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Musik als Erinnerungsinstrument

Laienschauspieler im Rentenalter geben in dem Stück "Dem Weggehen zugewandt" auf dem Hamburger Kampnagel Einblicke in die letzte Lebensspanne. Im Mittelpunkt steht dabei das musikalische Gedächtnis, das durch altes Liedgut, Rock oder Pop Brücken in die Vergangenheit schlagen kann.

Von Axel Schröder | 16.05.2013
    Das Alter steht nicht für Stillstand. Ganz im Gegenteil: für viel Bewegung, für stetige Veränderung. "Dem Weggehen zugewandt" bringt diese Bewegung auf die Kampnagel-Bühne in Hamburg. Über 50 Menschen zwischen 65 und 86 sitzen auf einem Dutzend rollenden Parkbänken, stoßen sich mit den Fußspitzen nach hinten ab, formieren sich auf der weiten Bühne, halten inne, bewegen sich weiter.

    Der Chor der Alten besteht aus Theaterlaien, zusammengesucht hat ihn die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig vom Union Universal-Kollektiv Ende letzten Jahres. Seitdem läuft die Konzeption des Stücks, seitdem hat die 30-jährige Regisseurin viel gelernt übers Alter:

    "Das war für mich sehr wichtig und auch sehr schön, dass ich einfach diese Arbeit mit diesen Leuten direkt hatte. Die dann sagten: Für mich ist das so und für mich das so. Und: Ja, da triffst Du was! Und das stimmt. Das sehe ich auch so. Und das aber nicht."

    Der Chor singt und immer wieder lösen sich aus ihm sechs Solisten, professionelle, alte Schauspielerinnen und Schauspieler. Einer nach dem anderen löst sich im Laufe des Stücks aus der Menge, bringt Fragmente ihres erinnerten Lebens auf die Bühne. Begeistert, lamentierend, manchmal stumm. Orientierung gibt die Tagebuchschreiberin, gespielt von Irm Hermann, begleitet von den Streichern des Berliner Solistenensembles Kaleidoskop. Eng verzahnt löst die Musik Sprache, die Sprache Musik aus. Die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig will Musik als Erinnerungsinstrument verstanden wissen, ein Instrument, das uns mit unseren Erinnerungen kurzschließt. Egal, in welchem Alter, auch bei Menschen mit einem fortgeschrittenen demenziellen Syndrom:

    "Erwiesen ist, dass gerade in diesen Phasen, wo Leute sich soweit verabschiedet haben, die Musik sie noch erreicht. Und das ist auch ein irrationaler Anker in die eigene Vergangenheit und einer, der einen manipuliert und verändert. Das kennen wir selber: Man hört irgendein Lied im Radio und sofort ist ein Gefühl wieder da. Man kann sich da gar nicht wehren. Es ist auch brutal, die Musik macht mit einem auch etwas! Das finde ich dann immer ganz krass, wenn man merkt, dass Musik von einem Besitz ergreift und Gefühle hochbringt, die man eigentlich gar nicht fühlen wollte."

    Die Erinnerungsfragmente, die Mosaikteile des Abends stammen von der Wiener Autorin Ilse Helbich. Geboren 1923 schrieb sie ihren ersten Roman – die autobiografische "Schwalbenschrift" - mit 80 Jahren. Die Passagen für das Stück auf Kampnagel sind ihrem jüngsten Buch "Grenzland Zwischenland" entnommen. Ilse Helbich ist heute Morgen mit dem Nachtzug aus Wien in Hamburg angekommen. Erzählt von ihren musikalischen Erinnerungen im kleinen Garten hinter ihrem Hotel:

    "Ich kann mich erinnern an die 'Mühle im Schwarzwald', solche wunderbaren Klapperstücke! Das war meine erste musikalische Erinnerung. Aber ich habe mit 14 und 15 zum Beispiel das Brahms-Requiem gehört. Und ich kann mich noch genau erinnern, auf welchem Sitz ich gesessen bin beim Brahms-Requiem. Also, das ist wirklich eine sinnliche Erinnerung!"

    Und gleichzeitig verändert sich ihr Musikgeschmack, erzählt die Wienerin:

    "Ich habe zum Beispiel früher immer gehört: Beethoven – die letzten Streichquartette. Diese sehr Mysteriösen. Jetzt höre ich lieber die Mondscheinsonate und die eigentlich gängigen Sachen und freue mich an dieser unglaublichen Dynamik und Vitalität. Es ist die leichter zugängliche Welt. Aber vielleicht ist das eben die Rückkehr in meine Jugend. Auf diese Art, über Musik."

    Aber dabei löst sich die Musik für Ilse Helbich, ganz im Gegensatz zur Regisseurin Maria Magdalena Ludewig, von ihren emotionalen Assoziationen aus vergangenen Zeiten. Heute, so Helbich, höre sie Musik pur. Und neu. Und lebt nicht im Morgen oder dem Gestern, sondern in der Gegenwart.

    "Ideen, ich könnte morgen total gelähmt sein, könnte einen Herzinfarkt bekommen, ich könnte tot sein – das ist eine Möglichkeit. Aber ich denke nie drüber nach. Es beschäftigt mich nicht. Das ist ja das Wunderbare, dass auch ununterbrochen sehr schöne Überraschungen kommen, wunderschöne. Das ist das, was ich so genieße am Alt-Sein."

    Maria Magdalena Ludewig hatte die alte Dame in Wien besucht, zur Klausur, so Helbich. Heute Abend will sie sich wieder überraschen lassen, ist gespannt, was die junge Regisseurin aus ihrem Stoff gemacht hat.