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Musiktheater
Kollateralschäden des Bösen

Am Nationaltheater Mannheim wurde Adriana Hölszkys Oper "Böse Geister" nach Dostojewski uraufgeführt. Für Entzweiung, Verderben und Tod hat Hölszky eine drastische, neoexpressive Tonsprache gefunden.

Von Frieder Reininghaus | 02.06.2014
    Ein roter Theatervorhang
    Ein roter Theatervorhang (picture alliance / dpa - Marcus Brandt)
    Die aus Bukarest stammende, schon lange in Deutschland lebende und hier hoch dotierte Komponistin nutzte die "Kraftfelder" der Textvorlage. Die jeweils einen knappen Meter hohen Partiturseiten der neuen Oper bringen eine Raum-Musik hervor, deren drei konstituierende Momente räumlich getrennt voneinander ablaufen, sich doppelchörig und responsorisch verhalten: Die Choristen, ganz hinten oben in den letzten Reihen des ansteigenden Zuschauerraums in Stellung gegangen, bilden einen unvermittelten Kontrast zum übrigen theatralen Geschehen vor und hinter dem Orchestergraben.
    So entfaltet sich Raum-Theater auf drei Ebenen. Von hinten sing der von Tilman Michael mit hoher Präsenz ins Gesamtgeschehen eingebrachte Chor dem Publikum ins Genick: Da dräut sich Aggressives zusammen und erhebt sich kollektive Bedrohung. Die Stimmen wüten wie Erinnyen, skandieren markant und gelangen zu ausuferndem Rufen. Hölszky hat zwei ältere Chorwerke in die Partitur integriert: "Der nächtliche Fluss" und "Stawrogins Blätter". Letztere verrät die Beschäftigung der Komponistin mit Dostojewski über einen längeren Zeitraum. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren: Die Stimmen des Chors - das sind die "bösen Geister".
    Die mittlere Ebene des Raumtheaters gehört Stawgorin, der desillusioniert aus dem Ausland heimkehrte, wo er ein "ausschweifendes Leben" geführt haben soll, nachdem er in Petersburg "aus einer Laune" die geistes- und gehbehinderte Marja geheiratet hatte. Sie wird später zusammen mit ihrem alkoholkranken Bruder ermordet. Regisseur Joachim Schlömer lässt die Leichen mit Klebestreifen an eine Holzwand heften und so einen der Kollateralschäden des Bösen zur Schau stellen. Steven Scheschareg ist als Sohn aus reichem Haus eine starke Figur und Stimme. Mit der deklamiert er Tagebuch-Fragmente, ohne dass sich daraus eine narrative Linie ergäbe.
    Jens Kilian hat zwei Holzhäuser auf die Hauptbühne bauen lassen, die – sich drehend – bei sorgfältig wechselndem Licht immer wieder neue Einblicke in die guten Stuben zulassen. Ausgestattet sind sie mit Seidentapeten und mit dem immer gleichen Frauenporträts in Öl und feinem Nussbaummobiliar. Es ergeben sich Ausblicke auf das keineswegs immer harmonische Familienleben. Die Altistin Evelyn Krahe gibt die reiche Witwe Warwara energisch und Zvi Emanuel-Marial den herrschsüchtigen Pjotr auch (keine neue Oper ohne Counter oder Altus!). Portionsweise kommt die Illusion einer Gesellschaftsfamilienanamnese auf. Überwiegend wirken die Szenen surrealistisch. Von schlichter Narration ist die Inszenierung des Choreografen Schlömer jedenfalls weit entfernt: Das Nonverbale, Atmosphärische und der Sound verweisen auf Unheil. Eben "das Böse", das auch im Namen der Nächstenliebe nicht aus der Welt weichen will.
    Das Orchester unter der Leitung des gewaltig geforderten Roland Kluttig hat mit Flöten und Geigen wenig im Sinn. Die hohen Streicher müssen vor allem Pausen zählen und nur gelegentlich, dann aber gut platziert, einen Streich tun (dergleichen kann sich als tückisch schwer erweisen). Der Graben ist vor allem von den Aktionen des Schlagwerks erfüllt, intensiv und facettenreich. Unaufhaltsam treidelt der Problemmusiktheaterabend der Entzweiung, dem Verderben und Tod zu. Dafür findet Adriana Hölszky eine drastische, neoexpressive Tonsprache. Böse Geister können, das gehört wohl zu ihren Wesensmerkmalen, so unberechenbar sein, dass auch Google noch keine "Analyse von Lebensmustern" generieren konnte und ihnen die Musik besser auf die Schliche kommen kann als die NSA.