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"Mord verjährt ja nicht"

Die Aufarbeitung von NS-Unrecht ist erst abgeschlossen, wenn theoretisch kein mutmaßlicher Täter mehr lebe, sagt Andreas Brendel, Leiter der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Tätern in Nordrhein-Westfalen. Solange ein NS-Verbrecher noch lebe, müsse dieser auch strafrechtlich verfolgt werden.

Andreas Brendel im Gespräch mit Jonas Reese | 13.05.2011
    Anne Raith: Gestern auf den Tag genau vor zwei Jahren landete der gebürtige Ukrainer John Demjanjuk auf dem Münchner Flughafen. Demjanjuk war von den USA an Deutschland ausgeliefert worden, der Grund: ein internationaler Haftbefehl. Der Vorwurf: Beihilfe zum Mord an fast 29.000 Menschen im Vernichtungslager Sobibor im Jahr 1943. Eineinhalb Jahre dauerte der Prozess am Münchner Landgericht, gestern wurde Demjanjuk nun schuldig gesprochen. Fünf Jahre Haft für grausame Taten, die rund 70 Jahre zurückliegen. Ist da die Höhe des Strafmaßes noch ausschlaggebend, oder geht es bei dem Schuldspruch eher um einen symbolischen Akt? – Diese Fragen hat mein Kollege Jonas Reese Andreas Brendel gestellt, dem Leiter der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Tätern in Nordrhein-Westfalen.

    Andreas Brendel: Ich kann zum Inhalt des Urteils Demjanjuk natürlich relativ wenig sagen. Nur ist es heute bei der Verfolgung von NS-Tätern immer schwierig und im Falle der Verurteilung immer schwierig zu sagen, die Person, die dort verurteilt worden ist, muss die Strafe auch noch verbüßen. Von daher haben solche Verurteilungen natürlich einen symbolischen Charakter. Aber ich glaube schon, dass wir auch alles tun müssen, dass noch lebende NS-Täter verurteilt werden. Schon alleine den Angehörigen der Opfer sind wir dieses schuldig. Natürlich haben wir noch die Pflicht, nach dem Gesetz eine entsprechende Strafverfolgung durchzuführen.

    Jonas Reese: Trotz des symbolischen Charakters dieses Urteils, was Sie schon angesprochen haben, wird die Höhe des Urteils natürlich schon auch diskutiert. Kann es aber in diesen Fällen überhaupt um Gerechtigkeit gehen? Kann es die überhaupt geben?

    Brendel: Na ja, die Frage nach Gerechtigkeit ist immer schwierig zu beantworten, vor allen Dingen dann, wenn es um die Tötung von vielen Tausenden von Juden, Behinderten oder wie auch immer geht. Da ist es schwierig zu sagen, fünf Jahre wegen Beihilfe zum Mord sind gerechtfertigt, oder lebenslange Freiheitsstrafe wäre gerechtfertigt. Ich glaube schon, dass das Landgericht die individuelle Schuld des Angeklagten angemessen beurteilt hat und auch eine angemessene Strafe verhängt hat.

    Reese: Oft wurde ja im Zusammenhang mit dem Demjanjuk-Prozess davon gesprochen, dass hier nicht nur ein Mann auf der Anklagebank sitzt, sondern ein ganzes Volk. Können Sie das so stehen lassen?

    Brendel: Das kann ich nicht beurteilen, inwieweit ein ganzes Volk auf der Anklagebank sitzt. Ich wüsste auch nicht, welches Volk das jetzt im Augenblick sein sollte.

    Reese: Damit ist ja gemeint, dass John Demjanjuk eher als Sündenbock auch für eine ganze Reihe von viel größeren Straftätern gelten soll.

    Brendel: Demjanjuk ist nach meiner Kenntnis in der unteren Reihe der Befehlsempfänger anzusiedeln und von daher glaube ich nicht, dass er repräsentativ für eine Vielzahl von NS-Tätern steht.

    Reese: Dennoch wird dieser Prozess sozusagen als einer der letzten großen Prozesse zur NS-Geschichte bezeichnet. Stimmt das so?

    Brendel: Das kann ich, zumindest was meine Arbeit in Dortmund angeht, eindeutig verneinen. Die Aufarbeitung von NS-Unrecht ist erst abgeschlossen, wenn theoretisch kein mutmaßlicher Täter mehr lebt. Davon kann aber 66 Jahre nach Kriegsende noch nicht gesprochen werden. Wir bei der Staatsanwaltschaft Dortmund haben aktuell noch 18 Verfahren gegen bekannte und unbekannte Täter, und noch einen Hinweis in diesem Zusammenhang: Mord verjährt ja nicht und solange wie gesagt noch ein Täter lebt, sind wir auch nach dem Gesetz gehalten, diesen zu verfolgen.

    Reese: Und wie kann man dann damit umgehen, dass eben nicht umfangreich alle Täter gefasst oder nachträglich bestraft werden können?

    Brendel: Das ist eine eher, ich glaube, moralische Frage. Ich persönlich kann natürlich für mich sagen, ich versuche, seit 16 Jahren, also seit 1995, diese Täter zu verfolgen, und ich muss einfach auch aufgrund meiner Tätigkeit akzeptieren, dass es nicht immer gelingt, jeden zu fassen, und erst recht nicht gelingt, gerade im Hinblick auf das hohe Alter der heutigen Beschuldigten, jeden anzuklagen und schließlich und endlich zu verurteilen.

    Reese: Der Verteidiger von John Demjanjuk hat jetzt heute noch angekündigt, auf jeden Fall in Revision gehen zu wollen. Wie ist da Ihre Beurteilung, wie sind da die Chancen vor dem BGH?

    Brendel: Die Chancen im Revisionsverfahren hängen im Wesentlichen von Verfahrensfehlern während eines Prozesses ab. Wie gesagt, da ich den Prozess Demjanjuk nur an zwei Verhandlungstagen verfolgt habe, kann ich natürlich relativ wenig dazu sagen. Darüber hinaus ist eine weitere Revisionsmöglichkeit, wenn das materielle Recht nicht ordnungsgemäß angewendet worden ist. Nach meinem Kenntnisstand hat ja der dortige Verteidiger Freispruch beantragt und dafür Gründe vorgetragen, und ich gehe auch mal davon aus, dass der Verteidiger diese Gründe auch im Revisionsverfahren anführen wird.

    Raith: Andreas Brendel, der Leiter der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Tätern in Nordrhein-Westfalen, im Gespräch mit meinem Kollegen Jonas Reese zum gestrigen Urteil gegen John Demjanjuk.