Donnerstag, 28. März 2024

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Munition in der Nordsee
Das unsichtbare explosive Erbe

Nach den beiden Weltkriegen wurden tonnenweise Bomben und Munition in die Nordsee gekippt, um sie schnell zu entsorgen. Bis heute rostet das Material vor sich hin und sondert giftige Stoffe ab. Das EU-Projekt "North Sea Wrecks" sucht nach dem explosiven Erbe und wird mehr als fündig.

Von Felicitas Boeselager | 10.04.2019
Spezialisten der Marine sprengen am 09.03.2010 auf der Ostsee vor Eckernförde eine Mine.
Munition aus dem Zweiten Weltkrieg ist am Meeresgrund eine tödliche Gefahr. Wie es in der Nordsee aussieht, ist noch kaum erforscht (picture alliance / dpa - Carsten Rehder)
"Ok, was sehen wir? Wir sehen wieder die südliche Nordsee. Wir haben also hier die Küstengebiete von Deutschland, Belgien, Niederlande, dann haben wir auf der linken Seite sehr groß das südliche England."
Was hier beginnt, sieht ein bisschen nach einer Schatzsuche aus. Zwei Männer beugen sich über eine alte Seekarte und suchen nach versunkenen Wracks, die jemand fast 70 Jahre vorher handschriftlich auf der Karte eingetragen hat.
"Hier wäre also ein Bereich, wo Wracks liegen. Was steht da genau?"
Zahllose Schiffswracks
Frederic Theis und Philipp Grassel vom Deutschen Schifffahrtsmuseum suchen allerdings nicht nach Schätzen auf diesen Wracks, sondern nach Gift: Nach versunkenen Bomben und Munition. Ihre Recherche ist Teil des Projekts "North Sea Wracks", das die Munition in der Nordsee erfassen will.
"Auf dem Grund der Nordsee liegt alles das, was versehentlich über Bord gegangen ist, was gezielt dorthin gebracht wurde, was vielleicht versenkt, oder auch vom Himmel geschossen wurde. Also sprich, wir müssen mit Flugzeugwracks rechnen, mit Schiffswracks, mit über Bord gegangenen Containern. Und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg hat man auch geglaubt, an bestimmten Stellen in der Nordsee gezielt Munition beispielsweise verklappen zu können, um eine Lösung zu finden, wohin man mit Munitionsresten gehen kann", erklärt Sunhild Kleingärtner, Direktorin des Deutschen Schifffahrtsmuseums Bremerhaven. Sie leitet das Projekt North Sea Wrecks. Es Projekt wird mit EU-Geldern gefördert, insgesamt sind 30 verschiedene Projektpartner aus Europa beteiligt.
1,3 Millionen Tonnen Munition auf dem Grund
Schätzungen zufolge liegen auf dem Grund der Nordsee 1,3 Millionen Tonnen Munition. Und das zum Teil seit über 100 Jahren. Relikte aus zwei Weltkriegen. Mit der Zeit werden die Metallgehäuse der Minen, oder Bomben immer dünner, rosten durch, sagt Grassel:
"Man kann sagen, dass dann das TNT, oder die Schießwolle, die Chemikalie offen auf dem Grund liegt und das heißt, dass das dann in das Wasser diffundiert, aber auch in den Boden, und dass das Ökosystem das dann aufnimmt, weil das ist ja so: Das ist ja eine Verwertungsmaschine und das heißt das die Kleintiere das aufnehmen und dann kommt es in die Nahrungskette und dann ist es irgendwann auch mal, bei Verwertern, wie zum Beispiel uns."
Philipp Grassel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Maritime Archäologie im Schifffahrtsmuseum Bremerhaven, hält eine Geschosshülse in seinen Händen. Er arbeitet in einem Forschungsprojekt, das sich der Problematik von verklappter Munition, Kriegswracks und der daraus resultierenden Umweltverschmutzung in der Nordsee widmet. 
Philipp Grassel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Maritime Archäologie im Schifffahrtsmuseum Bremerhaven, hält eine Geschosshülse in seinen Händen (Carmen Jaspersen/dpa)
Wenn die Historiker und Archäologen ihre Quellen ausgewertet haben, dann kommen Naturwissenschaftler an die Reihe, fahren zu den Wracks und nehmen dort Proben. Einer von ihnen Matthias Brenner vom Alfred Wegener Institut in Bremerhaven. Er war schon an großen Forschungsprojekten in der Ostsee beteiligt und hofft von diesen Erfahrungen profitieren zu können. Allerdings sei nicht alles eins zu eins übertragbar. Denn die Ostsee sei im Vergleich zur Nordsee eher ein See, mit geringem Wasseraustausch, was in sie hineinkäme, das verweile dort auch für eine lange Zeit.
"Während zum Beispiel in der Nordsee die Wasseraustauschraten wesentlich größer sind, zwei Mal am Tag kommen die Gezeiten rein, ein Wasserkörper X ist komplett ausgetauscht gegen einen anderen. Das heißt Substanzen, die aus einem Munitionskörper rauskommen, sind natürlich dann schnell großflächig verteilt, das kann dann ganz andere Auswirkungen auf die Organismen haben."
Keine Untersuchungen zur Nordsee
Die Muntionsreste in der Ostsee werden schon seit 2006 erforscht, darauf haben vor allem Polen und Litauen gedrungen. Bei der Nordsee stehen die Forscher noch ganz am Anfang.
"In der Nordsee wurde noch nichts dergleichen untersucht. Sie müssen davon ausgehen, dass man es nicht wollte. Fakt ist, es wurde 70 Jahre lang keine Forschung finanziert, die sich im Detail damit beschäftigt, vor allem keine unabhängige Forschung."
Das Projekt North Sea Wrecks soll 2022 abgeschlossen sein. Die Uhr tickt: Abgesehen davon, dass manche Geschosse heute schon offen liegen, zeigen jüngste Minenfunde in der Nordsee: Es braucht nur 15 Jahre, bis die Metallhülle durchgerostet ist.