Donnerstag, 28. März 2024

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Mozart-Arien
Die Freiheit zu verzieren

Juan Diego Flórez stand noch nie in einer Mozart-Partie auf der Bühne. Auf seinem Album "Mozart" widmet er sich dem Komponisten und nimmt sich viele Freiheiten in der Interpretation der Arien: mit heroischen Verzierungen bis zum hohen D.

Am Mikrofon: Jürgen Kesting | 24.12.2017
    Der peruanische Tenor Juan Diego Flórez
    Der peruanische Tenor Juan Diego Flórez (Gregor Hohenberg / Sony Classical)
    Die Qualität einer Komposition, so notierte der Pianist Friedrich Gulda, zeige sich unter anderem im Nicht-Ausschreiben des Unwesentlichen - etwa von Verzierungen, Arpeggien und Kadenzen. Wolfgang Amadeus Mozart hat, sei es in langsamen Konzertsätzen, sei es in den Dacapo-Teilen von Arien, die Ausschmückungen dem Geschmack und der Kunstfertigkeit seiner Interpreten überlassen. Eine Schlussfermate gab dem Sänger die Gelegenheit für eine Kadenz - etwa in der Arie des Alessandro in "Il Re Pastore": "Si spande al sole in faccia". Für sein erstes Recital mit dem Orchestra La Scintilla unter Riccardo Minasi hat Juan Diego Flórez diese wenig bekannte heroische Arie ausgewählt. Thema der Oper ist die Eroberung von Sidon durch Alexander den Großen. Die furiosen Koloraturen lässt Flórez einmünden in eine flammende Kadenz nach der Fermate auf dem Wort "terren".
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Si spande al sole in faccia" aus Il re pastore
    Auch bei Mozart ein Fußgänger der Lüfte
    Der Ambitus von Mozarts Tenor-Partien beträgt in der Regel nicht einmal zwei Oktaven mit dem eingestrichenen A am oberen Ende der Skala. Juan Diego Flórez hat im Kadenzdurchgang das hohe D erklommen. Solchen Ausflügen in die vokale Stratosphäre - typisch erst für die Opern von Rossini, Bellini und Verdi - verdankt der gebürtige Peruaner seinen Ruhm als Belcanto-Prinz und als Fußgänger der Lüfte. Dass deswegen seine stilistische Befähigung zum Mozart-Gesang in Frage gestellt wird, ist absurd. Gerade die Musik Mozarts verlangt die Schönheit des Tons, lückenloses Legato, dynamische Flexibilität und Agilität - also die essentiellen Qualitäten des Belcanto.
    Auch nach zwanzig Jahren auf der Bühne bringt Flórez für die Jünglingspartien Mozarts eine junge Stimme mit. Besonders bemerkenswert, wie sorgsam er das dynamische Spektrum erweitert hat. Die ersten Phrasen von Ottavios "Dalla sua pace" lassen sich klangschöner nicht singen - wobei mit schön das sinnliche Scheinen des Seelischen gemeint ist:
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Dalla sua pace" aus Don Giovanni
    Diese Seelenbewegung wird in der Reprise durch eine zarte Verzierung intensiviert:
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Dalla sua pace" aus Don Giovanni
    Es scheint vergessen, dass die Dynamik im belcantischen Gesang ein Mittel des Verzierens und des Kolorierens ist. Sie erlaubt es, Reprisen - ob einzelner Phrasen oder von Arien-Teilen - in ein klangliches Chiaroscuro, also ein Hell-Dunkel, zu tauchen wie etwa in der Arie der Ferrando aus "Così fan tutte".
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Un'aura amorosa" aus Così fan tutte
    Ein Meister des Verzierens
    Für die Arie des Ferrando findet Juan Diego Flórez den passend sanften und zärtlichen Amoroso-Ton. Was die vokale Ornamentik betrifft, so will Flórez offenbar beweisen, dass Mozart, wie der Dirigent Sir Charles Mackerras sagte, ein "supreme decorator" war. So zum Beispiel in "Il mio tesoro", der zweiten Arie des Ottavio aus "Don Giovanni". Sie hören zunächst die Überleitung mit ihren endlosen Sechzehntel-Koloraturen - 23 Sekunden auf einem einzigen Atem - und dann den in jeder Phrase ausgezierten Dacapo-Teil. Das lang gehaltenen F auf dem Wort "cercate" nutzt Flórez für eine prachtvolle messa di voce – das für den Belcanto typische Anschwellen des Tons. Die Kadenz krönt er mit einem hohen C.
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Il mio tesoro" aus Don Giovanni
    In der Reprise von Don Ottavios "Il mio tesoro" ist Flórez mit seinen Auszierungen weiter gegangen als jeder - noch einmal: als jeder andere Mozart-Sänger in der Geschichte der Schallplatte. Leider ist über diese kardinalen stilistischen Fragen im Beiheft - einer bloßen Reklame-Hymne auf den Star Flórez – nichts zu erfahren, auch nichts darüber, wie Flórez seine kühnen Verzierungen gefunden - oder ob er sie selber erfunden - hat. Er wird lediglich mit dem Satz zitiert:
    "Seine Musik hat nicht so viel Feuerwerk, nicht so viele hohe Noten, nicht so viele Koloraturen, seine Musik betört eher durch schlichte Linien. [...] Als Tenor möchte man aber die Stimme in der Höhe strahlen lassen – das geht hier nicht. Das ist die Herausforderung für die Sänger: die Stimme zu zähmen, sie auf die Töne der Mittellage zu beschränken."
    All dies steht allerdings in einem krassen Widerspruch zu seinem Singen, ganz besonders in Idomeneos Arie "Fuor del mar". Es ist ein dramatisch-erregtes Seelenbild in Form einer Gleichnis-Arie. In der Seele des dem Meer entronnenen kretischen Königs tobt ein noch wilderes Meer: die Verzweiflung darüber, dass er dem Gott Neptun für den Fall seiner Rettung zugeschworen hat, den ersten Menschen, auf den er an Land trifft, zu opfern. Es ist sein Sohn Idamante. Die Arie hat Mozart für den als Tenor-Virtuosen berühmten Anton Raaff geschrieben. Nur war der aus der Schule des Kastraten Antonio Bernachi hervorgegangene Sänger zu alt geworden, als dass seine Stimme noch ein Koloratur-Feuerwerk hätte entfachen können.
    Vokaler Heroismus
    Mozart schrieb, notgedrungen, eine zweite Fassung, diesmal ohne Koloraturen. Flórez singt das stürmische Allegro maestoso - anders etwa als Nicolai Gedda, Plácido Domingo oder Luciano Pavarotti - in der ersten Fassung, den ersten Teil come scritto. Im Ritornell moduliert die Musik bei der Anrede an Neptun - "Fiero nume" - von A-Dur nach F-Dur. Den meditativen Charakter dieses Abschnitts verstärkt Flórez dadurch, dass er in der Phrase "qual rio destino" eine Fermate wieder für eine sanft geformte belcantische Auszierung nutzt, ebenso die Fermate auf "naufragar". In der Reprise verändert er wieder die melodischen Verläufe, steuert so oft wie nur möglich Zielnoten in der hohen Lage an und beendet die Arie erneut mit einer überbordend virtuosen Kadenz - er entzündet ein Feuerwerk. Das wird durch die kritische Mozart-Ausgabe legitimiert. Der Herausgeber Daniel Heartz schreibt: "Man sollte sich vergegenwärtigen, dass das Publikum, für das Mozart schrieb, heroische Attitüde gleichsetzte mit vokalem Heroismus und dass Virtuosität immer noch die Assoziation zu "virtù" nahelegt."
    Flórez lässt es sich nicht nehmen, solchen Heroismus auch mit einem hohen D zu bekräftigen.
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Fuor del mar" aus Idomeneo
    Das war die Reprise von Idomeneos Arie "Fuor del mar" mit Juan Diego Flórez. Begleitet wird der Tenor vom Orchestra La Scintilla unter der Leitung von Riccardo Minasi. Der Dirigent und das Orchester sorgen für viel Feuer und energische Attacken; was aber das Filigran im Wechselspiel von Solostimme und Holzbläsern angeht, so wären einige zusätzliche Proben sicher hilfreich gewesen.
    Juan Diego Flórez hat sich in der Rolle des "supreme decorator" von Mozarts Musik weit vorgewagt. Er reizt die Freiheiten aus – bis hin zu Freizügigkeiten. Viele mögen der Ansicht sein, dass er sich dabei zu weit gegangen ist, oder dass sein Recital dem guten Mozart-Geschmack womöglich nicht gerecht würde. Jedenfalls legt die von Sony veröffentlichte Aufnahme von Flórez die Frage nahe, ob dies nicht auch ein anerzogener Geschmack gewesen sein könnte?
    Mozart
    Ausgewählte Opernarien von Wolfgang Amadeus Mozart
    Juan Diego Flórez, Tenor
    Orchestra La Scintilla
    Riccardo Minasi, Leitung
    Sony (LC 06868)
    88985430862