Donnerstag, 18. April 2024

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Musikfest ION in Nürnberg
Ein Hörfenster für Neue Kirchenmusik

Taiku-Trommeln, Engelsvorstellungen, die Schöpfung und der Versucher: Das Kirchmusikfest ION präsentiert zeitgenössische sakrale Musik und spiegelt aktuelle theologische Debatten. Im Zentrum steht die Orgel - und die steigende Sehnsucht unserer Gesellschaft nach Ruhe und Spiritualität.

Von Claus Fischer | 28.06.2021
Eine Orgel in einem Kirchenraum.
Instrument des Jahres 2021: die Orgel - Höhepunkte des modernen Orgelrepertoires gibt auf dem Musikfest ION zu hören (Hans von Draminski)
Absolut still ist es unter dem gotischen Gewölbe. Im Halbdunkel erkennt man vor dem Altar der Kirche St. Sebald eine riesige Trommel. Ein Mann in traditioneller japanischer Kleidung erscheint. Er kniet nieder, hebt mit einer ausladenden Geste die Schlegel und beginnt, das Instrument zu bespielen.
"Die Trommel heißt auf japanisch Taiku."
Erklärt der Münchner Komponist und ehemalige Intendant des Musikfestes ION Wilfried Hiller:
" … und groß bedeutet wie im Griechischen O-mega ‚O-daiku‘ mit weichem d, heißt ‚die ganz große Trommel‘."

Schöpfungsgeschichte als klingendes Mosaik

Was Wilfried Hiller hier musikalisch schildert ist der Ur-Wirbel. Die ersten Worte der hebräischen Bibel, des christlichen Alten Testaments: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde". Und die Erde war "tohu wa bohu", heißt es im hebräischen Originaltext. Martin Luther hat das mit "wüst und leer" übersetzt, der jüdische Philosoph und Schriftsteller Martin Buber dagegen mit den Worten "Irrsaal und Wirrsaal". Wilfried Hiller:
"Also alles das, was man im Alten Testament nicht versteht hat er so ins Deutsche übertragen, dass man es im Deutschen auch nicht versteht, und dann nachdenkt, ja?
Zum Taiku-Trommler treten zwei weitere Perkussionisten an den Altar, dazu eine Geigerin im - so hat Hiller es in der Partitur vorgeschrieben - roten Kleid. Sie verkörpert Gott und spielt, zunächst unhörbar, den Kammerton "a". Allmählich entwickelt sich daraus eine Melodie - Sinnbild für das aufkeimende Leben auf der Erde.
Doch das friedliche Klangbild wird jäh gestört, denn "der Versucher", wie er im Libretto heißt, taucht auf, verkörpert durch einen Countertenor. Er will das Werden von Leben mit aller Macht verhindern.
"Schöpfung - ein klingendes Mosaik" hat Wilfried Hiller sein einstündiges Singspiel genannt, das 2017 im Rahmen einer internen Veranstaltung der katholischen Akademie in München uraufgeführt wurde, und nun im Rahmen des Musikfestes ION in Nürnberg erstmals von einem größeren Konzertpublikum zu erleben war, ausgeführt von Solisten, sowie den Ensembles "Die Singphoniker" und "Drumaturgia". Das Libretto schuf der evangelische Nürnberger Regionalbischof Stefan Ark Nitsche auf der Basis der Bibelübersetzung Martin Bubers. Die Idee zum Werk bekam der Komponist, der im März 80 Jahre alt geworden ist und ein beachtliches Oeuvre an Musik unterschiedlichster Genres geschaffen hat, in der katholischen Akademie in München. Beim Rundgang fiel ihm ein Mosaik auf, zusammengefügt aus 32 Glassteinen. Geschaffen hat es die Künstlerin Antje Tesche-Mentzen. Wilfried Hiller:
"Und ich sagte dem Direktor: Das klingt! Das würde ich gerne in Musik setzen! Sagt er: Herr Hiller, wir haben eine Möglichkeit! Wir feiern sechzig Jahre katholische Akademie, da möchten wir das gerne für unsere Gäste aufführen. Da hab ich gesagt: ich hab einen Librettisten, der ist zwar nicht katholisch, der ist protestantischer Bischof. Sagt er: Wir sind eine ganz offene Familie. Die anderen Teile des Textes sind ja von Martin Buber, der jüdisch war. Und so kommt dann also Vieles hinein in diese Szene."

Sakralmusik, Theologie - und aktuelle Debatten

Der Versucher, sprich die Allegorie des Bösen, entwickelt sich in Wilfried Hillers Singspiel interessanterweise nicht zum Widersacher Gottes, sondern zum Teil von dessen Schöpfung und ihm damit untergeordnet. Die Geigerin saugt seine Stimme mit ihrem Ton auf. Doch ist die Schöpfung damit wirklich gut? Angesichts des vielen Leids, das die Menschen verursachen? Die Frage beantwortet Hiller nicht. Das Spiel endet mit der Anrede an Gott "Du bleibst das Geheimnis".
Einmal mehr zeigt sich, dass das Musikfest ION immer ein Spiegel gegenwärtiger Sakralmusik und gleichermaßen Theologie ist, dass es aktuelle Diskurse innerhalb der Kirchen aufgreift.
Musikerinnen und Musiker im Altarraum einer Kirche mit Instrumenten.
Sakrale Musik und die aktuellen Debatten um die Kirche - eine Spannungsfeld (Kirchenmusikfestival ION / Thomas Radlwimmer)
"Für mich wird in der Kirche gerungen, um den richtigen Weg, sich auseinandergesetzt, getröstet, geheilt."
Sagt der Intendant des Festivals Moritz Puschke:
"Sicher - wir wissen, dass aus vielen nachvollziehbaren Gründen die Menschen die großen Kirchen verlasen, manchmal auch unter schwierigen Umständen. Gleichermaßen gibt es eine Sehnsucht nach Einkehr, nach Ruhe, nach Spiritualität. Und ich sehe, dass die sakrale Musik hier eine riesige Chance hat, vielleicht diese Menschen auch wieder in Dialog mit diesem Kirchenraum bringen."

Die Orgel im Fokus

Das Musikfest ION wird von einer Stiftung getragen. In deren Leitungsgremium sitzen selbstverständlich Vertreterinnen und Vertreter des Freistaates Bayern und der Stadt Nürnberg, aber auch der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern und der beiden für Nürnberg zuständigen katholischen Bistümer Bamberg und Eichstätt. Intendant Moritz Puschke hat dadurch unter anderem den konkreten Vorteil, für seine Konzerte keine Saalmiete zahlen zu müssen, besonders wertvoll in Zeiten von Corona mit dem derzeit reduzierten Angebot von Sitzplätzen. Zu erleben sind diesmal außer dem Windsbacher Knabenchor lediglich klein besetzte Vokal- und Instrumentalensembles. Die Jubiläumssaison 2021 war ursprünglich natürlich anders geplant. Moritz Puschke:
"Ich hatte die h-Moll-Messe vor mit dem "Ensemble 1704". Ich hatte Chorwerk Ruhr mit Florian Helgath eingeladen, ich hatte den RIAS-Kammerchor eingeladen mit einem Praetorius-Programm. Alle haben Verständnis, dass wir das so nicht realisieren können."
Die notwendige Beschränkung hatte aber auch etwas Gutes am ersten Festivalwochenende. Denn so rückte die Orgel stärker in den Focus. Sie wurde ja von den meisten Landesmusikräten zum Instrument des Jahres 2021 bestimmt. Moritz Puschke:
"Das ist mir Auftrag, das ‚O‘ steckt im Namen, das ist der rote Faden. Wir haben hier fantastische Orgeln, multifunktionale Orgeln im besten Sinne in Sebald und Lorenz mit einer Riesentradition!"
Zahlreiche Orgelwerke prominenter Komponisten sind im Rahmen der ION in den letzten siebzig Jahren uraufgeführt worden, etwa vom Franzosen Olivier Messiaen, vom Tschechen Petr Eben oder vom Schweden Bengt Hambraeus. Martin Schmeding, Professor für Orgel an der Leipziger Musikhochschule wählte für seinen Konzertabend zwei Kompositionen aus, die in den Nullerjahren im Rahmen des Festivals uraufgeführt wurden, "Amen. Halleluja" von Thomas Daniel Schlee, einem Schüler Messiaens und " … mit gänzlich fremder Ähnlichkeit" von Johannes Kalitzke, ein Werk, das sich mit der Vorstellung von Engeln auseinandersetzt:
"Diese beiden Stücke finde ich absolute Höhepunkte im modernen Orgelrepertoire, im zeitgenössischen! Das Thomas-Daniel Schlee Stück ist in der Qualität an Messiaen anknüpfend im Stil. Und das Stück von Johannes Kalitzke, der eben kein Organist, sondern Komponist und Dirigent ist, geht ganz anders an die Orgel ran - aber mit wie ich finde erstaunlichen spannenden Klängen und enormen technischen Anforderungen, die er - wie sich aus einem Telefonat ergab - auch umgesetzt haben möchte in alle Schnelligkeit und Virtuosität.
Gerade dieser rhythmische orchestrale Stil, von Bartok oder Strawinsky, das ist etwas, was bei der Orgel noch viel zu selten existiert, gerade deshalb finde ich das phänomenal."
"Prüfet alles, aber das Gute behaltet", dieser Satz des Apostels Paulus lässt sich hervorragend auf den interessanten Fundus an Werken beziehen, der im Rahmen des Festivals in den letzten siebzig Jahren uraufgeführt wurde. In den nächsten Jahren soll es weitere lohnende Rückgriffe geben, aber immer verbunden mit Uraufführungen. Denn neben den Kasseler Musiktagen ist das Musikfest ION das wichtigste Hörfenster für Neue Kirchenmusik in Deutschland.