Freitag, 19. April 2024

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Musikerin Nadine Shah
"Ich will, dass ältere Musikerinnen sichtbar werden"

Kinderkriegen, heiraten, sesshaft werden - auf ihrem neuen Album singt Nadine Shah über den gesellschaftlichen Druck auf Frauen Mitte 30. Frauen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen sollten sichtbarer sein, sagte sie im Dlf. Dazu gehöre auch, dass Frauen ab 50 in der Musikbranche aktiv bleiben.

Nadine Shah im Gespräch mit Christoph Reimann | 27.06.2020
Die Musikerin Nadine Shah posiert vor einer Konzertbühne
"Wenn es sich nicht ergibt, kann ich auch ein wunderbares Leben ohne Kinder führen", sagte die Sängerin Nadine Shah im Dlf. (Fraser Taylor)
Christoph Reimann: Der erste Song auf dem Album heißt "Club Cougar". Nadine Shah, Sie sind jetzt 34. Finden Sie, dass Sie wirklich schon Mitglied in diesem sehr speziellen Club sind?
Nadine Shah: Club Cougar? Ich wünschte, es wäre es so.
Reimann: Echt?
Shah: Ja. Aber zu meinem Pech ist mein Freund zehn Jahre älter als ich. Ich würde ihn wirklich gerne gegen einen jüngeren austauschen. Wirklich gerne.
Reimann: Sie machen jetzt Witze. Aber auf dem Album meinen Sie es durchaus ernst, oder?
Shah: Ja. Wobei es schon so ist, dass ich bei vielen Songs auf dem Album nicht zu ernst klingen wollte. Natürlich meine ich das, was ich in den Songtexten sage. Aber mein letztes Album, ein durch und durch politisches Album, war schon so ernst. Dieses Mal wollte ich einfach etwas mehr Spaß haben. Ich singe über persönliche Erfahrungen, meine persönlichen Erfahrungen als Frau Mitte 30. Es geht um die Frustrationen und den Druck in dieser Lebensphase. Auch wenn die Platte verspielt klingt, die ernste Botschaft ist immer da.
Reimann: Der Kern des Albums ist, dass andere Erwartungen an Frauen gestellt werden als an Männer. Aber worum geht es konkret, wenn wir über Sie als Mittdreißigerin sprechen?
Gesellschaftlicher Druck auf Frauen Mitte 30
Shah: Ich glaube, viele Menschen - und vor allen Dingen Frauen - haben diesen Plan in ihrem Kopf, der auf bestimmte Stufen in verschiedenen Lebensphasen abzielt. Also: Mit 20 werde ich heiraten, mit 22 kommt dann das erste Kind …
Reimann: Absolut unrealistische Vorstellungen für unsere Generation. Ich bin im selben Jahr auf die Welt gekommen wie Sie.
Shah: 1986.
Reimann: Ja.
Shah: Nur die Besten sind da auf die Welt gekommen. Und Sie haben recht: Wenn man dann tatsächlich 20 ist, stellt man fest, dass man eigentlich noch ein Baby ist. Man will die Welt sehen und nicht heiraten. Bei mir war es so, dass ich dann den Plan mit dem Heiraten nach hinten geschoben habe. Ich dachte, ich erledige das dann eben mit 30, und das Kind kommt dann mit 32. Und jetzt bin 34, unverheiratet und von einem Kind keine Spur. Statt den Plan jetzt noch mal nach hinten zu schieben, habe ich gleich ganz damit aufgehört, einen zu haben. Denn so ein Plan verstärkt doch nur die Unsicherheiten und den Druck - die Dinge, die ich ohnehin schon mit mir herumschleppe. Wenn es sich nicht ergibt, kann ich auch ein wunderbares Leben ohne Kinder, ohne Ehemann führen.
Reimann: Es gibt da einen Song auf dem Album, in dem es ganz deutlich um das Ende der Fruchtbarkeit geht. Ich meine den Song "Trad". Das ist auch insofern ein interessanter Song, als Frauen normalerweise nicht darüber singen. Oder irre ich mich?
Shah: Ja. Ich hatte das Gefühl, gerade jetzt darüber sprechen zu müssen, weil ich immer danach gefragt wurde. Immer wieder. Immer wieder wird mir deutlich gemacht, wie alt ich bin.
Reimann: Von Freunden, Ihren Eltern? Von wem?
Die britische Musikerin Nadine Shah trinkt aus einem Glas.
Die britische Musikerin Nadine Shah trinkt aus einem Glas. (Fraser Taylor)
Shah: Eltern, Freunde, wenn auch nicht unbedingt gute Freunde. Die fragen mich: "Wie alt bist du?" "34." "Oh, bist du verheiratet?" "Nein." "Oh. Hast du Kinder?" "Nein." "Ooooh! Da musst du dich aber echt beeilen." Ständig werde ich daran erinnert, dass meine Zeit abläuft. Das ist schrecklich! Warum fragen die Leute mich nicht einfach, wie es mir geht? Wie meine Karriere läuft? Das wären viel bessere Fragen!
Reimann: Wie soll es einem da gelingen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden?
"Wenn du es sehen kannst, kannst du es auch sein"
Shah: Wir haben hier in Großbritannien dieses ziemlich kitschige Sprichwort: Wenn du es sehen kannst, kannst du es auch sein. Ich glaube einfach, wir brauchen mehr Sichtbarkeit unterschiedlicher Lebensentwürfe. Ich würde mich jetzt sicherlich ganz anders fühlen, hätte ich früher schon die Stimmen anderer Frauen gehört. Frauen, die unterschiedliche Lebensgeschichten haben, unterschiedliche Lebensentwürfe. Hätte ich das früher in meinem Leben haben können, wäre ich heute weitaus weniger unsicher, ich hätte weniger Schmerz aushalten müssen.
Reimann: Aber als Sie in den 1990er-Jahren aufgewachsen sind, da gab es doch ein paar Frauen in der Popmusik. Tori Amos oder PJ Harvey. Haben Sie nicht deren Songs gehört, haben sie eher den Mainstream verfolgt, wo ganz oft eher ein altes Frauenbild gefestigt wurde?
Shah: PJ Harvey habe ich tatsächlich erst entdeckt, als ich mein erstes Album rausgebracht habe.
Reimann: Wirklich?
Shah: Ich hatte keine Ahnung, wer sie ist. Die Leute haben mich beim ersten Album ständig mit ihr verglichen. Und ich habe mich immer gefragt: PJ Harvey, was ist das für ein Typ? Heute liebe ich PJ Harvey, ich liebe Tori Amos, auch Joni Mitchell. Aber als ich aufgewachsen bin, habe ich Mariah Carey und Whitney Houston gehört. Und wenn man sich anguckt, wie Mariah Carey von einem Mann behandelt wurde - das ist ekelerregend. Ich finde nach wie vor, dass sie eine tolle Musikerin ist.
PJ Harvey as featured in Seamus Murphy's film   "A Dog Called Money". His feature documentary on their collaboration traces the sources of the songs that were inspired by their travels, and tells stories of the some of the people and places they encounted along the way.
PJ Harvey (© Seamus Murphy)
Songs übers Unsichtbar-Werden in der Gesellschaft
Aber ich habe damals nicht mitbekommen, dass es Frauen gibt, die über die Themen singen, die mich heute beschäftigen. Songs übers Älterwerden, übers Unsichtbar-Werden in unserer Gesellschaft. Das übrigens beschäftigt viele Frauen. Auch mit meiner Mutter habe ich darüber gesprochen. Sie hat gesagt: Je älter du wirst als Frau, desto unsichtbarer wirst du dir vorkommen. Und das regt mich echt auf! Das bricht mir das Herz! Denn meine Mutter wird jeden Tag, mit dem sie älter wird, auch immer schöner. Sie hat am meisten zu erzählen, sie hat die besten Geschichten, sie hat Glamour, sie ist cool. Aber im Mainstream-Pop, mit dem ich aufgewachsen bin, war für solche Frauen kein Platz. Ich wusste ja nicht mal, dass Frauen Haare unter den Achseln haben können.
Reimann: Sie haben wohl auch Ace of Base gehört. Ein Song auf dem Album spielt auf den Song "All That She Wants" von Ace Of Base an. Ihr Song "Ladies For Babies (Goats For Love)". Können Sie erklären, was dahintersteckt?
Shah: Ich muss immer lachen, wenn Leute den Songtitel aussprechen: "Ladies For Babies (Goats For Love)". Ich liebe es, das zu hören. Ladies fürs Kinderkriegen, Ziegen für die Liebe. Und zu "All that she wants" von Ace Of Base: Als ich aufgewachsen bin, habe ich diesen Song geliebt. Wirklich!
Reimann: Ist ja auch ein großer Song! Toller 90er-Jahre-Song.
Shah: Und das ist genau die Sache: Viele Songs, die ich als Kind und Teenagerin gehört habe, empfinde ich heute als total falsch. Ich spreche von den Texten. Ace of Base ist da ein gutes Beispiel. All that she wants is another Baby. Ich verstehe das so: Alles, was sie will, ist ein weiteres Kind, nimm dich in acht! Da wird also eine rücksichtslose Frau beschrieben, die auf Männerjagd geht, allein zum Zweck der Fortpflanzung.
Die Sängerin Rihanna steht bei den Brit-Awards 2016 in London auf dem roten Teppich.
So werden Hits gemacht
Nicht nur der Sound der Pophits hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert – auch die Art, wie sie geschrieben werden. Die Sendung blickt in die Pop-Fabriken von heute und geht der Frage nach: Wie werden Hits gemacht?
Es gibt so viele großartige Songs, die furchtbare Texte haben. Andy Williams mit "Music To Watch Girls By". Gespenstisch! Es gibt auch total viele Songs über blutjunge Mädchen. "Young Girl Get Out Of My Mind" von Gary Packet & The Union Gap. Es gibt so viele tolle Lieder, deren Botschaft gefährlich ist. Richtig misogyne Songs!
Ich sage ja gar nicht, dass man diese Songs verbieten sollte. Nur ich finde: Wir sollten solche Songs auch unbedingt aus der Perspektive einer Frau hören. Viele Songs auf meinem Album sind daher als Antwort auf alte Songtexte zu verstehen. Lasst uns diese Songs modernisieren!
"Was uns fehlt, sind die Stimmen älterer Frauen"
Reimann: Aber inwiefern ist "Ladies For Babies (Goats For Love)" eine Antwort auf Ace of Base?
Shah: Ich wollte den Song von Ace of Base unterwandern, die Geschichte alternieren. Vielleicht handelt es sich tatsächlich um einen Mann, der auf der Suche nach einer Frau ist, weil er ein Kind haben will. Weil er seinen Samen verstreuen will. Vielleicht wird die Frau wie ein Tier auf einem Bauer-nhof behandelt, das nur dazu da ist, Nachkommen zu produzieren. Deshalb singe ich: Ladies for Babies, Goats for Love. Ladies zum Kinderkriegen, Ziegen für die Liebe. Vielleicht, dachte ich mir für meinen Song, will ein Mann einfach nur dafür sorgen, dass sein Name auch in der nächsten Generation fortbesteht.
Reimann: Sie haben vorhin Ihre Mutter erwähnt, die Ihnen sagte: "Je älter Frauen werden, desto weniger werden sie wahrgenommen in unserer Gesellschaft." Das ist etwas, das insbesondere für den Pop gilt. Frauen wird das Älterwerden kaum zugestanden. Das ändert sich zwar gerade. Aber wie ist das für Sie? Denn einen Song, in dem es um Sie geht in der Musikindustrie, den gibt es -nicht, oder?
Shah: Nein, den gibt es nicht. Aber ich habe vor, Musik zu machen, bis man mich und meinen Rollstuhl von der Bühne schieben muss. Ich will, dass ältere Musikerinnen sichtbar werden. 2016 gab es in den britischen Charts unter den ersten zehn Plätzen drei Männer, die 60 oder älter waren: Leonard Cohen, David Bowie und Nick Cave. Wann gab es das schon mal mit Frauen? Nie. Ich wiederhole mich: Wenn du es siehst, kannst du es sein.
Sängerin Amy Winehouse bei einem Auftritt beim Glastonbury Festival im Juni 2008.
Sängerin Amy Winehouse (picture alliance / dpa / Frantzesco Kangaris)
Tatsächlich versuche ich im Moment, eine Initiative in Großbritannien loszutreten, die folgendes Ziel hat: Sie soll Frauen, die ihren Job in der Musikindustrie zugunsten ihrer Kinder aufgegeben haben, darin ermutigen, wieder in die Musikbranche zurückzukehren. Ganz gleich ob es sich dabei um Musikerinnen handelt, um Roadies oder um Frauen, die für Labels gearbeitet haben. Wir brauchen diese Frauen! Klar, auch die Sichtweisen von jungen Frauen sind interessant. Aber davon gibt es schon relativ viele. Was uns wirklich fehlt in der Musikindustrie, sind die Stimmen älterer Frauen.
Ich wünschte, Amy Winehouse wäre heute noch unter uns. Denken Sie doch nur mal darüber nach, was für Songtexte Amy Winehouse mit Mitte 50 schreiben würde! Oder mit Mitte 60! Ich wünschte, dass es das gäbe. Das würde neue Perspektiven aufzeigen, das würde uns auch mal zum Lachen bringen, weil wir uns selbst darin wiedererkennen würden. Leider hat COVID-19 die Initiative erst mal zum Erliegen gebracht.
Reimann: Vielleicht ist es dann aber auch gerade eine gute Zeit.
Shah: Ja, ich kenne viele tolle Musikerinnen, die gerade jetzt aufgehört haben, zu arbeiten. Weil sie glauben, dass sie nicht mehr relevant sind. Die werde ich mir schnappen und sie zurückbringen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.