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Musikforschung
Wenn Pygmäen Beethoven hören

Eine Beethoven-Sonate, ein Rock-Song der Rolling Stones, Reggae von Bob Marley: Musik setzt Emotionen frei. Ob Musik bei allen Hörern dasselbe auslöst, haben Kommunikationsforscher aus Berlin und Neurowissenschaftler aus Leipzig im Labor und im afrikanischen Urwald untersucht und sind zu erstaunlichen Ergebnissen gelangt.

Von Lennart Pyritz | 05.02.2015
    Ein Schlaflied der Pygmäen aus dem kongolesischen Dschungel oder der Soundtrack des Alfred-Hitchcock-Schockers "Psycho": ein wohliges Gefühl von Geborgenheit oder Herzrasen und Gänsehaut.
    "Wir wissen alle, dass Musik eine starke Wirkung auf uns hat. Eine der Hauptmotivationen in unserem Kulturkreis ist es, Musik zu hören, weil sie emotional wirkt."
    Dabei löst Musik ganz unterschiedliche Reaktionen aus. Sicherlich spielen individuelle Erfahrungen eine Rolle, doch gibt es auch Eigenschaften von Musik, auf die alle Menschen gleich reagieren? Ist Musik eine universelle Sprache der Gefühle? Diese Frage stellte sich ein Team um den Musikwissenschaftler Hauke Egermann von der Technischen Universität Berlin.
    "Was gibt es da vielleicht für Zusammenhänge zwischen musikalischen Strukturen und ihren Wirkungen, und sind diese Zusammenhänge durch Lernen beeinflusst, sind sie durch kulturelles Wissen, individuelles Wissen beeinflusst? Was sind die mentalen Vermittlungsprozesse dahinter?"
    Gemeinsam mit einer kanadischen Musikethnologin wählte er zwei Versuchsgruppen aus, die musikalisch aus unterschiedlichen Welten stammen. Zum einen kanadische Musikhörer. Zum anderen Mbenzélé-Pygmäen, die isoliert im kongolesischen Regenwald leben.
    "Das heißt, diese Menschen dort haben noch nie westliche Musik gehört und konnten nie lernen, mit dieser Musik außermusikalische Dinge zu verbinden, also zu assoziieren."
    Ein unterschiedlicher Gebrauch von Musik
    Auch der Gebrauch von Musik in beiden Gruppen unterscheidet sich deutlich. Die Musik der Pygmäen soll immer die Stimmung aufhellen. Keine verzweifelten oder zornigen Lieder, sondern Lieder gegen Trauer und Lieder gegen Wut.
    "Diese Musik hat nie selber den Zweck, diese negativen Affekte auszudrücken. Das ist anders als in der westlichen Musik, wo man ganz gezielt traurige Musik komponiert, vielleicht aggressive Klänge einsetzt."
    So könnten mit der westlichen Musik unterschiedliche Gemütszustände ohne Konsequenzen ausgelebt werden, vermutet Egermann – eine Art seelischer Reinigung.
    "Negativität zu erleben, ohne dass sie real ist. Simulierte Traurigkeit. Simulierte Wut oder Aggressivität. Das einfach mal so rauszulassen."
    Pygmäische Musik für Beerdigungen, die Tondichtung "Tod und Verklärung" von Richard Strauss, aber auch beschwingte Melodien wie der Soundtrack zu einer Barszene aus dem Science-Fiction-Epos "Star Wars": Die Wissenschaftler spielten den Kanadiern und den Pygmäen Ausschnitte von emotional angelegten Musikstücken des eigenen und des jeweils fremden Kulturkreises vor und maßen die Reaktionen. Das subjektive Erleben erfassten die Forscher mithilfe eines Computerprogramms und eines Touchscreens.
    "Das ist ein zweidimensionaler Raum, also ein Quadrat. Und in dem kann man seinen Finger bewegen, also wenn man drauf zeigt und während man das Stück hört kontinuierlich anzeigen, wie das Stück auf einen wirkt. Und dabei muss man zwei grundlegende emotionale Qualitäten unterscheiden und dann das Ausmaß dieser Qualitäten abbilden.
    Das eine ist das Ausmaß der Erregung des Gefühls, das man gerade empfindet. Und das andere ist, ob das Gefühl eher positiv oder eher negativ ist. Und das ist dann stufenlos in diesem Raum abbildbar."
    Zudem protokollierten die Forscher mittels Sensoren körperliche Reaktionen für das Maß der Erregung: den Hautleitwert, die Atemrate und die Herzfrequenz.
    Interkulturelle Gemeinsamkeiten beim Musikgenuss
    Was sich zeigte: Wirkte Musik aus dem eigenen Kulturkreis anregend auf die westlichen Hörer, war diese Erregung auch physisch messbar – die Probanden schwitzten mehr, ihre Atmung beschleunigte sich, das Herz schlug schneller. Und: Ganz ähnliche körperliche Reaktionen zeigten auch die Pygmäen beim Hören der westlichen Musik.
    "Und was wir auch gesehen haben, dass, wenn die westlichen Hörer ihre Musik als stimulierend einstufen, dass die Pygmäen dem auch entsprochen haben."
    Emotional fiel die Bewertung der Musiken allerdings sehr unterschiedlich aus: Während die Kanadier in komplexe positive und negative Kategorien sortierten, bewerteten die Pygmäen die westlichen Stücke einheitlich neutral mit negativer Tendenz.
    Bei den Musikbeispielen der Pygmäen stimmte die subjektive Bewertung beider Versuchsgruppen ebenfalls nicht überein. Es gab auch keine ähnlichen körperlichen Reaktionen, wie sie die Wissenschaftler bei der westlichen Musik beobachteten. Das Fazit von Egermann:
    "Musik ist eine Sprache, universelle Sprache, mit der man nur etwas über den Erregungsgrad aussagen kann, und es wird sehr schwierig noch weitere Informationen darüber zu kommunizieren."
    Gefühle schwer messbar
    Musik kann also kulturübergreifend körperlich stimulieren. Dabei spielen besonders die Tonhöhe, das Tempo und die Klangfarbe eine Rolle, wie Egermann und seine Kollegen herausfanden. Ob sie dabei positive oder negative Gefühle mit sich bringt, hänge dagegen ab von individuellen Assoziationen und Eigenheiten des jeweiligen Kulturkreises.
    Einen eigenen Kulturkreis bilden auch die Mafa im Mándara-Gebirge Nord-Kameruns.
    "Es gibt noch Mafa, die leben sehr, sehr konservativ",
    sagt Tom Fritz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Mithilfe der von musikalischen Einflüssen weitgehend isolierten Westafrikaner hat auch er nach universellen Effekten in der Wahrnehmung von Musik gesucht. In einem Experiment spielte Fritz Mafa-Angehörigen westliche Musikstücke vor, allerdings nicht konsonant, also zusammenklingend, sondern rückwärts gespielt und verzerrt. Die Reaktionen auf die modifizierten Musikstücke ähnelten sich in beiden Kulturkreisen, obwohl die Mafa die Originalversionen noch nie gehört hatten.
    "Alle fanden den Rock'n'Roll in seiner konsonanten Version angenehmer als den Rock'n'Roll in seiner kontinuierlich dissonanten Version. Das war gleichartig bei den Mafa-Hörern und bei den deutschen Hörern."
    Körperliche Reaktionen als interkulturelle Gemeinsamkeit
    Die Studie von Hauke Egermann und dessen Kollegen ergänze die bisherige Forschung zum subjektiven Musikempfinden nun um einen wichtigen Baustein.
    "Was die richtig Neuartiges beitragen, ist, dass sie eben zusätzlich diesen Aspekt der körperlichen Erregung untersucht haben und da interkulturelle Gemeinsamkeiten gefunden haben."
    Fritz weist allerdings auch auf eine Eigenschaft von Musik hin, die mit Absicht nicht universell geteilt werde.
    "Es gibt bestimmte Aspekte von Musik, die sich interkulturell mitteilen. Und andere, die aber auch sehr gut kulturell definiert sein können. Und das eben möglicherweise sogar so angelegt ist, dass es sich nicht interkulturell transportiert.
    Selbst bei uns in der Kultur, ich sage mal in verschiedenen Subkulturen, ist es ja enorm wichtig, dass die eine Musik verstehen, aber ihre Eltern die Musik schon nicht mehr verstehen."