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Moskau
Urteil gegen die Schriftsteller Andrej Sinjawskij und Julij Daniel verkündet

Die beiden russischen Schriftsteller Andrej Sinjawskij und Julij Daniel hatten ohne Genehmigung der Sowjetbehörden unter Pseudonymen Texte im Westen veröffentlicht. Als der KGB ihre richtigen Namen herausfand, wurden beide verhaftet. Heute vor 50 Jahren wurden in Moskau die Urteile gegen sie verkündet.

Von Doris Liebermann | 14.02.2016
    Gebrauchte Bücher stehen in Kisten vor einem Antiquariat in Berlin
    Weil sie kritisch schrieben, wurden sie verhaftet: Andrej Sinjawkij und Julij Daniel. (dpa / picture-alliance / Wolfram Steinberg)
    "Es geschah am Nikita-Tor. Ich war auf dem Weg zu meiner Vorlesung im Studio des Künstlertheaters, hatte mich verspätet, wartete auf meinen Trolleybus und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, da hörte ich hinter meinem Rücken eine fragende und mir irgendwie bekannte Stimme: 'Andrej Donatowitsch?!'"
    In seinem autobiografischen Roman "Gute Nacht" schildert der russische Schriftsteller Andrej Sinjawskij seine Verhaftung durch den KGB. Zwei "stiernackige Männer" mit "martialischen Gesichtern", so schreibt er, packten ihn auf einer Moskauer Straße und stießen ihn so schnell und geschickt in einen Pkw, dass niemand die Verhaftung bemerkte. Es war der 8. September 1965. Sinjawskij, damals 40 Jahre alt, wurde verhört und nach "Abram Terz" befragt. Weil die Zensur den Druck seiner systemkritischen Werke verhinderte, hatte Sinjawskij unter diesem Pseudonym im Westen publiziert.
    "Anklageschrift [...]
    Hat heftigen Drang zur Literatur
    Braucht dringend eine strenge Kur!
    So groß ist seine Leidenschaft
    Daß man sie nicht durch Leiden schafft!
    Ein Typ, der so auf Freiheit pocht
    Wird prophylaktisch eingelocht"

    Ein Gedicht von Julij Daniel. Der Lyriker und Übersetzer, ebenfalls 40 Jahre alt, wurde am 12. September 1965 verhaftet. Er kam aus Nowosibirsk, wo er schon drei Tage lang verhört und zum Rückflug nach Moskau gezwungen worden war. Am Flughafen "Vnukovo" wartete der KGB auf ihn. Unter dem Pseudonym Nikolaj Arschak hatte Daniel seit 1962 Texte im Westen publiziert. Beiden Schriftstellern wurde vorgeworfen, die Sowjetunion verunglimpft zu haben. Schon 1957 hatte die Veröffentlichung von Boris Pasternaks Roman "Doktor Schiwago" in Italien heftige Angriffe gegen den Verfasser nach sich gezogen; der Prozess gegen Sinjawskij und Daniel war die zweite große Auseinandersetzung um nicht-genehmigte Publikationen sowjetischer Schriftsteller im Westen. Zu Recht befürchtete die Intelligentsja, der Prozess könnte der Beginn neuer Repressionen in stalinistischer Manier sein: Drei Tage nach Sinjawskis Verhaftung kam es im Umfeld von Alexander Solschenizyn zu Razzien des KGB.
    Beide Autoren weigerten sich, ein Schuldbekenntnis abzugeben
    Der Prozess gegen Sinjawskij und Daniel fand vom 10. bis 14. Februar 1966 beim Obersten Gericht in Moskau statt. Ein stickiger Saal, 150 Zuschauer. Beide Autoren weigerten sich, ein Schuldbekenntnis abzugeben: weder "im ganzen noch im einzelnen", wie es hieß. Sinjawskij schrieb später:
    "Das Oberste Gericht beeilte sich nicht sonderlich mit der Verkündung seines gestrengen Wortes. Die Pause wurde unproportioniert in die Länge gezogen, denn das Urteil lag selbstverständlich schon vor und bedurfte lediglich um des feierlichen Eindrucks willen einer Verzögerung, als würde es in einem spannungsvollen Zwischenspiel akribisch erarbeitet."

    Wegen "antisowjetischer Agitation und Propaganda" wurde Andrej Sinjawskij zu sieben, Julij Daniel zu fünf Jahren Lager verurteilt. Beide Autoren wurden öffentlich diffamiert, auch von namhaften Schriftstellern wie dem Literaturnobelpreisträger Michail Scholochow, dem die Strafen zu mild waren; gleichzeitig forderten andere sowjetische Künstler und Intellektuelle die Freilassung der beiden politischen Häftlinge. Zu den 62 Unterzeichnern eines Offenen Briefes an die obersten Sowjetbehörden zählten Wladimir Wojnowitsch, Bulat Okudschawa und Lew Kopelew. Die Welle der Solidarität, die der Prozess nach sich zog, wird als Beginn der Dissidentenbewegung in der Sowjetunion angesehen. Über seine Lagerhaft äußerte sich Andrej Sinjawskij später überraschend positiv und nahezu religiös verklärt:
    "Die Zeit im Lager ist die schönste Zeit meines Lebens. Es war die schwerste Zeit, aber im ästhetischen Sinne die glücklichste. Es gibt für den Schriftsteller nichts Wichtigeres, als die zu ihm gehörende Natur zu finden. Ich habe im Lager meine Natur gefunden. Das ist ein verblüffendes Gefühl."
    Auf Einladung der Sorbonne konnte Sinjawskij 1973 mit seiner Familie nach Paris ausreisen, wo er russische Literatur lehrte. Sinjawskij starb 1997 im Alter von 71 Jahren in Paris.
    Julij Daniel blieb nach der Lagerhaft in der Sowjetunion. Er starb 1988 in Moskau.