Dienstag, 16. April 2024

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Musik im Alevitentum
"Koran mit Saiten"

Die Klänge der Saz oder Baglama sind im gesamten Orient weit verbreitet. Bei Aleviten ist dieses Instrument, das einer Laute oder Gitarre ähnlich ist, traditionell auch wesentlicher Bestandteil des religiösen Rituals - auf jeden Fall dann, wenn Aleviten sich als religiös verstehen.

Von Hüseyin Topel | 05.10.2018
    Ein Stand auf einem Basar, an dem es das türkische Saiteninstrument Baglama zu kaufen gibt
    Um die Klänge der Baglama*, auch Saz genannt, dreht sich alles bei religiösen Zeremonien von Aleviten. (imago stock&people/ Zuma Press)
    Wenn alevitische Frauen und Männer gemeinsam in einem Cem-Haus zusammenkommen, kann der Cem, also die gottesdienstliche Versammlung, nur stattfinden, wenn auch ein Baglama-Spieler anwesend ist.
    Der türkisch-alevitische Schriftsteller Mehmet Özgür Ersan ist Autor zahlreicher Bücher über die Traditionen der Aleviten. Darin kommt er auch immer wieder auf die Bedeutung der Baglama zu sprechen.
    "Bei unseren religiösen Zeremonien ist dieses Instrument unverzichtbar. Der Zakir, der die Baglama spielt und auch dazu singt, sorgt mit diesem Instrument für die richtige Stimmung und ruft verborgene Emotionen hervor."
    Dede und Zakir
    Neben dem Dede, dessen Position in etwa mit einem Imam vergleichbar ist, ist der Zakir die zweite Schlüsselfigur bei alevitischen Ritualen.
    Der Musikpädagoge Hasret Tiraz erforscht, wie sich religiöse und weltliche Kunst im Alevitentum beeinflussen. Ein Transformationsprozess, wie er sagt. In der Funktion des Zakirs sieht er die zentrale Vermittlerrolle zwischen Tradition und Gegenwart.
    Lebendige Tradition
    "Ich glaube bei Spiritualität geht es darum, dass man den Zakir, der ja aus der Ich-Perspektive singt – die Texte sind immer aus der Ich – oder Wir-Perspektive -, dass es darum geht, dass er der Repräsentant der lebenden Tradition ist. Also, es ist sozusagen die Vergegenwärtigung im Ritual."
    Junge Alevitinnen und Aleviten demonstrieren den rituellen Lauf Semah.
    Junge Alevitinnen und Aleviten demonstrieren den rituellen Lauf Semah vor Publikum. (imago stock&people)
    Der Musikpädagoge Hasret Tiraz kennt die Rolle eines Zakir in religiösen Zeremonien. In den unzähligen Liedern und Gedichten, die im Alevitentum seit Jahrhunderten überliefert sind, geht es wesentlich darum, dass allen Menschen eine Kraft Gottes innewohne, ganz gleich welcher Religion sie angehören. Der religiöse alevitische Schriftsteller Mehmet Özgür Ersan hebt hervor, dass es im Alevitentum immer um ein mystisches Verständnis der Religion geht. Es gehe darum, die tiefere Bedeutung religiöser Texte und Symbole zu erfahren - jenseits der Oberfläche.
    "Die Symbole in den Vordergrund zu rücken, halte ich für problematisch. Wir müssen verstärkt darauf schauen, was dahinter steckt. Wir müssen aufhören, unsere Symbole anzubeten.
    Kritik von konservativen Muslimen
    Es gibt diverse Strömungen bei europäischen Aleviten: jene Säkularisierten, die eher von einer Kultur sprechen, jene, die eine Nähe zum sunnitischen Islam sehen, jene die eine Nähe zum schiitischen Islam betonen - und noch einige Strömungen mehr. Wer aber als Alevit eine mystisch-religiöse Einstellung hat, versteht auch den Koran als ein Glaubensbuch und weniger als Gesetzesbuch. Dann geht es um das Verständnis der Offenbarung in einem tieferen Sinn. Mit dieser Vorstellung, stoßen sie bei vielen konservativen Muslimen auf heftige Kritik. Auch die hervorgehobene Rolle der Baglama in religiösen Versammlungen der Aleviten sorgt bei vielen Sunniten für Hohn und Spott. Denn, so die Kritiker, Mohammed habe dieses Instrument nirgends erwähnt. Und sie verurteilen es als blasphemisch, wenn Aleviten die Baglama als "Koran mit Saiten" bezeichnen. Dazu noch einmal Ersan.
    "Wenn jemand vom ‚Koran mit Saiten‘ spricht, ist das doch nur eine Metapher. Das darf nicht missverstanden werden. Die Baglama hat keine Gebetsfunktion. Sie ist nur ein Mittel zum Zweck. Es ist ein Instrument, das den Tiefgang im Gebet steigert und emotionale Gefühle weckt."
    Und Musikpädagoge Tiraz ergänzt: "Man könnte auch sehr nostalgisch sagen, es ist in erster Linie eine meditative Funktion, die diese Musik im Ritual spielt. Aber die Musik steht nicht für sich selbst, es ist eigentlich die Übertragung der Sprache und der Artikulation."
    Theatralisches Ritual
    Denn die Musik und der Inhalt der Texte gehören untrennbar zusammen. Dabei entsteht eine eigene Dramaturgie. Das Ritual hat eine theatralische Seite. Etwa wenn es um die Himmelsreise Mohammeds geht.
    "Die Teilnehmenden stehen auf, vollziehen die ganzen Gesten, verhalten sich dem entsprechend nach dem Epos, das gerade dargestellt wird; also die Himmelsreise Mohammeds, die wird dann nachgeahmt."
    Ganz gleich um welche religiöse Richtung des Alevitentums es sich handelt, ob sie sich den türkischen Sunniten nahe fühlen und türkischen Nationalismus massiv ablehnen, oder ob sie sich ganz vom Islam abgrenzen und sich als eigenständige Religion verstehen, die Baglama hat bei allen einen festen Platz.
    Kulturelle statt religiöse Identität
    Das gilt auch für viele Aleviten im europäischen Ausland, die sich nicht mehr als religiös verstehen, sondern als Volksgruppe für einen universalen Humanismus eintreten. Für den Musikpädagogen Tiraz ist gerade diese Gruppe der säkularisierten Aleviten ein Beispiel für einen Transformationsprozess, der besonders innerhalb des Alevitentums in Europa stattfindet.
    "Dann ist es insbesondere in den jüngeren Generationen so, dass sie sich eher über die musikalische Komponente positionieren und ihre Identität eher als eine alevitisch-kulturelle Identität wahrnehmen."
    Die Tradition der Baglama hat hier eine andere, neue Funktion, aber sie gehört immer noch zur alevitischen Identität, auch wenn das Instrument jetzt seinen Platz zum Beispiel im Musical findet oder in einem Elektro-Baglama-Konzert.

    * Anmerkung der Redaktion: Ursprünglich war hier ein anderes Saiteninstrument zu sehen, das fälschlicherweise als Baglama bezeichnet wurde. Wir haben den Fehler korrigiert.