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Moral auf dem Prüfstand

Er wolle ganz in Ruhe und auch ganz altmodisch ein psychologisches Stück mit einer Geschichte erzählen, sagte Regisseur Martin Kusej über seine Inszenierung von Schnitzlers "Das weite Land". Und: Diese Ruhe hat der Aufführung gut getan.

Von Karin Fischer | 07.10.2011
    Schwarz gekleidete Menschen, unbeweglich und stumm, hinter einem Vorhang aus Regen. Der Pianist Korsakow wird beerdigt. Aus dem Off Sätze über "hilflose Zeitgenossenschaft" und "planloses Mitmachen", die Stimme von Juliane Köhler als Genia sagt: "Es fehlt an Allem, wie an Nichts". Das ist eine deutliche Vorgabe. Martin Kusej inszeniert das Stück als Drama einer Zeitenwende, in der alle Moral- und Wertvorstellungen einer erstarrten Gesellschaft auf den Prüfstand kommen. Mit Betonung auf "erstarrt". Die gesellschaftlichen Zusammenkünfte beim Diner oder vor dem Tennisspiel wirken oft wie eingefroren, die Schlüsselszene wird sogar wiederholt, jetzt mit den Nebenfiguren als stumme Zeugen wie in einem Wachsfigurenkabinett. Das alles spielt in einem niedrigen Edelholz-Kasten, der hinten von einer undurchdringlichen Wand aus grünen Lianen abgeschlossen wird, das als Sinnbild für den menschlichen Seelendschungel fast zu eindeutig daher kommt.

    Schnitzlers Stück dekliniert ja das Thema des 'außerehelichen Geschlechtsverkehrs' in vielen Spiegelungen durch, macht daraus ein Philosophicum über Liebe und Freiheit und entwirft mit Friedrich Hofreiter, Genias Mann, einen ehrlichen Ehebrecher, dem der tote Freund Korsakow aber mehr wert ist als die Tugend seiner Frau:

    "Anders gefragt: Wenn du ihn von den Toten wieder aufwecken könntest dadurch dass du seine Geliebte würdest... Warum gibst du's nicht zu? Er hätte nur noch ein paar Tage Geduld haben müssen... du hast ihn ja geliebt." - "Nicht genug, wie du siehst."

    "Du sprichst das aus, als ob du mir einen Vorwurf machen wolltest. Ich kann ja nichts dafür. Und jetzt bereust du, dass du ihn in den Tod getrieben hast?"

    "Es tut mir sehr weh, dass er gestorben ist. Aber zu bereuen, zu bereuen hab ich doch nichts?!"

    Juliane Köhler spielt die Genia zuerst hölzern unglücklich, dann unterdrückt aggressiv, zuletzt kühl resignativ. Das Betrugsspiel macht sie nur widerwillig mit. Am Ende wird auch Marine-Fähnrich Otto ihretwegen sein Leben lassen, Friedrich erschießt ihn im Duell. Doch das ist keine Frage der Leidenschaft oder Liebe mehr, sondern die Rache eines alternden Mannes an der Jugend. Tobias Moretti kommt als Profi-Täuscher und Lebemann ziemlich sympathisch rüber, er ist die Energie-Maschine dieses Abends, er spielt Friedrich als unkonventionellen Freigeist, der aber brillant die Waage hält zwischen reflektierter Selbsterkenntnis als Mann und einer spürbaren Verantwortung dem Unbedingten gegenüber, das die nächste junge Frau, Erna, für ihn bereit hält. Und doch weiß er um die Selbsttäuschung des Menschen, wie Markus Hering als Doktor Mauer für die ganze Gesellschaft formuliert:

    "Wenn, dann ehrlich, bis zur Orgie. Das ließ ich gelten. Aber dieses Ineinander hier von Frechheit und Zurückhaltung, von feiger Eifersucht und erlogenem Gleichmut, von rasender Leidenschaft und leerer Lust – oh ist das trübsinnig. Das ist so grauenhaft."

    Die Schnitzlerschen Positionsbestimmungen arbeitet Kusej heraus wie in einem Schachspiel. Damit tut er vor allem seinen Nebenfiguren keinen Gefallen, die allzu blutleer und lemurenhaft statisch wirken. Alle außer Erna, die nicht heiraten will und für die "neue Zeit" steht. Sie spricht als Einzige unverstellt, geht am Ende aber doch der ersten Liebe auf den Leim. Und Eva Mattes als Schauspielerin Frau Aigner und Mutter Ottos ist eine Klasse für sich, eine ehrlich durch den Schmerz gegangene, zugewandte Frau. Beeindruckend, wie viele unterschiedliche Frauen-Leben zwischen Opferrolle und Selbstbestimmung doch in das Stück passen.

    Auch wenn die Herren der Schöpfung, August Zirner als geschiedener Herr Aigner, und Friedrich Hofreiter, den Diskurs darüber führen. Ist das aktuell? Auch heute stehen wir vor einer Zeitenwende, in der die halbe Welt sich, wie Genia, nicht mehr auskennt mit dem vermeintlich gültigen Wertesystem. Diese Verunsicherung macht nachdenklich und das Stück fast gegen die Intention des Autors zum Sprachrohr auch für wahre, einzige Liebe. Auch Regisseur Martin Kusej erweist sich als doppelbödig. Für seine Auftaktinszenierung hat er alles Berserkerhafte-Blutige, jeden Furor, für den er bekannt ist, für die vornehm blasse Pinselzeichnung aufgegeben. Da kann also noch was kommen. Neue Ansichten, neue Aussichten für die Theaterstadt München.