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Musik, Macht, Medien

Peter Uehling hat bei dem von ihm porträtierten Herbert von Karajan genau hingehört. Neben seine akribischen Hörprotokolle legte er das, was von der zeitgenössischen Konkurrenz aufgenommen wurde. Das lässt erkennen, wie Karajans Ästhetik dem technischen Fortschritt folgte.

Von Holger Noltze | 30.10.2006
    "Dies ist das erste größere Buch über Karajan, dessen Autor den Dirigenten nicht mehr kennen konnte","

    schreibt Peter Uehling, Jahrgang 1970, und wir nehmen das als einen Vorteil, denn bislang gibt es "nur Biographien von Freunden und Feinden". Nun gibt es also, drittens, Uehling, und zwischen den Fronten erweist der sich als ein überaus genauer Plattenhörer. So lesen wir mehr vom Werk, weniger vom Leben des Herbert von Karajan, und das scheint legitim, wo dieses Leben doch der Obsession folgte, Musik in Konserven zu bannen, so perfekt wie möglich. Also keine "Geschichten", kein Close-Up-Tratsch aus den Hinterzimmern der Macht und der Kunst. Hier wird erst einmal zugehört, und das ohne Angst davor, auch in die Einzelheiten der musikalisch-interpretatorischen Befunde zu gehen. Wer hören will, muss vergleichen. Deshalb legt Uehling neben seine akribischen Karajan-Hörprotokolle, was von der zeitgenössischen Konkurrenz der großen Alten aufgenommen wurde.

    Eroica 1944 in Berlin, mit der Preußischen Staatskapelle:

    ""Karajan organisiert die Musik in Zonen, die deutlich auf Gegensätzlichkeit in Klang und Rhythmus hin zugespitzt sind: So ist der Beginn fahl und stockend, der in Es-Dur beginnende Mittelteil des Themas dagegen gesättigt und strömend. Wo Toscanini lediglich Notenpunkte spielt und Furtwängler das Thema als, wenn auch verhaltenen, Gesang begreift, da sucht Karajan hinter den Erscheinungen und auch noch hinter dem Vordergrund des Themas ein Prinzip, das den Ablauf gliedert."

    Manches ändert sich an Karajans Interpretationsstil in den 50 Jahren nach den ersten Aufnahmen. Was bleibt, ist ein Hang zur Abstraktion. Es ist nicht das nie gehörte Detail, das diesen Dirigenten fesselt. Uehling macht plausibel, wie es ihm von Anfang an um eine Art panoramatischer Werkschau geht: ums Ganze, von außen betrachtet. Karajans Arbeit an der Groß-Struktur bei Beethoven, Brahms, Bruckner setzt dabei zunächst an der präzisen rhythmischen Gestaltung an. Spätestens aber, als er sich mit den Berliner Philharmonikern sein Ideal-"Instrument geschaffen" hatte, zielt er mehr und mehr um auf eine Ausleuchtung der Form durch Klang-Gestaltung. Dahinter steht eine überraschend schlichte Idee von Schönheit, von Vollkommenheit: der Traum, die Technik könne uns unvollkommene Menschen zur Perfektion erlösen, von Geschichte befreien.

    Gerade aus der historischen Distanz lässt sich erkennen, wie Karajans Ästhetik dem technischen Fortschritt folgt - dessen musikalisch massenwirksamster Ausdruck sie zugleich war. Als die DUAL-Plattenspieler in den 1960er Jahren zum Wohlstandszeichen eines schöneren Lebens durch Unterhaltungselektronik wurden, da lieferte "HiFi-Karajan" den nötigen Soundstream, und fast spielte es keine Rolle, ob es "Zarathustra" war oder Straussens Alpensinfonie, oder Beethovens durch oktavierte Bässe extra-grimmes Jatata-Taa, das durch die Boxen geschickt wurde: Das Medium war die Botschaft.

    Peter Uehling erklärt die einzigartige Erfolgsgeschichte dieses Modells, indem er zeigen kann, wie Karajans Kunst sich nicht nur der technischen Entwicklung in immer längeren Verwertungsketten anpasst - von der Stereophonie und Langspielplatte über die Quadrophonie bis zu CD und "Laserdisc" - den Vorläufer der DVD, für die der greise Karajan in seinem Salzburger Keller schon verbissen ein "HomeVideo" nach dem anderen produzierte, als sich das digitale Video noch längst nicht durchgesetzt hatte, und wie andererseits das Publikum der 1960er/70er Jahre nach genau dem Stoff verlangte, den die K-Factory zuverlässigst lieferte.

    So passte Karajan, den Adorno gern als "Dirigent des Wirtschaftswunders" verspottete, irgendwie immer schon in die Zeit, und ob Studenten revoltierten oder Nazis regierten: es war ihm einerlei, der Maestro machte Musik mit geschlossenen Augen. Hier aber gilt es den Medien, nicht der Moral. Hinter dem singulären Mediendirigenten aber steckt ein schwer kontaktscheuer Mann, der erst in der einsamen Perfektionierungsarbeit im Studio seine Erfüllung findet.

    Deren Ergebnisse wertet Uehling nachgerade als eine "Verweigerung von Kommunikation". Das sind harte Worte. Doch wenn dem unermüdlichen Plattenhörer Uehling am Ende auch die Lust vergeht, noch den allerletzten Beethoven-Zyklus zu analysieren: Seine Bestimmung des "Interessanten an Karajan" bleibt bis zum Schluss offen auch für die Faszination, die "weltraumhafte Kälte", die von diesem Dirigenten ausging, der Bruckners Achte Monate vor seinem Tod noch einmal neu versteht. Und der, als er sich endlich der Zwölftonmusik widmete, Schönbergs eher spröden Orchestervariationen opus 31 nach einem Probenmarathon mit den Berliner Philharmonikern eine absolute Schönheit abgewann, die, dies eine Mal, sogar Adorno überragend fand.