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Mützenich (SPD) zur Coronakrise
"Der Staat muss wieder viel stärker ein Gesicht entwickeln"

Dass es künftig wieder mehr staatliches Handeln geben müsse, könne eine Erfahrung aus der Corona-Epidemie sein, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich im Dlf. Diskussionen darüber, wann die derzeitigen Beschränkungen aufgehoben werden könnten, halte er für verfrüht.

Rolf Mützenich im Gespräch mit Frank Capellan | 29.03.2020
Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, bei einem Interviewtermin im Bundestag
Rolf Mützenich - Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion (dpa / Christoph Soeder)
"Ich würde zur Zeit gar nicht über Exitstrategien sprechen", sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich im Dlf. Dass man sich diesen Fragen nach Ostern stellen müsse, wisse aber auch jeder. Man müsse erstmal sehen, ob das wirkt, was beschlossen wurde, ob Kontaktbeschränkung wirken. Dann werde man mit Experten darüber beraten, was verantwortbar sei, um zu Lockerung zu kommen.
Skeptisch zeigt sich der SPD-Politiker mit Blick auf Forderungen, nach einer Lockerung der Sperren ein umfangreiches Daten-Tracking zu ermöglichen: "Ich will mich überhaupt nicht verweigern, die Erfahrungen, die in asiatischen Ländern gemacht worden sind, zu bedenken." Aber man dürfe nicht das, "was wir in einer freien Gesellschaft entwickelt haben, mir nichts dir nichts beiseitelegen." Mützenich plädierte für Freiwilligkeit bei der Weitergabe von Bewegungsprofilen Corona-Infizierter. Aufgrund der Verunsicherung dürften seiner Ansicht nach viele Menschen bereit sein, solchen Maßnahmen zuzustimmen.
Keine Hilfen über Coronabonds
Hilfen für Italien oder Spanien durch sogenannte Coronabonds lehnte Mützenich ab. Es gebe Alternativen innerhalb des nach der Finanzkrise geschaffenen ESM, um da zu einer Vergemeinschaftung der Belastungen für diese Länder zu kommen.
Dass es künftigt vielleicht wieder weniger Markt und mehr Staat geben werde, könne eine Erfahrung aus dieser besonderen Situation sein, sagte Mützenich. Ein Großteil der Bevölkerung scheine den Umfragen zufolge den staatlichen Entscheidungen zu folgen und sie für legitim zu erachten. Daraus müsse man Konsequenzen ziehen. "Wir werden nicht die komplette Globalisierung zurückdrehen können", aber man habe etwa bei Arzneimitteln oder den Lieferketten gesehen habe, dass das letztlich nicht im Sinne einer Gesellschaft sei. Es könne deshalb eine der Lehren für die Zukunft sein, dass es zu Veränderungen kommen werde, was die Lieferketten oder die Vorratsbewirtschaftung angehe.

Das Interview in voller Länge:
Frank Capellan: Rolf Mützenich, normalerweise würden wir uns bei diesem Interview der Woche gegenübersitzen, aber angesichts der Corona-Lage haben auch wir uns entschieden, auf eine längere Reise zu verzichten. So werden wir das Gespräch über Leitung führen. Herzliche Grüße von Berlin nach Köln.

Rolf Mützenich: Ja, guten Tag Herr Capellan. Vielen Dank für die Einladung.
"Ich hatte doch manchmal schon die Frage an mich selbst, ob ich das alles überblicken kann"
Capellan: Herr Mützenich, ich habe mich in den vergangenen Tagen oft gefragt, wann mir persönlich zum ersten Mal bewusst geworden ist, was da auf uns zukommen könnte. Und das war – so habe ich das nachvollzogen – in einer dieser Pressekonferenzen des Robert-Koch-Institutes, als doch relativ plötzlich ein anderer Ton angeschlagen wurde, als da die Rede davon war, dass sich vermutlich bis zu 70 Prozent der Deutschen mit Corona infizieren würden. Und da haben wir dann begonnen, in der Redaktion zu rechnen, was das etwa bei einer Sterblichkeitsrate von einem Prozent bedeuten würde. Und da ist uns irgendwie die Dimension der Lage klar geworden. Wie war das bei Ihnen? Wann wurde Ihnen deutlich, das wird eine sehr, sehr ernste Krise?

Mützenich: Das habe ich auch versucht, Herr Capellan, mir nochmal in Erinnerung zu rufen, wo im Grunde genommen dann auch der auslösende Tag gewesen ist. Ich glaube, für mich selbst waren das die Vorbereitung zum Koalitionsausschuss, Anfang Februar, gewesen. Wo wir auch wussten, dass der Gesundheitsminister vortragen wird im Hinblick auf die Situation in den Krankhäusern, aber möglicherweise auch die Erfahrungen, die in Asien gemacht worden sind. Von daher, glaube ich, lag es zu diesem Zeitraum. Und einige Tage später war ich kurz in Japan gewesen, wo mir nochmal vor Augen geführt wurde, wo dann doch Quarantäne erforderlich gewesen ist. Die Stewardessen hatten sich besonders geschützt durch Mundmasken und in Japan selbst habe ich Gespräche im Außenministerium geführte über die Deutschen, die damals auf einem Kreuzfahrtschiff vor Tokio waren und dort aus der Quarantäne dann nach 14 tagen herauskommen sollten. Ich glaube, das war der Moment damals.

Capellan: Nun haben Sie, Bundestag und auch der Bundesrat, in der vergangenen Woche das größte Hilfspaket aller Zeiten im Eilverfahren durchgebracht, unter erschwerten Bedingungen, wegen das Abstandsgebotes. Haben Sie persönlich sich unwohl dabei gefühlt? Denn man muss ja sagen, als SPD-Fraktionschef und Teil eben dieser Regierungskoalition tragen Sie große Verantwortung für doch sehr, sehr weitreichende Entscheidungen.

Mützenich: Ja, das stimmt. Manchmal, wenn ich dann spät abends alleine in der Berliner Wohnung war, hatte ich dann doch manchmal schon die Frage an mich selbst, ob ich das alles überblicken kann. Aber auf der anderen Seite hatte ich auch gute Begleitung. Aber dass natürlich diese Situation eine Ausnahmesituation – und das sage ich auch ganz persönlich – auch für mich eben gewesen ist, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Und ich hoffe, dass wenn ich Gelegenheit habe, in ein paar Monaten nochmal darauf zurück zu blicken, ich mir hoffentlich sagen kann, man hat verantwortungsvoll gehandelt.
Viel Solidarität unter Gewerbetreibenden
Capellan: Haben Sie bereits Rückmeldungen, etwa aus Ihrem Kölner Wahlkreis, ob etwa das Geld bei den vielen Kleinunternehmern, Selbstständigen ankommt? Der Bundeswirtschaftsminister, Peter Altmaier, hatte ja gesagt, noch in der laufenden Woche sollten erste Zahlungen fließen, spätestens jetzt, in der kommenden Woche. Das ist ja oft bürokratisch und sehr schwer zu machen.

Mützenich: Das ist richtig. Ich glaube, es ist auch komplett ohne Bürokratie nicht möglich. Wir sollen ja am Ende auch letztlich schauen, ob diese Hilfen auch richtig geflossen sind. Dafür sind natürlich auch bestimmte Angaben auch notwendig. Jedes Bundesland organisiert es anders. Hier in Nordrhein-Westfalen sind es die Bezirksregierungen, auf der anderen Seite ist die Handwerkskammer in Köln sehr aktiv. Und natürlich bekommt man Rückmeldung, dass einige eben der Selbstständigen, die zumindest von den Bundesprogrammen profitieren, dies nur noch einige Tage letztlich schaffen. Sie berichten aber auf der anderen Seite auch durchaus von Verständnis, auch bei Ihren Hausbanken. Es gibt aber auch durchaus Freunde, wo mir berichtet worden ist, wo auch Solidarität unter den Gewerbetreibenden besteht.

Capellan: Wo müsste man nachbessern, nachschärfen? Lässt sich das schon absehen? Es wurde zum Teil gesagt, die mittelständischen Betriebe würden zu wenig Unterstützung erhalten, man kümmere sich nur um die ganz Kleinen und die ganz Großen.

Mützenich: Es trifft zumindest für das, was wir im Bund beschlossen haben zu. Die Länder haben ja eigene Programme aufgelegt. Und unser Interesse und das auch der Verabredungen bei der Entwicklung der verschiedenen Hilfspakete ist gewesen, dass man sich jetzt eben dann von Seiten der Länder auch nochmal genau auf diese Gruppen, die Sie angesprochen haben, konzentriert. Und genau hier muss dann auch aus meiner Sicht die Nacharbeit unbedingt stattfinden.
Kritik an Adidas, Deichmann und H&M
Capellan: Also, da kommt noch was?

Mützenich: Ich bin mir relativ sicher, dass nicht nur eine Nachschärfung und eine Nachjustierung notwendig ist, sondern ich glaube, wenn diese Programme des Bundes und auch der Länder greifen und sich möglicherweise auch nicht richtig ergänzen, dann müssen wir hier nacharbeiten. Aber das betrifft auch letztlich die anderen Gruppen, die ja auch von den verschiedenen Programmen profitieren sollen.

Capellan: Nun gehört zu diesem Paket auch ein Mietenmoratorium: Niemanden darf gekündigt werden, wenn er die Miete nicht zahlt. Jetzt wurde bekannt, am Wochenende, dass Adidas, Deichmann, H&M und an andere Ketten die Mietzahlungen für ihre Ladenlokale einstellen wollen. Also Ketten, die durchaus liquide sind. Das war doch eigentlich nicht im Sinne des Erfinders, oder?

Mützenich: Nein, überhaupt nicht. Und deswegen hat die Bundesjustizministerin auch zu Recht nicht nur verärgert, sondern sehr scharf reagiert. Das, was wir auch in durchaus mühevollen Arbeiten in der vorvergangenen Woche begonnen haben mit der Union, die ja nicht direkt überzeugt gewesen ist von der Tatsache, dass wir private Mieterinnen und Mieter, die eben aufgrund der besonderen Situation durch das Coronavirus möglicherweise in Zahlungsschwierigkeiten geraten, schützen wollen. Das war ja der Sinn der Sache gewesen und nicht letztlich Unternehmen, die auf der einen Seite liquide sind oder die auf der anderen Seite schon seit Monaten größte Probleme mit ihrem Geschäftsmodell haben. Und deswegen unterstütze ich das, was die Bundesjustizministerin auch gesagt hat.

Capellan: Ja, das ist zunächst ein Appell. Welche Möglichkeiten haben Sie, auch rechtlich dagegen vorzugehen? Was schwebt Ihnen vor?

Mützenich: Na ja, insbesondere, dass wir jetzt genau darauf schauen, dass das mit der Veränderung dieses Gesetzespaketes eben nicht auf diese Unternehmen zutrifft. Und da bin ich mir relativ sicher.
Zu früh, um über Exit-Strategien zu sprechen
Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden, Rolf Mützenich. Herr Mützenich, wir haben in den vergangenen Tagen, obwohl wir diese Ausgangsbeschränkungen erst seit fünf, sechs Tagen haben, haben wir erlebt, dass es eine Debatte über den Exit aus dem diesem Stillstand gegeben hat. Die Kanzlerin hat nun gesagt, das sei viel zu früh, um über diesen Ausstieg zu reden. Ihr Kanzleramtschef, Helge Braun, hat allerdings die Linie bereits vorgegeben, erst würden die Jungen wieder rauskommen dürfen, und er hat damit sicherlich auch Erwartungen geweckt. Läuft diese Kommunikation wirklich gut?

Mützenich: Man muss sich zumindest fragen, ob es hier eine enge Abstimmung mit dem Kanzlerminister und der Bundeskanzlerin gegeben hat. Ich neige dem zu, was die Bundeskanzlerin gesagt hat, dass es nicht nur verfrüht ist, sondern dass wir in wenigen Tagen überhaupt uns ein erstes Bild darüber machen, ob diese Maßnahmen doch jetzt stärker greifen. Dass es auf der anderen Seite Ungeduld gibt, das verstehe ich schon.

Capellan: Also ist es schon richtig – Pardon, wenn ich unterbreche –, Ihrer Ansicht nach schon richtig, dass man jetzt über Ausstiegsszenarien spricht?

Mützenich: Ich würde es für falsch halten, dass man darauf jetzt den Fokus lenkt, sondern man muss genau eben auch mit den Expertinnen und Experten jeden Tag weiter erörtern, ob das jetzt reicht, ob die Kurve letztlich abgeflacht werden kann. Und deswegen würde ich gar nicht über Exit-Strategien zurzeit öffentlich sprechen. Dass wir uns diesen Fragen nach Ostern stellen müssen, weiß aber auch jeder.
"Es ist verdammt ernst"
Capellan: Über Exit-Strategien wird allerdings auch in vertraulichen Papieren gesprochen, die öffentlich geworden sind – eine Studie des Bundesinnenministeriums. Da ist von einem Worst Case die Rede. Da wird davon gesprochen, dass 80 Prozent der Intensivpatienten möglicherweise an den Krankenhäusern, also potenziellen Intensivpatienten, abgewiesen werden müssten, dass die Todeszahl über einer Million Menschen liegen könnte. Ist das Panikmache oder muss das sein, um der Bevölkerung klar zu machen, es ist wirklich verdammt ernst?

Mützenich: Es ist verdammt ernst. Es ist auch keine Panikmache. Sondern es ist – wie Sie das beschrieben haben – der Worst Case. Es gibt ja auch einen Best Case, letztlich, in diesen Papieren. Und dazu dienen letztlich auch die Planungsgruppen, wo wir uns auf verschiedene Herausforderungen auch werden einstellen müssen. Ich sehe zurzeit, dass jeden Tag in den Krankenhäusern versucht wird, die Zahl der Intensivbetten und letztlich auch der Beatmungen hochzufahren, dass Operationen, wo es verantwortbar ist, auch zurückgestellt werden können. Und ich glaube, dass wir etwa in einer Woche sagen können, ob das im Krankenhausbereich richtig gelingt.

Capellan: Dann lassen Sie uns über dieses beste Szenario reden. Das besagt, die Kurve flacht sich ab und Stück für Stück kann das öffentliche Leben nach Ostern wieder hochgefahren werden, zunächst in den Schulen und in den Kitas, die sollen wieder in Betrieb genommen werden, damit kein Elternteil mehr wegen Kinderbetreuung zu Hause bleiben muss. Ist das realistisch? Ist das auch Ihr Szenario, dass wir nach Ostern allmählich zu dieser Normalisierung kommen könnten?

Mützenich: Ich habe erstmal kein Szenario, was in drei Wochen ist, sondern ich glaube, wir müssen uns zurzeit darauf konzentrieren, ob das, was wir im Bundestag beschlossen haben wirkt, ob auf der anderen Seite eben auch die Kontaktbeschränkungen wirken, ob das letztlich Auswirkungen auch auf die Belastungen im Krankenhauswesen, aber auch im Gesundheitswesen insgesamt hat. Und dann müssen wir uns mit den Expertinnen und Experten zusammensetzen, was möglicherweise auch verantwortbar ist, um an der ein oder anderen Stelle auch zu Lockerungen zu kommen. Aber ich finde diese Diskussion zu verfrüht.
Maßnahmen müssen in Rechtsrahmen passen
Capellan: Nun sagen die Experten aber auch – viele zumindest –, wenn wir das machen, wenn wir wieder zum öffentlich, zum relativ normalen Leben zurückkehren wollen, dann kann das nur gelingen, wenn wir den Kontakt zu Infizierten unterbinden und kontrollieren, wir müssen Bewegungsdaten über das Handy ermitteln, wir müssen auch etwa über Kreditkarteninformationen verfügen – das große Vorbild ist da Südkorea. Der Gesundheitsminister wollte ja dieses Tracking per Gesetz auch zunächst ermöglichen, und Ihre Justizministerin von der SPD, Christine Lambrecht, hat das verhindert. Warum?

Mützenich: Na, weil es einfach zu umfassend und unterschiedslos gewesen ist. Wenn ich es richtig verstehe, was in Südkorea oder in Taiwan passiert, ist das nicht sozusagen etwas, was komplett angewandt wird, sondern es wird insbesondere auf die bezogen, wo man weiß, dass sie infiziert sind. Deswegen wird ja dort auch massiv getestet. Und dann gibt es dann auch möglicherweise Rückschlüsse, die dann auch von der Verwaltung aus dort geführt werden, um diese Menschen, die mit anderen in Kontakt gewesen sind, in Quarantäne zu halten. Daraus sollten wir lernen. Man muss auch nicht alles letztlich direkt ausschließen. Aber es muss auch verantwortbar sein und es muss auch letztlich in unseren Rechtsrahmen passen.

Capellan: Das heißt also, die SPD würde bei einem Datentracking, das ja immer noch in der Diskussion ist, die SPD würde da nicht mitmachen?

Mützenich: Nein, wir würden uns auf jeden Fall damit beschäftigen. Wir würden auch schauen, was Expertinnen und Experten eben aus dem Gesundheitswesen dazu sagen. Wir müssen aber auf der anderen Seite natürlich auch mit erwägen, was der Datenschutzbeauftragte sagt und noch einmal, ob es letztlich auch in unsere Rechtserfahrung unserer Gesellschaft hineinpasst. Ich will mich überhaupt nicht verweigern, die Erfahrungen, die in asiatischen Ländern gemacht worden sind, auch hier mit in Deutschland zu bedenken, aber das muss dann auch ein gangbarer Weg sein.
Capellan: Warum ist der Datenschutz gerade in Deutschland, gerade in diesen Zeiten immer noch so heilig? Denn wir wissen doch, die meisten Menschen geben freiwillig ihre Daten in großem Umfang frei und wer es partout nicht will, dass jetzt Bewegungsprofile erstellt werden in dieser Extremsituation, der könnte ja immer noch sein Handy zu Hause lassen.

Mützenich: Nein, das ist richtig. Ich finde aber auch, auf der anderen Seite, man darf nicht das, was wir auch in einer freien Gesellschaft entwickelt haben, mir nichts, dir nichts einfach zur Seite legen, sondern man muss das schon mit bedenken. Es gibt ganz unterschiedliche Einschätzungen dazu, aber natürlich stehen insbesondere die medizinischen und gesundheitspolitischen Erfordernisse auch in dieser besonderen Situation im Vordergrund und deswegen sage ich ja auch, wir verweigern uns gar nicht dieser Frage, aber die andere Seite der unterschiedslosen Erfassung, das müssen wir uns genau anschauen und nach meinen Kenntnissen findet das auch so nicht einfach in Südkorea und in Taiwan statt.
Testkapazitäten müssen erhöht werden
Capellan: Der Datenschutzbeauftragte, den Sie angesprochen haben, ein Sozialdemokrat, sagt, das geht, aber es geht nur freiwillig, richtig?

Mützenich: Er sagt, dass es gehen würde, dass es auch freiwillig geht und das nimmt ja noch einmal Ihre Frage auf, dass es viele Menschen gibt, die wahrscheinlich auch aufgrund der Verunsicherung auch bereit wären, zu diesen Maßnahmen zu kommen und deswegen werden wir uns auch in den nächsten Tagen in Fachgesprächen damit beschäftigen.

Capellan: Sie haben die Tests angesprochen. Da wird nun gefordert, wir müssen testen, testen, testen, gerade dann, wenn wir die Ausgangsbeschränkungen lockern. Sind solche Tests Ihrer Ansicht nach möglich, 100.000 am Tag, auch festzustellen, wer bereits Antikörper entwickelt hat, also immunisiert ist?

Mützenich: Das stimmt und ich glaube, das ist eine der größten Herausforderungen, denen wir jetzt in den kommenden Tagen und Wochen gegenüberstehen, dass die Kapazitäten erhöht werden, aber ich glaube, dass gerade die Voraussetzungen, wenn wir auch die Mittel dafür haben, dass ein umfangreiches Testen und letztlich auch schauen, wer ist möglicherweise immunisiert, einer der Wege ist für die nächsten Wochen.

Capellan: Die andere Seite ist die, wie schnell wir unser Gesundheitssystem fit machen können für diese Infektionswelle, die auf uns zu rast. Der amerikanische Präsident Donald Trump hat nun Autobauer angewiesen, Beatmungsgeräte herzustellen. Wäre das auch ein Modell für Deutschland?

Mützenich: Ich bin mir unsicher, ob das, was der amerikanische Präsident in den letzten Tagen gesagt hat, wirklich für uns dazu beitragen kann, unsere Erfahrungen auf eine positive Art letztlich zu gestalten. Ich bin sehr froh, auch in Gesprächen, die ich mit den Verbandsvertretern auch der Automobilindustrie in den vergangenen Tagen hatte, dass nicht nur einzelne Automobilbereiche bestimmte Dinge auch spenden, auch bereit sind, herzustellen, auch die Lieferketten, von denen sie viel mehr Erfahrungen haben als der Staat, insbesondere mit China oder mit anderen asiatischen Ländern, dazu nutzen können, diese Tatsachen auch zu nutzen. Der amerikanische Präsident reagiert ja offensichtlich sehr stark auch hier nach Erfahrungen, die er als Krieg bezeichnet.
"Persönlich lache ich überhaupt nicht mehr über den amerikanischen Präsidenten"
Capellan: Allerdings hat Ihre Gesundheitsexpertin, Expertin der SPD, Bärbel Bas, heute gesagt, ja, wir müssen Anreize schaffen für Automobilhersteller beispielsweise, die Produktion schnell umzustellen, etwa eben auch auf Beatmungsgeräte. Was kann man da tun?

Mützenich: Nun, das ist richtig, wenn gerade dieser Zweig eine Erfahrung hat, letztlich über Maschinenbauteile auch da zu erreichen oder auch nur bei dem Zurverfügungstellen von Ersatzteilen, ist das ein wichtiger Bereich. Ich glaube, wir müssen uns, und das werden auch die Lehren in der Zukunft daraus sein, ob das, was die Lieferketten oder die Vorratsbewirtschaftung betrifft, hier nicht auch zu Veränderungen kommt. Wenn ich es richtig gesehen habe, ist ja Italien auch von Deutschland aus mit Ersatzteilen beliefert worden für Beatmungsgeräte und genau das ist dann auch der Weg, dass sozusagen wie im Bereich der Automobilindustrie oder auch insgesamt der Maschinenbauer wir hier in den nächsten Tagen auch noch zusätzliche Umstellungsmöglichkeiten haben.

Capellan: Rolf Mützenich, SPD-Fraktionschef, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Lassen Sie uns zum Ende dieses Interviews den Blick nach Europa noch richten. Wir haben alle gelacht und uns vor allen Dingen auch geärgert, als Donald Trump, der amerikanische Präsident, die Grenzen dicht machte für Europäer. Dann aber haben wir, wir Deutschen, Europa, es selbst gemacht. Ist das die Zeit der nationalen Egoismen?

Mützenich: Persönlich lache ich überhaupt nicht mehr über den amerikanischen Präsidenten. Ich nehme alles das, was er wirklich macht, sehr ernst und ich glaube, die Empörung, die damals aus dieser eben unabgestimmten Entscheidung, die der amerikanische Präsident innerhalb von wenigen Minuten getroffen hat, dass das ein Ärgernis unter Partnern gewesen ist. Ich glaube das ist für jeden letztlich nachvollziehbar, insbesondere dann, wenn er andere für die Situation in den USA verantwortlich macht und genau das ist ja auch die Trennlinie, ob diejenigen, die auftreten, sagen, alles sind nur die anderen schuld oder eben, dass man die Schuldfrage zur Seite legt und einfach anpackt.
Keine Hilfen über Coronabonds
Capellan: Die andere Frage ist, wie man gemeinsam handelt mit Blick auf wirtschaftliche Unterstützung, wirtschaftliche Hilfe, insbesondere für Italien, für Spanien, die ja ganz besonders unter der Epidemie zu leiden haben. Wie kann man das tun? Da macht sich schon die Wut der Italiener breit, dass auch Deutschland sich auch vehement wehrt gegen sogenannte Corona-Bonds. Da steht die alte Frage wieder im Raum, ob es eine Vergemeinschaftung der Schulden geben darf. Sehen Sie da eine Alternative zu diesen Corona-Bonds?

Mützenich: Ich glaube, es gibt eine Alternative innerhalb des ESM, also des Schutzschirms, der aufgebaut worden ist aus den Erfahrungen, aus der Finanzsituation der Europäischen Union, nicht nur, weil es dort möglich ist, über Darlehen und letztlich eben auch eine gewissen Vergemeinschaftung unter diesem Instrumentarium zu entwickeln.

Capellan: Aber dann müssten doch die Schulden, Darlehen, die da aufgenommen werden, das müsste jeder Staat wieder selbst zurückzahlen oder sehe ich das falsch?

Mützenich: Nein, das ist richtig, aber die Frage der Bonität eben am Markt ist natürlich, wenn man gemeinsam auftritt, eine ganz andere, als wenn man alleine als Land auftritt, insbesondere zum Beispiel haben Sie jetzt den Fall Italien gesagt. Ich glaube, dass die Europäische Investitionsbank hier ein wichtiges Instrument zur Verfügung hat, auch gemeinschaftlich letztlich innerhalb der Europäischen Union zu handeln und es ist richtig, dass die Kommissionspräsidentin jetzt auch sagt, weil wir haben ja den Haushalt noch gar nicht beschlossen, dass aufgrund der Situation mit Corona wir hier zu ganz anderen haushaltspolitischen Fragen kommen müssen, insbesondere auch, was das Zurverfügungstellen unmittelbar von Finanzmitteln für diese Länder auch bedeutet und da, finde ich, würden wir als Sozialdemokraten sagen ja, nicht nur sagen, sondern auch letztlich umsetzen.

Capellan: Also, Sie bleiben bei Ihrer Ablehnung von Corona-Bonds. Gestern hat beispielsweise der Chef des arbeitgebernahem Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, bei uns im Deutschlandfunk gesagt, in dieser Situation müssen wir die Schulden vergemeinschaften. Spanien und Italien können doch gar nichts dafür, dass sie in diese Lage gekommen sind, aber Sie bleiben trotzdem bei dem Nein zu Corona-Bonds?

Mützenich: Es geht um dieses einzelne Instrumentarium. Natürlich bin ich der Meinung und deswegen habe ich das ja auch gesagt, dass wir innerhalb des ESM auch die Möglichkeit haben zu einer Vergemeinschaftung, auch in dieser Frage zu kommen, dass wir eben auch Möglichkeiten schaffen, über die Europäische Investitionsbank hier zu einer viel stärkeren Hilfe als auf dem Finanzmarkt auch zu schreiten und deswegen bin ich eben auch dafür, dass die Bundesregierung, und insbesondere Olaf Scholz in der Eurogruppe, diese Möglichkeit, die der ESM bildet, auch mit unterstützt.
"Der Staat muss hier viel stärker wieder ein Gewicht entwickeln"
Capellan: Herr Mützenich, wie weit wird diese Pandemie unsere Gesellschaft verändern? Werden wir mehr Akzeptanz von Staatlichkeit, also weniger Markt und mehr Staat erleben, erleben müssen?

Mützenich: Das mag eine der Erfahrungen aus dieser besonderen Situation sein, das Zutrauen. Wenn man eben auch letztlich den Meinungsumfragen, die natürlich auch in einer ganz besonderen Situation gemacht werden, glaubt, scheint ja auch ein Großteil der Bevölkerung den staatlichen Entscheidungen zu folgen und sie auch für legitim zu erachten. Daraus muss man auch die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Das hat ja auch die Debatte in der vergangenen Woche im Bundestag ein wenig auch angedeutet. Ja, der Staat muss hier viel stärker auch letztlich wieder ein Gewicht entwickeln. Wir werden nicht die komplette Globalisierung zurückdrehen können, aber zum Beispiel das, was wir erlebt haben, was im Arzneimittelbereich der Fall ist oder eben in den anderen Fragen von Lieferketten, dass das eben letztlich nicht im Sinne auch einer Gesellschaft, die hochverletzlich auch ist, geht. Ich glaube, das wird eine der Konsequenzen sein.

Capellan: Herr Mützenich, allerletzte Frage. Die Ausgangssperren, die Ausgangsbeschränkungen, wie kommen Sie persönlich damit klar, wie hat sich Ihr Leben in der vergangenen Woche verändert?

Mützenich: Das hat sich durchaus verändert, weil auch ich letztlich auf das unmittelbare familiäre Umfeld hier in Köln angewiesen bin, dass wir uns eben auch versuchen, so gut wie möglich damit zu arrangieren, nicht nur in der Arbeit, in den Telefonkonferenzen, dass wir uns absprechen mit den Büros, das funktioniert zum jetzigen Zeitpunkt. Es gibt aber möglicherweise auch in den nächsten Tagen durchaus eben auch die Pflicht, dass man an bestimmten Sitzungen dann auch vielleicht wieder in Berlin teilnimmt und da versuche ich mich so gut wie möglich eben an diese Situation auch zu halten und letztlich kein zu großes Risiko einzugehen.

Capellan: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Herr Mützenich, ich danke. Ich hoffe, wir bleiben alle gesund und sehen uns demnächst in Berlin gesund und munter wieder.

Mützenich: Ja, bleiben Sie gesund, insbesondere auch die Hörerinnen und Hörer und danke für die Einladung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.