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Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Neuinterpretation des Jugendstils

Eine Ausstellung wie ein Essay: Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe wagt derzeit eine neue Annäherung an die Zeit des Jugendstils. Die Kuratorinnen deuten das vermeintlich schöne, blumige Jugendstilornament als direkten Ausdruck sozialer Umwälzungen.

Von Carsten Probst | 22.10.2015
    Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg mit der Ausstellung "Titel für die Zeitschrift "Jugend" - Nr.14 des Künstlers Hans Christiansen aus dem Jahre 1897.
    Titelbild der Zeitschrift Jugend des Künstlers Hans Christiansen aus dem Jahre 1897 (picture-alliance / dpa / Museum Für Kunst Und Gewerbe Hamburg)
    Auf zittrigen Schwarz-weiß-Filmbildern sieht man die Fertigungshallen einer Keksfabrik in London um 1900. Man sieht die dicht gedrängt stehenden Arbeiterinnen und Arbeiter beim Bedienen der Maschinen und Öfen, beim Sortieren und Verpacken, und man sieht Kinderarbeit, Zehn-, Zwölfjährige, die wie selbstverständlich mitmachen im harten Fabrikalltag. Was hat das mit Jugendstil zu tun?
    Historisch gesehen ist es in dieser Ausstellung nur ein kleiner Schritt: Sie deutet das vermeintlich nur schöne, blumige Jugenstilornament als direkten Ausdruck sozialer Umwälzungen. Die Kinderarbeit in der Londoner Keksfabrik findet so ihre Reaktion in den marxistisch getönten Lebensentwürfen von William Morris in dessen utopischem Roman "News from Nowhere". Zurück zur Natur, Handarbeit versus industrielle Fertigung, Arts & Crafts versus Massenartikel, das schöne Einzelstück als Gegensatz zum billigen Konsumartikel - vieles im Kern gutbürgerliches Weltverbesserertum steckt in diesem Ästhetizismus der britischen Sozialreformer.
    Doch die Reformbewegungen erstrecken sich am Ende des 19. Jahrhunderts europaweit und sind in ihren Anliegen und Ausdrucksformen überaus vielfältig und verschieden. Die beiden Kuratorinnen Claudia Banz und Leonie Beiersdorf vermeiden klugerweise den Anspruch auf Vollständigkeit. Ihnen geht hier nicht um nationale Stilgeschichte oder das Aufzählen von allen möglichen Spielformen der Naturanbetung um 1900. Ihre Ausstellung ist mehr ein Essay.
    Jugendstil wird zum Label für Qualitätsprodukte
    Er wird der neusortierten, sehr bedeutsamen Sammlung von Jugendstilexponaten im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe vorangestellt - und sei dies nur, um den bewundernden Blick einmal auf die sozialen Realitäten hinter all der Pracht zu lenken. Ein harmlos anmutender Vitrinenschrank von 1881 ist mit exotischen Keramiken und Kinderporträts von Paul Gauguin verziert, die auf Motive aus der Südsee zurückgehen und wird so zum Zeugen der Paradiesutopien, der Veredlung des "Primitiven" als - vermeintlichem - Alternativentwurf zum trostlosen Rationalismus des europäischen Kapitals. Die Revolutionen in der Psychologie, den Naturwissenschaften, der Medizin, auch das Aufbrechen der Geschlechterrollen haben demnach gerade im Jugendstil ihren ersten geradezu wild-chiliastischen Ausdruck gefordert: Freikörperkult an der Natur, anarchistische Gesellschaftsmanifeste, die sogenannten Serpentinentänze der "Lichtfee" Loie Fuller, die sich mit weiten Gewändern schlangengleich durch Lichtprojektionen tanzt und damit temporale Skulpturen erschafft, die sich dem absoluten Augenblick ergeben.
    Der naiv-utopistische Impetus aber, und auch das dokumentieren Banz und Beiersdorf konsequent, verblasst schon bald und mündet in eine Fertigungsstrategie für begehrte Lifestyle-Artikel, die sich nur die Gutbetuchten leisten können. Jugendstil wird zum Label für Qualitätsprodukte, für das Wohnen im Gesamtkunstwerk, zur tröstlichen Ausschmückung einer rauen säkularen Realität. Liebhaberstücke werden hergestellt und teuer gekauft. Japonismen, orientalische Motive, sinnliche Porträts und Posen von Frauen und Dandys sind Renner in den Pariser Galerien, während in Wien und München eher rationalere Varianten des gesamtkunstwerklichen Designs reüssieren.
    Prächtige Zeugnisse der frühen Moderne
    Dies ist nun auch die Vorgeschichte jener überaus stattlichen Jugendstil-Sammlung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, dessen Gründungsdirektor Justus Brinckmann auf der Pariser Weltausstellung von 1900 als der Jugendstil-Verkaufsmesse schlechthin frühe Großeinkäufe tätigte. Der deshalb sogenannte "Pariser Saal" etwa mit seinen grandiosen Möbeln und Alkoven gehört bis heute zu den Prunkstücken dieser Hamburger Sammlung, bestückt und ergänzt von Möbeln und Raumensembles von Henry van de Velde, Richard Riemerschmid, Charles Rennie Mackintosh oder Carlo Bugatti. Die vorgeschaltete Ausstellung zur "Großen Utopie" lenkt den Blick auf einen heute vertraut erscheinenden Aspekt: die Umwandlung von Utopien in teures Corporate Design. Die Hamburger Sammlung liefert dafür wahrlich prächtige Zeugnisse der frühen Moderne.