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Moralismusfalle
Wenn jeder besser weiß, was richtig ist

Es ist Zeit für eine „Kritik des Moralismus“, finden Christian Neuhäuser und Christian Seidel, Herausgeber des gleichnamigen Buches. Die von ihnen versammelten Autoren werfen darin einen differenzierten Blick auf das Moralisieren in der breiten Öffentlichkeit.

Von Ralph Gerstenberg | 26.04.2021
Christian Neuhäuser, Christian Seidel (Hrsg.): "Kritik des Moralismus"
Der Sammelband diskutiert die Ambivalenz des Moralismus (Foto: imago / agefotostock, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
"Erst kommt das Fressen, dann die Moral", hieß es bei Brecht. Sind die Grundbedürfnisse erst einmal befriedigt, wird das Fressen selbst, also die Art und Weise, wie wir konsumieren, uns ernähren, welche Ressourcen wir verbrauchen, zu einer moralischen Frage. Moral sei wichtig, schreiben die Herausgeber Christian Neuhäuser und Christian Seidel im Vorwort ihrer "Kritik des Moralismus", aber man könne sie auch zu wichtig nehmen. Zum Beispiel, wenn Moralapostel allenthalben ihre Zeigefinger erheben und von anderen die Einhaltung bestimmter Gebote fordern.
Wege aus der Moralismus-Falle
Moralische Kritik endet leicht im Streit. Schnell heiße es, wer "moralisiere", wolle bloß selbst besser dastehen, beobachtet der Philosoph Christian Seidel.
"Wer kennt nicht Menschen, die den Abend im Freundeskreis zielsicher mit der Frage verderben, ob der Genuss des Weines angesichts der weltweiten Armut nicht ein unvertretbarer Luxus sei; die ihre Kolleg*innen nach Reisen aller Art mit der Frage zu konfrontieren pflegen, wie das denn angesichts des Klimawandels zu rechtfertigen sei; oder die ihre Bekannten vorzugsweise mit Büchern wie Vegetarismus, Fair Trade und regionale Produkte. Ein Leitfaden für bewusste Konsument*innen und solche, die es werden sollten beglücken möchten."

Der erhobene Zeigefinger

Moralismus gehe häufig mit Komplexitätsreduktion und Prinzipienreiterei einher, heißt es bei Seidel und Neuhäuser. Indem der Moralisierende die Gegenseite ins schlechte Licht stellt, erscheint sein eigenes moralisches Blitzeblanksein umso strahlender. Auch in öffentlichen Diskursen wird gerne der moralische Zeigefinger erhoben. Bewusst werden Konsumenten durch verschiedene Labels - Tierwohl, Bio etc. - beispielsweise daran erinnert, dass sie mit ihrer Kaufentscheidung auch eine moralische Entscheidung treffen. So könne man eine "zunehmende Moralisierung der Lebenswelt konstatieren", schreiben die Herausgeber, "die moralische Bewertung dieser Entwicklungen" sei ambivalent.
"Einerseits kann man sich davon eine Verbesserung von Missständen und weniger Fehlverhalten erhoffen. Andererseits können der steigende gesellschaftliche Rechtfertigungsdruck und das Gefühl, zunehmend ‚unter moralischer Beobachtung‘ zu stehen, gerade als Freiheitseinschränkung von der Art empfunden werden, gegen die sich John Stuart Mill in On Liberty wandte."
Darüber hinaus wird die Kritik am Moralismus auch gerne dazu benutzt, politische Bewegungen wie Fridays for future oder #MeToo und deren berechtigte Forderungen zu diskreditieren. Ein Anliegen der Autorinnen und Autoren Buches ist es deshalb, herauszufinden, wann moralische Kritik in der Öffentlichkeit zu Recht geäußert wird und wann sie ein "verwerfliches Anprangern" oder gar "moralische Hetze" darstellt. So widmet sich Bernd Ladwig in seinem Beitrag der Frage, ob es sich bei Veganismus um eine Form von Moralismus handele. Sabine Hohl fragt, ob es moralisch sei, andere zum ethischen Konsumieren anzuhalten, und Christian Neuhäuser untersucht am Beispiel von Managergehältern das Spannungsfeld von Moralismuskritik und normativen Erwartungen.

Die Geschichte des Moralisierens

Dass Moralismusdebatten kein Gegenwartsphänomen sind, kann man in Beatrix Himmelmanns Beitrag über "Nietzsches Kritik des Moralismus" nachlesen. Für Nietzsche, so die Autorin, sei Moralismus ein Verhalten, das moralische Kriterien dort anlege, wo sie nichts zu suchen hätten.
"Moralismus und Moral sind dann genau dadurch unterschieden, dass die Moral Richtlinien des angemessenen Handelns nur für Situationen und Bereiche vorschreibt, in denen sie relevant sind, während der Moralismus solche Vorschriften auch in Situationen und Bereichen geltend macht, die als gar nicht moralisch belangvoll ausgewiesen werden können. Moralismus ist dann Ausdruck eines Verständnisses von Moral, das sie in eine Art Tyrannei verwandelt - versessen auf ungerechtfertigte Regulierungen unseres Tuns und Lassens."
Hype um die Hypermoral
Moralismus, Hypermoralismus, Moraldiktatur: In Deutschland scheint es schlimmer zu sein, moralisch zu argumentieren als unmoralisch zu handeln. Ein Ausweg könnte der Plural sein: die Moralen.
Verantwortlich für den grassierenden Moralismus macht Nietzsche die europäische Aufklärung - Rousseau, Schiller und vor allem Kant, der mit seiner "Kritik der reinen Vernunft" laut Nietzsche gar das Ziel verfolgte, "Raum für sein ‚moralisches Reich‘ zu schaffen". Doch Immanuel Kant, das führt Tim Henning in seinem Beitrag über die kantsche Rechtslehre aus, ist bei aller Rigorosität keineswegs der tyrannische Moralprediger gewesen, als den Nietzsche ihn sah.
"Wie moralistisch auch immer seine Schriften mitunter erscheinen mögen - gerade dort, wo es um die Sphäre von Zwang und Gehorsam geht, hat Kant darauf gedrängt, dass diese Sphäre vom Moralisieren freigehalten werden muss."
Und Maike Albertzart ergänzt in ihrem Text über "Kant und das ‚phantastisch Tugendhafte‘":
"Weiterhin ist in diesem Zusammenhang relevant, dass in der kantschen Ethik nur unsere eigene moralische Vollkommenheit und nicht die Vollkommenheit anderer einen moralisch gebotenen Zweck darstellt. Es ist unsere Pflicht, an uns selbst und unseren eigenen moralischen Fehlern zu arbeiten […] Darüber hinaus warnt Kant explizit vor dem moralischen Verurteilen anderer […] und wirbt stattdessen für Wohlwollen und Nachsicht in der Beurteilung der Handlungen, Maximen und Charaktereigenschaften unserer Mitmenschen."
Die von Christian Neuhäuser und Christian Seidel herausgegebene "Kritik des Moralismus" ist ein herausfordernder und anregender philosophischer Diskurs zum öffentlichen Moralisieren. Die Autorinnen und Autoren werfen darin einen reflektierten und historisch fundierten Blick auf Moralismusfallen in Zeiten von Identitätspolitik und digitalen Massenmedien. Sie bemühen sich um Differenzierungen in einer Debatte, in der es um das Schwingen der Moralkeule geht. So kritikwürdig Moralismus im Allgemeinen auch sein mag, er führt letztlich auch dazu, unser moralisches Urteilsvermögen zu schärfen. Dafür ist dieses Buch ein Beleg.
Christian Neuhäuser und Christian Seidel (Hrsg.): "Kritik des Moralismus",
Suhrkamp Verlag, 490 Seiten, 28 Euro.