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"Musiker zu sein ist kein Beruf"

Schon zu Lebzeiten war Arturo Benedetti Michelangeli eine Legende: einer der größten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Er gab schon mit elf Jahren viel älteren Schülern Klavierunterricht und entwickelte sich zu einem ungeheuren Präzisions- und Klangfanatiker. Er wurde am 5. Januar 1920 in Brescia geboren.

Von Dietmar Polaczek | 05.01.2010
    Musik: Chorsatz Benedetti Michelangeli: "Era nato poveretto"

    Nein, wir haben nicht die Musik verwechselt, auch wenn kein Klavier zu hören ist. Arturo Benedetti Michelangeli, am 5. Januar 1920 in Brescia als Sohn eines Pianistenehepaars geboren, war nicht nur einer der größten Virtuosen des 20. Jahrhunderts. Er hat auch Komposition studiert. Als er im Jahr 1949 in Bozen zu unterrichten begann und den berühmten Bergsteigerchor der SAT in Trient kennenlernte, hat er für ihn neunzehn Volkslieder recht unkonventionell bearbeitet.

    Benedetti Michelangeli begann als kränkelndes Wunderkind. Wollte Geige lernen, wechselte aber wegen seiner Schwächlichkeit zum Klavier und zeigte schon früh unglaubliche Fingerfertigkeit und pädagogische Begabung. Mit elf unterrichtete er ältere Klavierschüler. Mit neunzehn gewann er den Klavierwettbewerb in Genf, und der greise Alfrèd Cortot rief aus:

    "Ein neuer Liszt ist geboren!"

    Seine Interpretation der virtuosen Klaviersonaten Domenico Scarlattis gilt noch heute als mustergültig:

    Musik: Domenico Scarlatti: Sonate D-Dur K 96

    Mit Glenn Gould, dem zwölf Jahre jüngeren Antipoden, teilte Benedetti Michelangeli die Kontrollsucht und Besessenheit. Sein Präzisions- und Klangfanatismus war grenzenlos, er führte in späteren Jahren einen Klavierstimmer und zwei eigene Konzertflügel mit sich und sagte beim kleinsten Umstand, der den Perfektionisten störte, Konzerte ab - sogar wenn das Publikum schon im Saal saß. Aber wenn er spielte, gelang ihm das Schwierigste makellos, etwa die berüchtigten Paganini-Variationen von Brahms:

    Musik: Johannes Brahms: Paganini-Variationen

    Er hat sicher in seinem ganzen Leben nicht so oft danebengegriffen wie der berühmte Arthur Rubinstein in einem einzigen Rachmaninow-Prélude. Er war für die meisten ein Wahnsinniger. Über sich sagt er:

    "Pianist und Musiker zu sein ist kein Beruf. Es ist eine Philosophie, eine Lebensform, die sich weder auf gute Absichten noch auf das natürliche Talent stützen darf. Vor allem anderen braucht es eine unvorstellbare Opferbereitschaft."

    In seinem Kultroman "Der Ruinenbaumeister" hat ihm Herbert Rosendorfer ein surrealistisches Denkmal gesetzt, in der Verkleidung des exzentrischen Cellisten Sant'Angeli, den niemand je spielen gehört hat. Benedetti Michelangeli ließ sich sehr wohl hören, und selbst der gefürchtete Musikkritiker Joachim Kaiser konnte ins Schwärmen geraten:

    "Diesen außerordentlichen Interpreten habe ich zwischen 1955 und 1985 zehn- oder elfmal im öffentlichen Konzert gehört. Einige seiner Darbietungen zählten zu den schönsten und faszinierendsten Konzerteindrücken meines Lebens."

    Musik: Claude Debussy: Les sons et les parfums dans l'air du soir

    Der Klangzauberer übertraf noch den Virtuosen. Kein Wunder, dass ihn der Zauberklang Claude Debussys faszinierte. Dieser Titel aus den Préludes scheint wie für ihn gemacht:

    "Les sons et les parfums tournent dans l'air du soir" - Die Klänge und Düfte wehen des Abends durch die Luft.
    Bedingungslos wie sein Klavierspiel war Michelangelis Hingabe an die Schüler, unter denen sich so klingende Namen finden wie Jörg Demus, Adam Harasiewicz, Martha Argerich und Maurizio Pollini. Die Bedürftigen unter ihnen unterrichtete er gratis und unterstützte sie. Er gründete einen Klavierwettbewerb, ein Festival in Brescia und 1965 eine Plattenfirma, die aber schon 1968 am Ende war. Wütend über den italienischen Fiskus verließ er das Land und wurde Schweizer.

    Seine größte Liebe galt dem Klavierkomponisten schlechthin: Frédéric Chopin:

    "Sie ist immer meine Welt gewesen. Diese Musik war meine Musik von Anfang an."

    Musik: Frédéric Chopin: Sonate b-Moll op.35

    Am 12. Juni 1995 ist Benedetti Michelangeli in Lugano gestorben. In Brescia gibt es eine Stiftung, die seinen Nachlass pflegt. Schon längst ist er eine Legende. Auf seinem Grab liegen immer frische Blumen.