Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Moslembruderschaft ist "Mainstream der ägyptischen Gesellschaft"

Laut Ivesa Lübben wird sich Israel nach einem Sturz Mubaraks "auf einen härteren Verhandlungspartner einstellen" müssen. Die Moslembruderschaft fordere beispielsweise eine Volksabstimmung über das Camp-David-Abkommen und einen "atomfreien Nahen Osten".

Ivesa Lübben im Gespräch mit Silvia Engels | 02.02.2011
    Silvia Engels: Ist es in der unruhigen Lage in Ägypten überhaupt denkbar, dass Präsident Hosni Mubarak noch bis zum Ende seiner Amtszeit im Herbst im Amt bleiben kann, so wie er das gestern selbst angekündigt hat, oder muss er bis spätestens übermorgen zurücktreten, wie Oppositionsführer El Baradei das verlangt? Das ist die Hauptfrage, die heute die Demonstranten in Kairo bewegt. Die Opposition will offenbar den sofortigen Abgang, sie hat nach Agenturberichten nun zu weiteren Protesten aufgerufen. So oder so gilt seit gestern Abend: ein Ende der Ära Mubarak ist absehbar. Die Opposition im Land versucht, sich nun zu formieren, doch das Spektrum der verschiedenen Lager ist breit. Egal wie die Neuordnung in Ägypten aussieht, eine wichtige Rolle wird wohl die Muslim- oder Moslembruderschaft spielen. Ihnen wird bei freien Wahlen ein Anteil von 15 bis 20 Prozent zugetraut. Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Martin Schulz, ordnete die Gruppe heute früh im Deutschlandfunk so ein:

    O-Ton Martin Schulz: Die Hamas, die Moslembrüder, das sind ja keine Friedensorganisationen, sondern schon antiwestliche, auch religiös, teilweise fundamentalistisch gewaltbereite Organisationen. Die haben über eine lange Zeit auch das Bild der Gegnerschaft zu den dortigen, zugegebenermaßen diktatorischen, aber doch säkular orientierten Regierungen geprägt.

    Engels: Martin Schulz (SPD). – Und mitgehört hat Ivesa Lübben. Sie ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg. Sie forscht seit Jahren über die Strukturen der Moslembruderschaft. Guten Tag, Frau Lübben. – Teilen Sie die Einschätzung von Herrn Schulz über diese Gruppe?

    Ivesa Lübben: Nein, ich teile sie nicht. Ich glaube, dass oft Politiker über etwas reden, was sie überhaupt nicht kennen. Ich weiß auch nicht, ob Herr Schulz sich schon direkt mit Moslembrüdern getroffen hat, ob er mit ihnen gesprochen hat, ob er sie kennt, ob er die Jugendlichen innerhalb der Moslembrüder, ob er die Führungsriege persönlich kennt. Ich glaube, dass hier so ein Bild von islamistischen Organisationen vorherrscht, das davon ausgeht, dass das alles Langbärtige sind, die Beziehungen zu El Kaida haben. In Wirklichkeit ist dieses Spektrum islamischer Parteien genauso groß wie ein politisches Spektrum in Deutschland. Das geht von links, bürgerlich-liberal, bis zu extrem konservativ und gewaltbereit. Die Moslembruderschaft würde ich immer irgendwo einordnen in der bürgerlichen Mitte dieser islamischen Organisation.

    Engels: Zerfällt denn diese Gruppe der Moslembruderschaft auch sehr stark noch mal innerhalb in verschiedene Fraktionen? Sie selbst haben ja über Jahre in Ägypten gelebt und mit den verschiedensten unterstrukturierten Gruppen gesprochen.

    Lübben: Die Moslembruderschaft ist eine sehr große Organisation. Es gab Umfragen von Zeitungen während der letzten Wahlen, die ja von vorne bis hinten gefälscht worden waren, wo Bürger gefragt worden sind, welche Parteien sie wählen würden, und da lag der Anteil der Moslembruderschaft nicht bei 20, sondern bei 44 Prozent. Also man muss mit ihr rechnen. Aber sie ist einfach eine große Volksorganisation. Es gibt Jugendliche, die sehr liberal, sehr offen sind, es gibt konservativere Kräfte, es gibt verschiedene soziale Schichten, sie haben in den letzten Jahren auch sehr viel Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung gewonnen, es gibt konservative ältere Leute. Also es ist ähnlich, glaube ich, wie Volksparteien hier in Deutschland, die auch verschiedene Flügel haben und die interne Debatten führen.

    Engels: Bekanntlich ist es ja immer einfacher, Geschlossenheit in einer gesellschaftlichen Gruppe, wie Sie gerade die Moslembrüder beschreiben, zu zeigen, solange man in der Opposition ist. Wie sieht es denn aus, wenn eine Regierung der Moslembrüder in Ägypten ans Ruder käme? Welcher der Flügel würde sich denn Ihrer Einschätzung nach durchsetzen?

    Lübben: Ich glaube erst mal, dass es keine Regierung der Moslembruderschaft gibt. Die Moslembruderschaft hat in den letzten zehn Jahren bei Wahlen immer wieder die Parole ausgegeben, wir wollen uns beteiligen, aber wir wollen nichts beherrschen. Sie haben auch bei den letzten Wahlen nur für ein Drittel der Parlamentssitze Kandidaten aufgestellt, weil sie sagen, unser Land muss sich demokratisieren, es muss sich pluralisieren, anders sind Entwicklungsprozesse nicht möglich, nur demokratische und plurale Gesellschaften heute haben überhaupt eine Chance, zu bestehen in der internationalen Staatenordnung. Ich glaube, dass die Moslembrüder nicht mehr wollen, als sich zu beteiligen.

    Engels: Welches sind denn die inhaltlichen Hauptanliegen?

    Lübben: In dem letzten Wahlprogramm hatte die Moslembruderschaft ein Programm - sie stützen sich auf islamische Werte -, das sich um vier Hauptslogans drehte. Das eine war Freiheit, das Zweite war soziale Gerechtigkeit, das Dritte war Entwicklung und das Vierte Führung. Also einer der Punkte ist auch, dass man wieder ein Ägypten möchte, das eine regionale Rolle spielt, die Ägypten ja in den letzten Jahren immer mehr verloren hat an kleinere Staaten wie Katar oder auch an Konkurrenten wie die Türkei, die ja im Nahen Osten eine große Rolle inzwischen spielt.

    Engels: Nun ist Israel besonders in Sorge, weil zumindest Teile der Moslembruderschaft den Friedensvertrag mit Israel aufkündigen wollen. Wie stark sehen Sie die Bewegung in der Moslembruderschaft, dass das tatsächlich passieren könnte?

    Lübben: Man muss da ein bisschen ausdifferenzieren. Dieses Camp-David-Abkommen, das sozusagen von oben, von der Regierung beschlossen worden ist, ohne irgendwo Rücksicht zu nehmen auf eine Perspektive auch der Palästinenser, wird von den meisten Ägyptern abgelehnt, egal ob das nun liberale Kräfte sind, ob das säkulare Kräfte sind, ob das linke oder rechte Kräfte sind. Ich glaube, Israel wird sich auf einen härteren Verhandlungspartner einstellen können. Die Moslembruderschaft hat angekündigt, sie möchte oder fordert eine Volksabstimmung über das Camp-David-Abkommen. Andererseits hat sie aber auch gesagt, dass sie nicht ausscheren will aus dem Völkerrecht, was ja fordert, dass jede Regierung einmal geschlossene Verträge anerkennen wird. Auf was sich Israel sicher einstellen werden muss, unabhängig davon, welche Rolle die Moslembrüder in Zukunft spielen werden, ist einfach eine härtere Gangart, ist die Tatsache, dass man diskutieren will über einen atomfreien Nahen Osten. Das bedeutet auch, dass man diskutieren wird über das israelische Atomwaffenarsenal. Der zweite Punkt, der den Israelis Sorgen macht, ist, die Ägypter haben vor, ich weiß nicht, zwei, drei Jahren einen Vertrag geschlossen, wonach sie Erdgas zu einem Drittel des Weltmarktpreises nach Israel exportieren. Die Ägypter sagen, das ist eine indirekte Subventionierung Israels, das machen wir nicht mit. Also da werden sie sich auf neue Verhandlungen einstellen müssen und sie werden mit einem Ägypten rechnen müssen, das die Siedlungspolitik ablehnt, und das fordert von Israel, dass es wirklich Schritte unternimmt zu einer Errichtung des palästinensischen Staates. Und sie werden sicherlich auch die Gazapolitik überdenken.

    Engels: Frau Lübben, dann schauen wir noch mal auf die Lage innerhalb Ägyptens. Jetzt ist es ja so, dass auch Teile der Moslembruderschaft durchaus mit Blick auf den Islam Frauenrechte zum Teil beschneiden wollen. Das ist ein Teil. Ein anderer Teil ist säkularer geprägt. Kann das friedlich abgehen, oder besteht da möglicherweise, wenn der Druck des Mubarak-Regimes fort ist, in Ägypten auch die Gefahr von einer blutigen Eskalation?

    Lübben: Ich glaube nicht, dass die Moslembrüder unbedingt Frauenrechte beschneiden wollen. Was sie vielleicht haben: Sie haben ein konservatives Familienbild, aber das entspricht auch so ein bisschen dem Mainstream der ägyptischen Gesellschaft und vor allen Dingen des ägyptischen Mittelstandes. Im Gegenteil: Sie haben bei den letzten Wahlen erstmals sehr viele Frauen als Kandidaten aufgestellt. Sie sind für bessere Frauenbildung, sie sind für eine größere Beteiligung von Frauen in der Gesellschaft. Gut, vielleicht äußere Sachen, was Sexualmoral betrifft, was Freiheit, was weiß ich, von Filmen, die sich mit sexuellen Themen auseinandersetzen, betrifft - da werden sie konservativere Positionen haben, als wir sie hier kennen. Aber ich glaube nicht, dass sie sich da grundsätzlich abheben von dem Mainstream der ägyptischen Gesellschaft.

    Engels: Werfen wir noch kurz einen Blick auf die Gesamtlage. Was denken Sie? Wird es weitergehen in Ägypten mit Blick auf die Friedlichkeit, oder verliert die Armee die Geduld?

    Lübben: Ich glaube nicht, dass die Armee die Geduld verliert. Was mir ein bisschen Sorgen macht, dass das, was noch überbleibt von dem Regime, sich zunehmend auf kriminelle Elemente stützt. Das klingt ein bisschen abenteuerlich, aber ich habe das bei den Wahlen 2010 und auch 2005 immer wieder erlebt, dass Regierungskandidaten kriminelle Banden organisieren, die gegen die Opposition losgehen. Was ich befürchte, dass sie versuchen, solche Elemente aus diesen kriminellen Banden und aus der ehemaligen Polizei, dem Geheimdienstapparat engagieren, um sich in die Demonstranten reinzumischen, Demonstranten anzugreifen und die Armee anzugreifen, sodass es so aussieht, als würden die Demonstranten jetzt sich gegen die Armee stellen, weil die Armee bisher eine sehr positive Rolle gespielt hat und ja auch offiziell erklärt hat, dass sie sich hinter die Forderungen der Demonstranten stellt.

    Engels: Wir sprachen mit Ivesa Lübben. Sie ist Expertin für die Moslembruderschaft, Politikwissenschaftlerin an der Universität Marburg. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen.