Freitag, 19. April 2024

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Musik und NS-Verbrechen
Eine musikhistorische Spurensuche in Hadamar

Im hessischen Hadamar wurden rund 15.000 psychisch Kranke und behinderte Menschen von den Nazis ermordet. Darunter war auch die Mutter des Komponisten Karl-Heinz Stockhausen: Gertrud Stockhausen. Ihr Schicksal und das weiterer Opfer konnten bei einem Rundgang zum diesjährigen "Tag der Musik" nachvollzogen werden.

Von Ludger Fittkau | 07.05.2018
    Die ehemalige Gaskammer im Keller der Gedenkstätte Hadamar am 22.11.2013.
    Hadamar war eine von sechs Anstalten, in denen während der NS-Zeit behinderte und psychisch kranke Menschen vergast wurden (dpa / Boris Roessler)
    Musik: Stockhausen "Donnerstag aus Licht"
    Karl-Heinz Stockhausen:
    "Donnerstag aus Licht", eine Oper von Karl-Heinz Stockhausen in einer vielbeachteten Aufführung des Theater Basel aus dem Jahr 2016. In diesem Werk geht es um das Schicksal von Gertrud Stockhausen, der Mutter des Komponisten. Sie wurde von den Nationalsozialisten im hessischen Hadamar ermordet - wie rund 15.000 andere chronisch psychisch kranke Menschen und Behinderte im Rahmen der sogenannten Euthanasieaktion T 4.
    Die Schülerin Lisa Quernes vom Musikgymnasium Montabaur recherchierte die bis vor wenigen Jahren weitgehend unbekannte Geschichte der Gertrud Stockhausen in Archiven. Das berichtete der Literaturwissenschaftler Reinhard Pabst gestern beim musik-historischen Rundgang in Hadamar - einem 10.000 Einwohner-Fachwerkstädtchen am Südrand des Westerwaldes mit einem alten Psychiatriekomplex als großem Arbeitgeber.
    Gertrud Stockhausen wurde 1941 aus der psychiatrischen Anstalt Galkhausen bei Köln nach Hadamar verlegt, so Pabst:
    "Nur mit dem einzigen Zweck – sie kam hier an, Gertrud Stockhausen 1941 - und wurde oben in der Tötungsanstalt noch am selben Tag vergast."
    Schicksal der Gertrud Stockhausen erst spät bekannt geworden
    Den Enkeln der Ermordeten, dem Komponisten Simon Stockhausen sowie dem Trompeter Markus Stockhausen waren die genauen Umstände des Schicksals ihrer Großmutter bis zu den Recherchen der Schülerin vor einigen Jahren nicht bekannt. Das berichtete der Literaturwissenschaftler Reinhard Papst der rund 20-köpfigen Gruppe, die am Rundgang durch Hadamar teilnahm:
    "2013 gab es ein erstes Familientreffen hier in Hadamar. Da haben sich Angehörige der Familie getroffen, die sich vorher nie gesehen hatten. Die Kinder Stockhausens reisten aus Frankreich und aus Norwegen an Die beiden Söhne, die selbst Musiker sind, Markus Stockhausen und Simon Stockhausen waren auch da. Markus Stockhausen hat improvisiert. Das, was ihm der Moment eingab, spontan zu Tönen verwandelt."
    Simon Stockhausen schuf wenig später ein Stück, das er seiner ermordeten Großmutter widmete. Reinhard Pabst spielte es gestern vor - am Rande des Psychiatriegeländes mit der Gaskammer auf einem Hügel über dem Tal des kleinen Elbbaches, der durch Hadamar fließt:
    "Simon Stockhausen, Jahrgang 67, ist ja benannt nach seinem Großvater Simon Stockhausen, also nach dem Ehemann von Gertrud Stockhausen. Und dieser Simon Stockhausen war maßgeblich daran beteiligt, seine Frau hinter die Mauern einer geschlossenen Anstalt zu bringen, hat sich dann, als die psychiatrisiert war, von ihr scheiden lassen, ist in die NSDAP eingetreten. Also war wirklich ein Halunke, wie man sagen muss und das nun ausgerechnet der Enkel, der ja diesen Namen trägt, sich in dieser Weise mit dem Fall auseinandersetzt, berührt mich sehr."
    Musikalische Auseinandersetzung mit den Euthanasiemorden von Hadamar
    Der Salzburger Wolfgang Florey ist ein weiterer Komponist zeitgenössischer Musik, der sich in seinem Werk mit den Euthanasiemorden von Hadamar auseinandersetzte. Für Florey ist der Bahnhof von Hadamar das Geschichtszeichen, das neben den sogenannten grauen Bussen für den Transport vieler tausend Menschen in die hessische Tötungsanstalt steht.
    Aus Wetzlar ist Regina Heimen gekommen, um am "Tag der Musik" mit der Gruppe den Gedenk-Weg aus dem Ortskern von Hadamar zu den alten Psychiatriegebäuden auf einem Hügel zu gehen. Auch ihre Mutter ist ein Mordopfer:
    "Meine Mutter ist 44 hier umgebracht worden. Die war in Warstein, ist dann hierhin gebracht worden und da hatten die Großeltern gleich gesagt: Da wird sie nicht mehr lange leben."
    Ein Rettungsversuch der Familie schlug fehl, erzählt Regina Heimen. Auch den Großeltern wurde 1944 unverhohlen mit der Ermordung gedroht, als sie die Tochter aus der Tötungsanstalt herausbekommen wollten, so Heimen:
    "Was mich stört, als ich hier her kam: Anfang 1980, waren ganz lange Listen, wo alle Namen draufstanden oder ganz viele. Unter anderem auch der Name meiner Mutter. Und irgendwann vor zwei Jahren ungefähr, bin ich hier her gekommen und man hat das geändert, diese Listen sind weg und es sind nur noch ein paar ausgewählte Namen, die sie sich betrachten können."
    Anna Theis recherchierte als Schülerin des nahegelegenen Musikgymnasiums Montabaur zu einem weiteren Hadamaropfer: Berta Ebeling. Sie ist im Saarland begraben, Eblings Grab könnte demnächst aufgelöst werden. Damit dürften sich die Spuren auch dieser Ermordeten langsam verlieren - außer in der Kunst. Denn Bertha Ebling war verwandt mit dem prominenten Zeitzeugen Kurt Gerstein und ist deshalb im Theaterstück "Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth erwähnt sowie in einem Spielfilm von Costa Gavras. Anna Theis plädierte am Schluss des gestrigen Rundgangs vor dem Eingang zur Gaskammer von Hadamar dafür, das Grab von Bertha Ebling zu erhalten:
    "Die konkrete und die symbolische Erinnerung gerade an sie, auch in Form ihres authentischen Grabsteins, ist von allgemeinem Interesse. Ihr Name steht stellvertretend für so viele Opfer der Mordaktion T 4, über denen Identität, deren Leiden und deren Leben wir überhaupt nichts wissen."
    Auseinandersetzung in der TV-Serie "Holocaust"
    Nicht Musik, Theater oder Kinofilm, sondern eine Fernsehserie gab Ende der 1970er-Jahre einen weiteren Schub für öffentliche Auseinandersetzung mit den NS-Mordaktionen an Psychiatrie-Patienten. In der vielbeachteten TV-Serie "Holocaust" spielte damals nämlich auch die hessische Euthanasie-Anstalt Hadamar eine Rolle. Der Literaturwissenschaftler Reinhard Pabst:
    "Das scheint in Hadamar solches Entsetzen ausgelöst zu haben, man kann das auch an bestimmten Reaktionen ablesen, die dokumentiert sind unter anderem im Spiegel, das man sich wie ich vermute von städtischer Seite überlegt hat, was kann man tun, um das ramponierte Image der Stadt aufzupolieren."
    "Hadamar im Elbbachtal lädt sie alle ein."
    Heinz Schenk kam mit seiner heimatseligen TV-Sendung "Der blaue Bock" nach Hadamar.
    Für den größtmöglichen Kontrast zur seichten Fernsehunterhaltung sorgt in der Musikgeschichte von Hadamar jedoch eindeutig die Stockhausen-Oper "Donnerstag aus Licht" in der jüngsten Baseler Aufführung von Lydia Steier.
    Es war 2016 die erste Inszenierung des Stücks seit über 30 Jahren. Die Recherchen der Schülerin aus Montabaur flossen in die viel gelobte Opernfassung ein, so Reinhard Pabst. Ein bisheriger Höhepunkt der künstlerischen Erinnerungsarbeit zu Hadamar.
    "50 Opern-Kritiker aus Europa und Amerika haben diese Inszenierung zur Aufführung des Jahres gewählt."