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Multiple Sklerose
Manuskript: Ende der Lähmung

Jedes Jahr erfahren 2500 Menschen in Deutschland, dass sie unter MS leiden. Ihnen kann die Medizin nun zunehmend Hoffnung machen. Allein in diesem Jahr sind zwei neue Medikamente auf den Markt gekommen. Selbst das Wort Heilung darf man neuerdings in den Mund nehmen.

Anna-Lena Dohrmann | 17.11.2013
    "Ich habe die Diagnose bekommen, als ich im Medizinstudium war. Da war ich, ja, knappe 24 Jahre alt und ich bin als Medizinstudentin damals eigentlich offen herangegangen, um erst einmal zu gucken: Was ist das eigentlich?"
    Die Diagnose: MS. Zwei Buchstaben, sie stehen für Multiple Sklerose – eine bislang unheilbare Krankheit. Hanna Becker sitzt in dem kleinen Wohnzimmer ihrer Dachgeschosswohnung. Die Wände stehen voll mit Bücherregalen. Sie zieht den Reißverschluss ihrer Fleece-Jacke hoch, immer wieder wandern ihre Hände über ihre Beine oder zu den kurzgeschnittenen braunen Haaren.
    "Am Anfang habe ich schon überlegt: Wie geht das alles weiter, wo endest Du? Ich sah mich schon im Rollstuhl sitzen. Und das hat mich irgendwie umdenken lassen. Also wo ich gesagt habe: Wenn das so weitergeht, dann ist ein Medizinstudium vielleicht nicht gerade das Richtige für dich. Und da bin ich erst einmal ein bisschen in ein Loch gefallen."
    Mittlerweile lebt sie seit 20 Jahren mit MS – und kann immer noch laufen. Hanna Becker hat von ihrer Krankheit 1994 erfahren. Damals gab es kaum Medikamente. Nur die akuten Entzündungsschübe wurden behandelt – immer im Krankenhaus, immer mit Cortison. Bei jedem Schub greift das Immunsystem den eigenen Körper an, Nerven im Gehirn oder im Rückenmark. Becker:
    "Angefangen hat alles mit den Sehstörungen, die immer im Krankenhaus mit Cortison behandelt wurden und dadurch relativ gut wieder zurückgegangen sind. Es blieb zwar immer ein kleiner Rest dann übrig, also es ist über die Jahre schlechter geworden. Aber ich hatte eben beim Schub immer nur Sehprobleme."
    Jedes Mal stirbt Nervengewebe ab. Es kommt zu Vernarbungen, sogenannten Sklerosierungen. Am Anfang kann das Gehirn diesen Verlust noch ausgleichen, nur irgendwann schafft es das nicht mehr.
    "So über die letzten drei, vier Jahre oder so etwas, habe ich es bemerkt, dass meine Gehfähigkeit also immer, immer schlechter wird. Ich wackle ein bisschen sehr rum und das ist jetzt nicht an den Schub gekoppelt, sondern ich merke einfach, dass es immer, immer schlechter wurde."
    In über 50 Prozent der Fälle geht die schubförmige MS in die schleichende Form über. Kontinuierlich sterben dann Nervenzellen ab – bisher unaufhaltsam. Die Ursache der MS ist nach wie vor unbekannt, der Krankheitsverlauf unverstanden. Doch die Therapie ist im Umbruch.
    Neurologen-Kongress in Dresden. Hier kann sich, wer will, vier Tage lang mit dem Thema MS beschäftigen. Es wird kontrovers diskutiert, doch in einem sind sich die Experten einig: In keinem anderen neurologischen Feld tut sich so viel wie bei Multipler Sklerose.
    "Wir sehen dieses Jahr mindestens zwei - vielleicht sogar drei bis vier neue Medikamente im Bereich der schubförmigen MS. Und das ist auch über die Geschichte der MS-Therapien hinweg etwas, was wir noch nie gehabt haben, es ist also eine Umbruchstimmung."
    Ralf Gold ist Direktor der Neurologischen Klinik am St. Josef-Hospital der Ruhr-Universität Bochum. Erst seit Ende der 1990er Jahre kann er seinen Patienten mit den Interferonen überhaupt eine Basistherapie anbieten. Seitdem sind einige Mittel gegen die Schübe dazugekommen. Auch für schwere Krankheitsverläufe gibt es mittlerweile Therapien.
    "Wir haben mit den Entwicklungen der letzten 15, 20 Jahre zunächst einmal das Immunsystem derart günstig beeinflusst, dass die Entzündungsherde der Multiplen Sklerose deutlich weniger wurden."
    Das ist ein wichtiger Schritt. Schließlich schadet jede Entzündung den Nerven. Alle bisherigen Medikamente zielen auf das überschießende Immunsystem ab: Sie dämpfen es. Mit Fumarat soll jetzt ein Mittel auf den Markt kommen, das zusätzlich die Nerven abschirmt. Es wirkt nicht nur im Blut auf das Immunsystem sondern auch direkt im Gehirn, so Gold.
    "Die Immunzellen werden programmiert, dass sie nicht mehr entzündungs-fördernde, sondern entzündungshemmende Faktoren abgeben. Zum anderen haben wir beobachtet, dass Nervenzellen im Nervensystem viel länger überleben unter den Fumaraten."
    Fumarat hat die Zulassung der Behörden bereits erhalten, derzeit kämpft die Firma noch um Patente. Viele Patienten warten auf Fumarat – vor allem weil es als Tablette erhältlich ist. Bisher muss die Basistherapie gespritzt werden. Für Hanna Becker war das der Grund, nie eine Dauertherapie zu beginnen:
    "Das war eine reine Kosten-Nutzen-Frage: Also will ich mich so weit in meiner Lebenshaltung einschränken, dass ich mich jetzt jeden Tag oder einmal in der Woche spritze? Das Zeug vielleicht noch irgendwo kühl lagern muss, also keine Reisen mehr irgendwohin mache, so einfach? Und das, das habe ich abgelehnt."
    Die 43-jährige braucht ihre Freiheit, sagt sie, liebt es, lange Wanderungen zu machen, spontan den Rucksack zu packen. Spritzen passt da nicht ins Bild.
    "So, kommen Sie bitte herein... Nehmen dort auf dem Stühlchen Platz..."
    Für MS-Kranke beginnt mit den Tabletten eine neue Zeit. Konnte man lange nicht viel mehr tun, als das Immunsystem zu unterdrücken, erhält jetzt das Nervenkostüm einen eigenen Schutz.
    "Ich klebe Ihnen zwei Elektroden am Kopf an, eine hinten, wo sich das Sehzentrum befindet, eine vorne an der Stirn."
    Die Forschung arbeitet unterdessen bereits am nächsten Schritt: der Reparatur der lädierten Zellen.
    "OK! – Gut, dann fang ich mal an mit Kleben…"
    MS-Zentrum Dresden. Sabine Fitzthum untersucht gerade einen der ersten vier Patienten, die hier mit einem neuen Antikörper behandelt werden. Durch einen Entzündungsschub ist bei allen der Sehnerv geschädigt. Sie sehen deshalb eingeschränkt. Mithilfe des visuell evozierten Potentials, kurz VEP, kann der Sehnerv direkt getestet werden. Dafür muss die Patientin einen Bildschirm fixieren, erklärt die Krankenschwester:
    "Hier sehen Sie das Schachbrettmuster, in der Mitte mit dem roten Punkt. Die Aufgabe ist: Sie sollen immer in die Mitte auf den roten Punkt sehen, lassen Sie sich von dem wechselnden Bild nicht irritieren. Das Schachbrettmuster wechselt rüber und nüber, der rote Punkt in der Mitte bleibt aber stehen."
    Jeder Wechsel des Schachbrettmusters ist ein Signal, das vom Sehnerv aufgenommen und weitergeleitet wird. In der Sehrinde am Hinterkopf angekommen, erzeugt das Signal einen winzigen Strom, und der wird gemessen. Tjalf Ziemssen leitet das MS-Zentrum in Dresden.
    "Bis das Signal hinten auf der Sehrinde ankommt, das braucht 100 Millisekunden, also eine zehntel Sekunde. Und wenn der Sehnerv irgendwie krank ist, dann ist es so, dann habe ich eben halt eine Latenz, die länger ist als 100 Millisekunden. Also zum Beispiel ein Patient mit einer Sehnervenentzündung, der hätte jetzt eine Latenz von 120 Millisekunden. Das heißt, die Information braucht eben halt 20 Millisekunden länger und das kommt eben halt daher, weil der Sehnerv geschädigt ist."
    Durch die Entzündung verliert der Nerv einen Teil seiner Schutzhülle, die sogenannten Myelinzellen. Dadurch leitet er langsamer. Der Nerv versucht die Hülle wieder aufzubauen, doch das gelingt nur zum Teil. Ziemssen:
    "Wir wissen von verschiedenen Regenerationsansätzen, dass wir im Gehirn Hemmstoffe haben, die die Regeneration blockieren. Einer dieser Faktoren ist der Faktor Lingo, ein anderer Faktor ist der Faktor No-go. Da hört man schon am Namen, dass die Regeneration blockiert wird."
    Diese Faktoren rücken jetzt in den Blickpunkt der Forschung: Remyelinisierung, also der Aufbau neuer Myelinzellen, soll gefördert werden. Hier in Dresden beginnt gerade die erste Studie mit einem Antikörper, der die Blockade durch den Faktor Lingo aufheben soll.
    "Wenn der Antikörper an den Hemmstoff bindet, kann der Hemmstoff nicht mehr hemmen. Das heißt: Weg frei für die Vorläuferzellen. Die Vorläuferzellen können sich jetzt ohne Probleme in die reifen Myelinzellen entwickeln. Das funktioniert im Tier wunderbar. Da sehen wir, dass wenn wir den Hemmstoff blockieren, dass dort die Remyelinisierung viel besser ist und jetzt müssen wir eben halt beim Menschen zeigen, dass das auch beim Sehnerven funktioniert."
    Funktioniert die Therapie, dann leitet der Nerv wieder schneller. Und das könnte das VEP messen.
    Statt nur Schüben vorzubeugen auch Schäden reparieren – das ist die große Hoffnung. Aber längst nicht die einzige. Noch weiter geht eine Pilotstudie in Hamburg: Sie will MS an der Wurzel bekämpfen.
    "Sehen Sie das? Dieses ein bisschen Flauschige, das ist die Schicht mit den weißen Blutkörperchen. Da sieht man auch, warum die weiße Blutkörperchen heißen: Weil, die sind tatsächlich weiß. Und die roten haben sich alle hier unten gesammelt."
    Die weißen Blutkörperchen saugt Klarissa Stürner ab. Zu ihnen gehören die B- und T-Zellen, sogenannte Immunzellen. Sie sind für die Abwehr von Eindringlingen zuständig, das körpereigene Myelin sollten sie ignorieren. Stürner:
    "Normalerweise reagiert der Körper auf die Myelinpeptide nicht, weil die etwas Eigenes sind und nicht vom Immunsystem als etwas Fremdes erkannt werden. Bei MS-Patienten ist es so, dass es vermehrt dazu kommt, dass diese Myelinpeptide als etwas Fremdes erkannt werden und somit eine immunologische Reaktion, vor allen Dingen eine Reaktion der T-Zellen, auslösen."
    Genau hier setzt die Therapie an: Das Immunsystem soll lernen, dass die Myelinpeptide zum Körper gehören.
    "Also im Rahmen der Studie entnehmen wir den Patienten weiße Blutkörperchen, die behandeln wir dann steril und bekleben sie auf der Oberfläche mit Myelinpeptiden, um sie dann dem Patienten wieder zurückzugeben."
    Wenn die Myelinpeptide auf die Zelle gesetzt werden, verklebt dabei die gesamte Oberfläche. Schon nach kurzer Zeit sterben diese weißen Blutkörperchen im Körper des Patienten. Und genau das ist beabsichtigt. Denn sie sterben nach einem geregelten Mechanismus, der Apoptose. Dieses Selbstmordprogramm kennt der Körper aus dem FF. Alles, was dabei anfällt, nimmt er als Teil des Körpers wahr – also auch die Myelinpeptide. Stürner:
    "Das Prinzip des programmierten Zelltodes, der Apoptose, ist, dass dem Körper dabei ein Signal gegeben wird: Hey, das ist etwas Eigenes, das ist nichts Fremdes, das ist nichts was du angreifen musst und das kannst du tolerieren."
    Die ersten Ergebnisse stimmen vorsichtig optimistisch: die T-Zellen reagieren tatsächlich nicht mehr so stark auf die Peptide. Das muss sich jetzt in einer Folgestudie bestätigen. Es wäre die erste kausale Therapie – vorausgesetzt MS ist wirklich eine Autoimmunkrankheit, die sich in erster Linie gegen Myelinpeptide richtet. Das ist letztlich noch immer unklar. Und so wird in viele Richtungen weiter geforscht. An Medikamenten, die eigentlich gegen Blutdruck und Diabetes verschrieben werden. Aber auch an alternativen Strategien: Weihrauch könnte helfen. Oder Wurmeier.
    Weihrauch ist als Heilmittel schon lange bekannt. Er soll die Entzündungen dämpfen und könnte als Tablette eingenommen werden. Und die Idee hinter den Wurmeiern: Der Patient schluckt diese Eier. Sie bleiben dann eine Zeit lang im Darm, wo sich ein Großteil unseres Immunsystems konzentriert. Das Immunsystem ist mit den Wurmeiern so beschäftigt, dass es quasi vergisst, den eigenen Körper anzugreifen.
    Noch nie hatten Ärzte eine solche Auswahl, um Multiple Sklerose zu behandeln. Die Fülle der Anstrengungen zeigt aber auch: Es gibt nicht die eine Therapie, die allen Patienten hilft. Vielleicht gibt es nicht einmal mehr die eine Krankheit, die sich MS nennt.
    Hanna Becker: "In meiner Familie sind alle sehr gesund, also sind alle auf dem natürlichen Wege gestorben und hatten kaum Einschränkungen und die MS war eigentlich kein Thema so in der Familie. Ich habe mich schon gefragt, was ich vielleicht in meinem Leben hätte anders machen können, damit das nicht aufgetreten wäre."
    Die Frage nach dem Warum kann bislang niemand beantworten. Wahrscheinlich entsteht MS bei verschiedenen Menschen sogar unterschiedlich. Niemand kann vorbeugen. Jeden kann es treffen. Das bundesweite Kompetenznetz Multiple Sklerose versucht die Krankheit umfassender zu verstehen. Bernhard Hemmer ist der Vorstandssprecher:
    "Man muss sich das so vorstellen, dass es wahrscheinlich Hunderte verschiedener Faktoren gibt, die letztlich das Risiko, an MS zu erkranken, bestimmen."
    Bisher sind gerade einmal eine Handvoll bekannt. Doch welches Gewicht jeder einzelne Faktor hat, weiß keiner. Das zeigt das Beispiel Genetik: Über 100 Gene kommen bei MS-Patienten besonders häufig vor. Aber selbst bei Zwillingen, die genetisch identisch sind, entwickelt der eine MS, der andere nicht. Ähnlich unklar: die Rolle des Epstein-Barr-Virus. Einmal angesteckt, schlummert das Virus ein Leben lang im Körper. Und kann jederzeit erneut angreifen.
    Hemmer: "Über 95 Prozent aller Menschen tragen das Epstein-Barr Virus in sich. Aber es scheint so zu sein, dass bei MS-Patienten dieses Epstein-Barr Virus zu einer viel stärkeren Immunreaktion führt und diese verstärkte Immunreaktion - die Mechanismen versteht man wirklich noch nicht - dann dazu führt, dass es zu Reaktionen gegen Strukturen im Gehirn und im Rückenmark kommt."
    Auch ein niedriger Vitamin D-Spiegel erhöht bei einigen Menschen das Risiko für MS.
    "Also wenn Sie sich mal anschauen, wo die Multiple Sklerose häufig vorkommt, dann sieht man: Je näher man zum Äquator hinkommt, je geringer ist das Risiko an Multipler Sklerose zu erkranken. Und das würde natürlich ganz gut zu dem Vitamin D passen. Weil, ist natürlich klar: Am Äquator ist mehr Sonne, da hat man mehr Vitamin D im Blut."
    Genetik, Virusinfektionen oder Vitamin D – Puzzleteile im Rätsel Multiple Sklerose. Es scheint eine Schwelle zu geben. Wenn sie überschritten ist, gerät das Immunsystem aus dem Takt – unaufhaltsam. Bernhard Hemmer:
    "Und wir verstehen weder, warum es dazu kommt, und wir verstehen auch nicht, warum diese Fehlreaktion nicht mehr abgeschaltet wird. Und: Gegen welche Strukturen, welche molekularen Strukturen, gegen welche Eiweiße, richtet sich die Immunantwort im Gehirn?"
    Hanna Becker steht unterdessen vor ganz praktischen Überlegungen.
    "Das ist immer die Frage, wann kommt der nächste Schub, weil er kündigt sich ja nie an. Er ist dann einfach da. Manchmal denkt man auch: Eigentlich hast du jetzt so viel Stress gehabt, da müsste jetzt der nächste Schub kommen und dann kommt er aber nicht. Also Planen oder so etwas, das geht gar nicht mehr."
    Unberechenbar ist nicht nur, wann der nächste Schub kommt. Auch welchen Teil ihres Körpers es treffen wird: Das Sehvermögen? Das Gefühl in den Händen? Die Kraft in den Beinen? MS: Die Krankheit der 1000 Gesichter. So wird sie immer wieder genannt.
    "Die maligne Ungewissheit - also: Die Unklarheit, wie dieser Verlauf ist, ist halt ein Schlüsselbewältigungsproblem für die Patienten. Und natürlich für die Therapeuten schwierig auch in der Beratung der Patienten in der ganz frühen Phase."
    Christoph Heesen, Leiter der MS-Ambulanz in Hamburg.
    "Man kann das eben ganz schlecht abschätzen: Es kann sein, dass Du in fünf Jahren im Rollstuhl sitzt, es kann aber auch sein, dass Du in zehn Jahren oder in zwanzig Jahren noch Marathon läufst."
    Bislang gibt es keine Marker, die vorhersagen, wie aggressiv die Krankheit verläuft oder welcher Patient auf welche Therapie anspricht. Vor allem jetzt, wo viele neue Medikamente auf den Markt kommen, wird das zum Problem. Heesen setzt deshalb noch stärker auf Aufklärung. Dass damit einiges erreicht werden kann, belegt die sogenannte Schubmanagement-Studie. Dabei haben er und seine Kollegen Patienten unter anderem mit der Studienlage zur Behandlung akuter Schübe vertraut gemacht:
    "Da sind viele Menschen ja davon ausgegangen, Schübe muss man immer mit Cortison behandeln. Und ganz schnell und sofort, damit irgendwie Dauerschaden vermieden wird. Das ist wissenschaftlich alles andere als klar."
    Genau das haben sie den Patienten vermittelt. Und das Ergebnis hat sogar die Ärzte verblüfft.
    "Was wir gesehen haben in dieser randomisierten Studie ist, dass Patienten nicht nur die Schübe anders behandeln und auch nicht behandeln, sondern dass die sogar weniger Schübe kriegen, wenn sie dieses Wissen haben, sodass möglicherweise dieses Kontrollgefühl auch ein Stück Effekt auf den Krankheitsverlauf hat."
    Heesen will nun die Patienten von Anfang an in Therapieentscheidungen einbeziehen. Wenn die Patienten schon ihrer Krankheit ausgeliefert sind, sollen sie wenigstens ihre Therapie kontrollieren.
    Hanna Becker hat immer versucht, der MS nicht zu viel Raum zu geben. Sie hat zwar ihr Medizin-Studium abgebrochen und stattdessen Geographie studiert, ansonsten aber ihre Gewohnheiten beibehalten. Und sie hatte Glück: Bei ihr ist die Krankheit milde verlaufen. Obwohl sie jedes Jahr mindestens einen Schub hatte.
    "Das hat kein Gegenüber mitgekriegt. Der Arzt hat es ja mitgekriegt, ansonsten niemand. Und das hat mir schon sehr geholfen, auch das Studium durchzustehen, dass eigentlich keine Fragen kamen, was ist denn eigentlich mit dir oder so…"
    Auch deshalb hat sie sich bewusst gegen eine Dauertherapie entschieden. Für sie persönlich war das die richtige Entscheidung.
    "Ja, und wenn ich Medikamente genommen hätte, dann würde man bestimmt sagen, es geht mir so gut, weil ich die Medikamente genommen habe. Vielleicht würde es mir noch besser gehen, wenn ich die ganzen Medikamente genommen hätte, aber dann wäre mein Leben grundsätzlich anders verlaufen."
    Doch jetzt, wo es Therapien in Tablettenform gibt, überlegt selbst Hanna Becker. Allerdings kommt sie langsam in die Phase, wo die Krankheit unaufhaltsam voranschreitet – auch ohne Schübe. Ob ihr die Tabletten noch helfen können, ist unklar.
    Welcher Patient profitiert von welcher Therapie? Das ist die Frage, die Mediziner ganz oben auf ihrer Agenda haben. Allerdings: die Pharmaindustrie dürfte an der Antwort kaum Interesse haben, verkleinert sich dadurch doch ihr potentieller Kundenkreis. Während die Patienten auf Heilung hoffen, hofft die Pharmaindustrie auf satte Gewinne.
    Wolf-Dieter Ludwig: "Unter den 15 umsatzstärksten Arzneimitteln befinden sich alleine vier zur Behandlung der Multiplen Sklerose. Daran erkennt man, dass dieser Markt außerordentlich lukrativ ist. Das heißt, dieser Markt wird durch die neuen Wirkstoffe hart umkämpft sein."
    Die Diagnosekriterien werden immer besser, die sowieso sehr jungen Patienten immer früher behandelt, die Therapien zum lebenslänglichen Begleiter. Hinzu kommt: MS ist die häufigste chronisch entzündliche Erkrankung. Die Zielgruppe ist groß.
    Beispiel Fumarat: Viele Patienten warten sehnsüchtig auf den Hoffnungsträger. Dabei ist der Wirkstoff alles andere als neu. Seit Jahrzehnten werden Fumarate zur Behandlung der Schuppenflechte eingesetzt. Eine MS-Therapie mit diesen Tabletten würde schätzungsweise zwischen 3000 und 5000 Euro pro Jahr kosten. Ein Schnäppchen. Doch dabei wird es nicht bleiben, befürchtet Wolf-Dieter Ludwig. Er ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.
    "Der Hersteller weiß genau, in welcher Preisspanne Medikamente zur Behandlung der Multiplen Sklerose derzeit angesiedelt sind und er wird versuchen in diesem Bereich, häufig sogar noch dann in einem etwas höheren Bereich, auf den Markt zu kommen."
    Und das bedeutet Jahrestherapiekosten zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Soviel kosten Konkurrenzprodukte, soviel zahlen die Kassen. Und nicht nur das Fumarat sorgt für Empörung. Alemtuzumab ist ein weiteres Beispiel. Es zerstört die Immunzellen und verspricht damit eine Art Neustart des Immunsystems – mit allen Risiken, die dazugehören. Auch dieses Mittel ist gut bekannt – und zwar aus der Blutkrebstherapie. Bei einer kleinen Gruppe von Patienten ist es dort hochwirksam. Ludwig:
    "Und die Hämatologen waren deshalb sehr empört darüber, dass man wahrscheinlich aus ökonomischen Gründen den Wirkstoff vom Markt genommen hat und eine Zulassung bei einer anderen, finanziell sehr viel attraktiveren Indikation – der Behandlung der Multiplen Sklerose – angestrebt hat und inzwischen auch erhalten hat."
    Nur durch die Marktrücknahme kann die Firma den Preis für das Arzneimittel neu festlegen. Trotzdem: Hier handelt es sich um zugelassene Medikamente, die wissenschaftlich einen Nutzen bewiesen haben müssen. Gestritten wird also ums Geld. Doch es gibt auch Behandlungen, deren Nutzen wissenschaftlich nicht bewiesen ist – dennoch werden sie angeboten. Und nachgefragt. Hier dreht sich der Streit um die Wirksamkeit.
    "So, drehen Sie den Kopf mal ein ganz klein bisschen zu mir. Gut! Das wird ein Moment warm, ja. Merken sie das? Das ist immer nur ein Augenblick und dann ist es vorbei. OK!"
    Ein privates Therapie-Zentrum in Frankfurt am Main. Stephan Zapf spritzt das Kontrastmittel über einen Katheter in die Halsvene von Lüder Seebode. Im Röntgenbild wird die Vene dadurch sichtbar.
    "Da sehen Sie, dass es unten ein bisschen einschnürt, ne? Und da gehen wir jetzt mit einem Ballon rein und machen das auf."
    Jetzt schiebt Zapf einen Ballonkatheter über die Beinvene hoch bis zur Halsvene. Dann bläst er den Ballon auf und dehnt so für fünf Minuten die Vene. Danach ist der Eingriff vorbei.
    "So, fertig!"
    Dieses Verfahren stammt aus Italien und ist hochumstritten. Die Idee: Bei MS handelt es sich um eine chronische cerebro-spinale venöse Insuffizienz, kurz CCSVI. Eine Verengung der Halsvenen soll den Blutfluss behindern. Das Blut staut sich ins Gehirn zurück und löst die klassischen Entzündungen der MS aus. Lüder Seebode schöpfte neue Hoffnung – auch wenn es für die Theorie keine wissenschaftlichen Belege gibt.
    "Also es klingt ja erstmal schlüssig."
    Deshalb hat er den Weg von Bremen nach Frankfurt auf sich genommen – zum CCSVI-Center. Das Zentrum ist modern und edel eingerichtet: Deckenstrahler, schwarze und rote Ledersessel, große Gemälde. Hier bieten Ärzte an, verengte Venen aufzuweiten.
    Seebode: "Also es wäre in meiner Situation grob fahrlässig, die Chance nicht zu ergreifen. So also wenn man dadurch eine Verbesserung hinbekommen könnte, wäre das natürlich ziemlich gut."
    Lüder Seebode ist 33 Jahre alt und hat seit 12 Jahren MS – und zwar die schleichende Verlaufsform. Ihm helfen keine Medikamente mehr. Seit vier Jahren sitzt er im Rollstuhl. Trotzdem glaubt er daran, irgendwann wieder Fußball zu spielen.
    "Na ja, verlieren können wir ja nichts, gucken wir einfach mal."
    Neurologen warnen hingegen: Auch dieser Eingriff hat Risiken und viele Studien konnten keinen Nutzen zeigen. Außerdem müssen die Patienten die Kosten selbst übernehmen – ungefähr 4000 bis 5000 Euro. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie würde den Eingriff deshalb am liebsten verbieten. Unsinn sagt Stephan Zapf vom CCSVI-Center. Er glaubt an das umstrittene Verfahren...
    "… weil es Erfolge zeigt. Ich verspreche niemandem, dass es hinterher besser wird. Ich sage, es ist eine Option, die kann helfen. Und: Probieren wir es oder probieren wir es nicht?"
    Schlüssige Zusammenhänge kann auch Zapf nicht liefern.
    "Erstens haben nicht alle MS-Patienten diese Stenosen, es gibt durchaus welche, die keine Stenosen haben. Und zum anderen ist es nicht die Ursache der MS, ganz sicher nicht. Es ist ein Co-Faktor, das wissen wir heute, der in irgendeiner Weise mit der MS vergesellschaftet ist. Ich weiß aber nicht, wie und warum."
    Viele offene Fragen also: Davon ist die MS-Forschung geprägt. Solange die Krankheit nicht verstanden ist, haben auch umstrittene Therapien leichtes Spiel. Nur langsam fügen sich einzelne Puzzleteile zusammen. Die Forschung ist in Bewegung, doch sie braucht Zeit.
    Hanna Becker läuft diese Zeit allmählich davon. Das spürt sie, denn sie verändert sich: Manchmal findet sie nicht die richtigen Worte, kann sich nicht mehr konzentrieren und auch das Gehen fällt ihr zunehmend schwer.
    "Ich versuche jetzt irgendwie mich neu zu definieren. Das ist jetzt so eine Phase, die ist nicht, ja, die ist bestimmt noch lange nicht vorbei. Die ist auch nicht ganz einfach. Aber es ist immer wichtig zu sehen, was geht noch."
    Dieses Denken durchzieht ihr Leben mit MS, genauso wie das Hoffen auf den Durchbruch:
    "Der Wunsch oder die Hoffnung besteht natürlich immer, dass irgendwer irgendwann mal vielleicht auch sagt: Hier guck mal, wir können das dort und dort ändern und da kann man das irgendwie heilen und vielleicht wieder Verbesserung auch für mich jetzt herstellen. Und das wäre schon schön."