die gleichen Kriterien anlegen, ganz egal wo es geschieht, und nicht dann wieder im Benehmen einzelner Landespolitiker sagen, bei uns mal lieber nicht so. Das muss überall gleich sein, sonst verliert die Bevölkerung das Vertrauen in die Politik.
Zagatta: Dass es diese bundeseinheitlichen Regelungen so nicht gibt, das ist aus Ihrer Sicht ein Fehler?
Montgomery: Ja, das ist für mich ein Fehler. Wenn Sie mal den Anfang der ganzen Pandemie betrachten: Jens Spahn und Angela Merkel haben am Anfang eine klare Politik gemacht, bis etwa in den Mai hinein. Dann fingen die Ministerpräsidenten in ihrem Schönheitswettbewerb untereinander an, einzelne Lösungen aufzuweichen, sich davon zu verabschieden. Herr Kretschmann hat dann sogar gesagt, er wolle gar nicht mehr da mitmachen. Herr Söder ist vorgeprescht, Herr Laschet dann in die andere Richtung. Da begann eigentlich erst das informationelle Chaos darum. Unterm Strich war das meines Erachtens schädlicher, als hätte man die Konsequenz der Politik durchgehalten, die von der Bundesregierung vorgegeben war.
Zagatta: Wie würden Sie das jetzt regeln? Das kommt ja auf uns zu, wenn es kälter wird. Was ist mit Restaurants und Kneipen, wenn man sich da nicht mehr im Freien aufhalten kann? Wie soll das geregelt werden?
Montgomery: Es gibt mit Sicherheit diese sogenannten Hygienekonzepte. Voll besetzte Fußballstadien, große Konzertsäle oder aber Restaurants, gepackt so richtig gemütlich schön mit Bar und Kneipe, das kann ich mir in diesem Winter überhaupt nicht vorstellen. Aber es gibt Hygienekonzepte, die auf diesen sogenannten AHA-Regeln aufbauen, Abstand, Hygieneregeln und Atemmasken. Die sind so gut, die kann man der Bevölkerung auch zumuten, und dann kann man auch Restaurants und Ähnliches wieder aufhalten.
Bei Verdachtsfällen nur noch fünf Tage in Quarantäne
Zagatta: Diese Maskenpflicht vielerorts, die wird jetzt nicht mehr in Frage gestellt? Sie hatten ja am Anfang auch Einwände. Da haben Sie ja selbst jetzt auch umgedacht?
Montgomery: Ja! Es gibt inzwischen wissenschaftliche Beweise in der Weltliteratur, dass auch eine schlechte Maske immer noch besser ist als keine Maske. Mein Einwand ging ja damals vor allem darum, dass ich es schlecht fand, eine bußgeldbewährte Maskenpflicht einzuführen, ohne dass man den Menschen die Masken, richtig gute Masken zur Verfügung stellen konnte. Inzwischen wissen wir, dass selbst ein, mit Verlaub gesagt, feuchter Lappen vorm Gesicht besser ist als gar nichts.
Zagatta: Der Virologe Christian Drosten fordert jetzt auch ein Umdenken aus praktischen Gründen, weil sich sonst viele nicht daran hielten, bei Verdachtsfällen nicht mehr 14 Tage Quarantäne, sondern nur noch fünf. Ist das aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Montgomery: Ja! Nun ist ja Christian Drosten wirklich der Fachmann dafür. Wissenschaftlich macht das Sinn, wenn man folgendes macht: Wenn jemand zum Beispiel aus dem Ausland wiederkommt, ein potenzieller Infektionsherd ist, dann muss er fünf Tage in häusliche Isolation - das ist ja der Euphemismus für die Quarantäne – gehen, muss wirklich schön alleine zuhause sein. Wenn man dann am fünften Tag einen PCR-Test aus dem Rachen macht und der ist negativ, dann kann man die Quarantäne aufheben. Dann ist das Risiko, das Restrisiko einer Infektion in einem so kleinen Bereich, dass man das vertreten kann. Deswegen hat Herr Drosten recht. Aber ich würde immer an die fünf Tage Frist noch den PCR-Test anhängen und persönlich würde ich bis zum Ergebnis, zwei Tage lang, noch zuhause bleiben.
"Regelmäßiges Grundrauschen von einigen tausend bis 2000 Infektionen pro Tag"
Zagatta: Herr Montgomery, jetzt haben wir viel über den Corona-Wirrwarr in den zurückliegenden Monaten gesprochen. Deutschland setzt sich jetzt in der EU für gemeinsame Reiseregeln ein, etwa was die Quarantäne betrifft. Wäre das jetzt überhaupt zu machen und wäre das sinnvoll?
Montgomery: Sinnvoll wäre es auf jeden Fall. Ob das zu machen ist beim Zustand der EU im Moment, das wage ich an einigen Punkten zu bezweifeln. Aber mit unseren Nachbarstaaten, mit denen wir ein gutes Verhältnis haben, wird das mit Sicherheit machbar sein. Auch da gilt ähnlich wie beim Föderalismus bei uns in Deutschland: Ob sich am Ende alle daran halten, das wird zu sehen sein. Wir erleben ja an anderen, auch noch wichtigeren Entscheidungen innerhalb der EU, dass sich da bei der Verteilung der Flüchtlinge, bei der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien einige Länder andauernd verabschieden. Das wird uns auch hier passieren. Trotzdem: Versuchen muss man das, denn je mehr Einheitlichkeit und Gleichheit wir haben, desto mehr begreifen die Menschen, wie wichtig das ist und woran sie sich halten müssen.
Zagatta: Erwarten Sie denn eine zweite Welle?
Montgomery: Ich rede ja nie von der zweiten Welle, sondern ich sage, wir haben eine Dauerwelle. Und wenn Sie mal bedenken, dass wir bei 300 Infektionen waren vor einiger Zeit, jetzt wieder bei 1200 Neuinfektionen pro Tag sind – ich glaube, wir werden uns daran gewöhnen müssen, ein regelmäßiges Grundrauschen von einigen tausend bis 2000 Infektionen pro Tag zu haben. Damit überfordern wir unser Gesundheitswesen nicht. Das können wir händeln. Da können wir auch die Infektionsketten nachvollziehen und können sie unterbrechen. Solange es nicht schlimmer wird und wir plötzlich wieder bei 7000 oder 8000 sind, so lange werden wir auf einer Dauerwelle surfen, und dann bleibt die zweite Welle, das Zusammenbrechen des Gesundheitswesens, was wir übrigens bei der ersten auch nicht hatten in Deutschland, aber dann bleibt das aus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.