Samstag, 20. April 2024

Archiv


Musikkassette ade

Die Compact Cassette gehörte von den 70ern bis Mitte der 90er in jede Stube, zumindest in jedes Jugendzimmer. Kopfhörer auf - und man war in seiner Welt. Inzwischen hat die Tonträgerindustrie der Kassette als Medium abgeschworen. Und zu Hause sind die Kassettenstapel längst in den Keller oder auf den Dachboden gewandert. Man nimmt sich nicht mehr die Zeit, sie abzuhören. Doch: Genau das kann sich lohnen.

Von Henning Hübert | 12.05.2007
    Raus aus der Hülle, rein in das silbergraue Kassettendeck. Das hatte im Phono-Rack schon ordentlich Staub angesetzt. Die Kassette - schwarze Hülle, knallgelbes Etikett, spielt. Auch nach 25 Jahren Pause. Das Karl May-Hörspiel "Winnetou I". Die Löschzungen aus Plastik am Oberrand der Kassette sind heraus gebrochen - zum Schutz.

    " Ich war erst ein paar Wochen im Wilden Westen. "

    Die Kassetten - reinste Jugenderinnerungen - aus den 70ern, 80ern stapeln sich im Keller. Auch die vom Beginn der 90ger Jahre. Abba-Mitschnitte, Udo Lindenberg, Tonkassetten, von denen man die ersten Computerspiele herunter geladen hat: für den ZX 81 oder den Commodore. Sie sind irgendwie übrig geblieben. Ein Paar C60iger. Doch meistens sind es C90iger Kassetten mit Aufnahmeplatz für zwei Mal 45 Minuten. Die Sorten bunt gemischt: Normal, Chromdioxyd super II oder Metall.

    "Man sieht, es dreht sich was. In de Regel ist dann auch was drauf, wenn sie sich gedreht hat."

    So Walter Schlund, Toningenieur, der für fast alle ARD-Anstalten überträgt und produziert. Was er heute sagt, klingt eher nach Hohelied als nach Requiem für die Compact Cassette. Und ist eine Empfehlung für den Radio-Reporter von heute: Nimm einen Kassettenrekorder zum Interview. Und zieh den Kopfhörer auf. Walter Schlund:

    "Es ist mal was drauf. Bei einem guten Gerät kann man Hinterband abhören. Und dann ist man auf der ganz sicheren Seite. Oder: Lassen Sie mal eine Audiokassette fallen und lassen Sie mal eine Festplatte fallen. Da werden sie sehen, wo sie hinkommen."

    Dennoch: Die CDs, iPods und MP3-Player haben die Kassette inzwischen besiegt. Außer bei den ganz kleinen Hörern:

    " In den CD-Player legen die Kinder ne Scheibe Wurst ein. Bei der Audiokassette kommen die gar nicht erst auf die Idee." "

    Und es stimmt: Zumindest Benjamin-Blümchen-Kassetten und Co gibt es auch heute noch fast überall neu zu kaufen. Doch die Gesamtstatistik ist eindeutig: Vor gut zwanzig Jahren waren 4 von 5 verkauften Tonträgern noch Musikkassetten. Dann begann der Rückzug. Die letzte Zahl aus dem Jahr 2004: Marktanteil unter 5 Prozent. Die Leer-Kassetten für die Aufnahmen zu Hause gibt es in den Auslagen vor den Kassen der Lebensmitteldiscounter schon seit über einem Jahr gar nicht mehr zu kaufen. Zu unmodern.

    " Eigentlich jeden Tag kommt irgendeine Kassette zurück, die nicht in Ordnung ist und wo wirklich Bandsalat vorzufinden ist. Die wird weggeworfen und neu kopiert, "

    sagt Margarete Dick. Sie muss es wissen, schließlich verwaltet sie 50000 Kassetten in der einzigen Deutschen Katholischen Blindenhörbücherei in Bonn. Seit 1973 hat Margarete Dick diese Art von Tonträger im Verleih - und bis heute 3000 regelmäßige Kassettenentleiher. Noch.

    " Bis zum Jahr 2010, dann hört es auf. Dann gibt es bei uns keine Kassetten mehr. Das haben sich alle Hörbüchereien vorgenommen, bis dahin damit aufzuhören. Das Problem ist ja auch, dass es keine Recorder mehr gibt. Und dann sind die Hörer gezwungen, umzustellen, nicht?" "

    Und zwar auf Mp3-CDs. Neue Bücher - etwa "Ich bin dann mal weg" von H.P. Kerkeling oder das Jesus-Buch des Papstes werden in der Blindenhörbücherei nur noch auf dieses Format aufgesprochen. Da passt entschieden mehr rauf - halt 90 Stunden statt 90 Minuten. Wenn nun bei uns die altmodischen Bänder aus dem Sortiment genommen werden: Im Tonstudio Schlund in Königswinter glaubt man trotzdem weiter an sie. Toningenieur Stefan Schlund betrachtet's global:

    "Ich denke mal, die Dritte-Welt-Länder werden höchstwahrscheinlich die längste Nutzung der Kassette haben. Einfach aus dem Grund: Ne Handvoll Sand in einem CD-Player - danach läuft er nicht mehr. Ne Handvoll Sand im Kassettenrekorder: Auspusten, einlegen, weiterspielen."

    Und so gibt er ihr weitere 40 Jahre, in der sie mit ihren knapp fünf Zentimetern pro Sekunde über den Tonköpfe hinwegziehen wird.