Donnerstag, 25. April 2024

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Musikerhandschriften. Von Heinrich Schütz bis Wolfgang Rihm

Es sind die vielleicht berühmtesten Triller der Operngeschichte: Der Monolog des Falstaff am Beginn des dritten Aktes zu Giuseppe Verdis gleichnamiger Oper. Ein delirisches Unterfangen, zumal Falstaff direkt vor einem Gasthof sitzt. Doch nun gibt es diese Triller auch zum Mitlesen. Doch nicht in einer formvollendeten, scharfgestochenen Studien-Partitur, sondern in Verdis Handschrift, wenn auch als Nachdruck. Darauf lässt sich genau nachvollziehen, wie Verdi diesen Triller, ausgehend von der Flöte, auf das ganze Orchester ausgedehnt hat. Eine beinahe kriminalistische Spurensuche im Instrumentenwald.

Christoph Vratz | 11.12.2002
    Günter Brosche, langgedienter Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, hat beim Reclam-Verlag in Stuttgart einen Band mit Musikerhandschriften herausgegeben, der sich formal an den ebenfalls dort zuvor erschienenen Band "Dichterhandschriften" anlehnt. Im Großformat sind auf der jeweils rechten Seite 80 Handschriften - Skizzen, Manuskriptseiten, Entwürfe, Schlussfassungen – abgebildet, von Heinrich Schütz bis Wolfgang Rihm. Auf der jeweils linken Seite haben namhafte Musikwissenschaftler übersichtliche Texte verfasst, in denen sie Werk, Komponist und die abgebildete Musik beschreiben und im historischen Kontext erläutern.

    Damit keine Missverständnisse entstehen: Es handelt sich hier nicht um eine Art Musikgeschichte durch die Hintertür, sondern um ein Buch, bei dem man fast schon davor warnen muss, dass es in einem Rutsch und auf klassische Weise "gelesen" wird. Vielmehr gilt es diesen Bildband genauestens zu inspizieren, vor allem natürlich die Manuskripte. Etwa bei Beethovens Violinkonzert. Die abgedruckte Partiturseite zeigt die Takte 77 bis 82 aus dem Finale – und sie geben einen authentischen Eindruck vom Krakelmeister Beethoven, wie er notiert, gestrichen und wieder drüber geschrieben hat. Im Kommentar wird dieser Prozess transparent gemacht:

    Ein halbes Jahr nach der Uraufführung nahm sich Beethoven das Werk anlässlich der Veröffentlichung noch einmal vor. [...] Verleger [...] Clementi hatte ihn überreden können, für das Konzert eine alternative Fassung für Klavier zu schreiben. [...] Beethoven [...] skizzierte dazu einige Gedanken mit Bleistift im Autograf und entdeckte währenddessen die Unzulänglichkeit der ursprünglichen Soloviolinstimme. Als Konsequenz entwarf er nunmehr auch eine neue Variante für dieses Instrument, die er mit dunkler Tinte in seine Partitur eintrug und sorgfältig mit Verweiskreuzen kennzeichnete. [...] Mehrere Eintragungen mit Bleistift sind Zeugnis der erneuten Korrekturlesung.

    Durch diese Gegenüberstellung von Handschrift und Erläuterung wird dem Leser die Möglichkeit geboten, den Prozess des Komponierens (gleichsam im Nachhinein) mitzuverfolgen. Und dabei bietet der Band jede Menge Entdeckungen.

    Da ist beispielsweise die gestochen scharfe Handschrift von Richard Strauss mit einem Ausschnitt aus dem dritten Akt des "Rosenkavalier". Weit wuchtiger dagegen wirkt die zweifarbige Notation der Ölbergszene in Bachs "Matthäus-Passion". Völlig chaotisch indes scheint Alban Berg sich seiner "Lyrischen Suite für Streichquartett" genähert zu haben. Mit Buntstiften hat er in seiner Skizze herum gefuhrwerkt, Taktstriche verlängert, Zahlen an einigen Stellen durchgestrichen, um sie an anderen wieder hinzuzufügen. Hier lässt sich erahnen, was Theodor Adorno einmal mit "Virtuosenstück der Verzweiflung" gemeint hatte.

    Neben bekannten Highlights wie dem "Hallelujah" aus Händels "Messiah" oder einem Ausschnitt aus Mozarts "Requiem" oder sogar dem Original von Franz Xaver Grubers "Stille Nacht, heilige Nacht" enthält der Band auch einige Repertoire-Exoten, etwa Luigi Cherubinis "Faniska", Maurice Ravels "Frontispice" und die eigene Klavierbearbeitung der "Tannhäuser"-Ouvertüre von Richard Wagner. Auch bei moderneren Komponisten wie Stockhausen, Penderecki oder Boulez erhält der Leser zahlreiche authentische Einblicke.

    Brosches Band mit Musikerhandschriften ist eine originelle, teils amüsante, jederzeit spannende Reise durch vier Jahrhunderte Musikgeschichte. Dabei ist sie stets frei von Zwangsbeglückung. Der Leser kann verweilen und Seiten überschlagen, wie es ihm gefällt; er kann sich festbeißen und darf, wo es ihn packt, auch einmal zur Lupe greifen. Zu entdecken gibt es allemal genug.

    Der ideelle Wert eines solchen Buches lässt sich übrigens leicht ablesen an der Tatsache, dass sich von künftigen Komponisten wohl kaum mehr annähernd intensive Werkstattluft einfangen lässt. Denn die meisten von ihnen arbeiten bereits nur noch mit dem Computer.