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Mundial. Gebete an den Fußballgott

Es ist wieder mal so weit, wie alle vier Jahre: für einige Wochen verschwindet die Welt und fast alles, was in ihr passiert, hinter dem großen runden Schatten des Fußballs, ganz gleich, ob sich die "Achse des Bösen" nun weiterdrehen, die Börse in Turbulenzen geraten oder in Kaschmir ein paar Atombomben fallen sollten. Im rund um die Uhr stattfindenden Medientrommelfeuer bleibt kaum ein Quadratzentimeter des Alltags von der seltsam aufgeblasenen Bedeutung eines ehedem eher harmlosen Spiels verschont, und für die paar Ungläubigen, die dem Fußballgott - gar in Gestalt eines irdischen Repräsentanten wie Jürgen Kohler - nie zu huldigen bereit waren, sind sogar schon seit einer Weile schlechte Zeiten angebrochen.

Uwe Pralle | 19.06.2002
    Denn selbst im Amtsbereich der einigermaßen alphabetisierten Stände, den deutschen Feuilletons, die für fußballresistente Geister doch stets ein zuverlässiges Refugium gebildet haben, dreht sich neuerdings verdächtig vieles um die zu einem High-Tech-Monstrum mit einer Matrix aus gasgefüllten Mikrozellen mutierte einstige Lederkugel - und sei es auch nur in so bizarrer Form wie neulich in der Süddeutschen Zeitung, wo mehrere Spalten lang und breit darüber geklagt wurde, dass sich neuerdings alle und jeder über Fußball und die WM zu verbreiten aufgerufen fühlen: wofür dieser merkwürdige Fall von feuilletonistischem Befreiungsschlag ja höchstselbst ein einleuchtendes Beispiel geliefert hat.

    Ist es Opportunismus, Wichtigtuerei oder einfach der pure Geschäftssinn, der Scharen von Feuilletonisten, Schriftstellern und Intellektuellen jetzt dazu treibt, plötzlich alles das in die Welt zu posaunen, was man von ihnen über ihre speziellen fußballerischen Erfahrungen, Vorlieben und Leidenschaften schon immer nicht wissen wollte? Reicht es nicht, dass in den Redaktionsstuben und TV-Studios die unzähligen Günter Netzers dieser Welt bereitstehen, um das große WM-Fieber hochzutreiben, und braucht man wirklich, um die drögen Kommentare etwa eines Heribert Faßbenders halbwegs glimpflich zu überstehen, auch noch die kulturellen Verdauungshilfen intellektueller Ko-Kommentatoren?

    Der österreichische Schriftsteller Franzobel hat sich für sein Büchlein "Mundial. Gebete an den Fußballgott" sogar eine fußballrunde Vita zugelegt. Gezeugt sei er "am Tage des Lattenpendlers in Wembly", in einem Schülerligabezirksfinale einstmals der Vorstopper der Hauptschule Lenzing gewesen und unter anderem bis heute noch Ausputzer in diversen Hobbymannschaften. Das kann wahrlich nicht jeder von sich behaupten. Zwar spielt in Viererketten-Zeiten der Ausputzer ja eigentlich keine Rolle mehr, dafür aber offensichtlich eine um so größere in der literarischen Verwertungswelt. Denn wie der Ausputzer einstmals alles das übernahm, was durch die Maschen der Verteidigung ging, so hat Franzobel einige seiner verstreuten Gelegenheitsartikel aus der Wiener "Presse"-Landschaft in dieses Büchlein übernommen, wo sie, ohne jeden Drucknachweis, offenbar den Eindruck hervorrufen sollen, brandaktuelle Nachdenklichkeiten zur laufenden Weltmeisterschaft zu bieten.

    Bestenfalls sind Franzobels "Gebete an den Fußballgott" aber Stoßseufzer einer österreichischen Fußballseele, die sich wieder einmal mit der Nichtteilnahme des eigenen Teams an einer WM abfinden muss. Wie schwer so etwas fällt, können die deutschen Nachbarn nur schwer nachvollziehen, denen das auch dieses Mal wieder - wenn auch unverdientermaßen - erspart geblieben ist. Jedenfalls ist der Versuch Franzobels, auf diese Weise über die österreichische Fußballtragödie hinwegzutrösten, wohl das einzige Motiv, das sich dem schnell zusammengeleimten Buch zugute halten lässt - und wahrscheinlich spielt auch deshalb die Sternstunde des österreichischen Fußballs, nämlich das legendäre 3:2 bei der WM 1978 in Córdoba über die Deutschen, darin eine so überragende Rolle.

    Sicher gibt es in diesem Buch auch einige recht nette, gewissermaßen zeitlose Feuilletons wie eine "Anatomie des Schiedsrichters", eine kurze Erzählung über die Schrecken einer Welt, in der es außer Fußball nichts anderes mehr gibt, und manche Erwägungen Franzobels entbehren nicht eines gewissen Witzes, wie etwa die, ob Eckbälle nicht effizienter wären, "wenn die Angreifer eine Räuberleiter machten". Doch alles, was den dank der zusammengepumpten Fernseh-Milliarden des Leo Kirch prosperierenden Wirtschaftszweig Fußball im Moment dubios macht, einschließlich des Amigo-Systems seiner Berufsfunktionäre namens Blatter, Meyer-Vorfelder oder Beckenbauer, kommt in diesen "Gebeten an den Fußballgott" ebensowenig vor, wie Franzobel über den österreichischen Tellerrand hinaus in jene Sphären des Fußballsports blickt, die etwas von seiner tatsächlichen Faszinationskraft verraten statt nur vom Literaten-Bedürfnis, davon zu profitieren.

    Dafür hat es Franzobel sogar fertiggebracht, den Lesern etliche Texte über den Skisport unterzujubeln, der zwar Österreicher entschädigen mag für ihre fußballerischen Misserfolge, aber von einem Fußballgott wohl kaum mit seinem Segen bedacht werden würde. Für Nicht-Österreicher zumindest ist dieses Buch so überflüssig, wie manche Fußballexperten finden, dass es die Regel vom "passiven Abseits" sei; und ohnehin bestärkt es nur den Verdacht, dass sich die "plappernde Klasse", wie ein Spötter die Intellektuellen genannt hat, plötzlich vor allem deshalb so krampfhaft auf WM-Ballhöhe zu halten versucht, weil es manchen von ihr zu mühsam ist, sich in ihren angestammten Bereichen etwas einfallen zu lassen, was die Gemüter ähnlich erhitzen könnte wie eine Fußballweltmeisterschaft.