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Musiktheorie
Die Fissionäre des Pop

Fission - der Begriff entstammt eigentlich der Physik: Im Gegensatz zur Fusion bezeichnet Fission die Spaltung zum Beispiel von Atomkernen. Der österreichische Poptheoretiker Didi Neidhart geht in seinem neuen Buch auf die Suche nach den Spaltern und Fissionären in der Musik und spannt dabei den Bogen von Marlene Dietrich über Miles Davis zu Conchita Wurst.

Von Paul Lohberger | 06.01.2015
    Der Jazz-Trompeter Miles Davis eröffnete am 11.07.1988 den Jazz-Gipfel in Stuttgart.
    Miles Davis - als Fusionist missverstandender Vordenker der Fission (picture alliance / dpa / Dominik Obertreis)
    "Also, das Buch heißt 'Fissionen' - dieser Begriff ist eh schon lang herumgelegen, und dann bin ich quasi im Prinzip wie die Jungfrau zum Kind zu diesem Begriff gekommen und habe mich daran mal abarbeiten müssen."
    In solch heikle Situationen gerät Didi Neidhart, weil er Subkultur auf akademischem Niveau betreibt. Seit gut 30 Jahren reflektiert der Österreicher Pop in allen Erscheinungsformen - neben Musik gehören dazu selbstverständlich Film, Theater, Architektur und Kulturtheorie. In Büchern, Fachzeitschriften und als langjähriger Chefredakteur des Magazins skug fungiert Didi Neidhart als postmoderner Universalgelehrter, der schräge Theoretiker scheut jedoch auch die Praxis nicht.
    Seine Beschäftigung mit den Fissionen ist in Tracks wie diesen eingeflossen - "Eshna_Tron meets BELP" heißt das Projekt.
    "Man kauft sich zwei Bausätze: Das eine ist ein Flugzeug, das andere ein Auto. Und im Fusion-Gedanken baut man ein Flugzeugauto. Dann schmeißt man das Flugzeugauto weg und schaut, die Teile, die übrig geblieben sind, die nicht zusammen gegangen sind, das wär der fissionäre Ansatz.
    Also, ich gehe über die Fusion hinaus, da passt alles zusammen, aber die Teile, wo man sagt, für die hab ich keine Verwendung, das sind in dieser Idee einer Fission die spannenden Sachen, die dann natürlich auch nicht zusammengehen."
    Kodwo Eshun - Vordenker der Pop-Fission
    Den physikalischen Begriff der Fission, also Kernspaltung, übertrug der britische Autor Kodwo Eshun bereits 1998 auf die Popmusik, als Gegenmodell zur Fusion, der Verbindung von Rock und Jazz ab den späten 60er Jahren. Wir erinnern uns: Es war Miles Davis, der mit seinen Alben "Bitches Brew" und "On the corner" neue Fusion-Standards setzte, aber auch für Irritationen sorgte.
    Ausgerechnet jene Miles-Davis-Alben aber grenzt Kodwo Eshun als Fission von Fusion ab.
    "Es geht nicht einfach darum, dass man sich im Free Jazz oder im elektronischen Jazz so ausagiert, sondern dass das wichtigste Instrument das Mischpult ist."
    Was chaotisch klingt, ist Konzept: Miles Davis eliminierte die Soli, also die musikalischen Bedeutungsträger, in denen sich Virtuosität und Persönlichkeit zum Ausdruck bringen.
    "Fissionäre Musik ist immer eine, wo man sagt, irgendwas läuft da falsch."
    Die Musik wird entkernt. Und wo es keine Persönlichkeiten mehr gibt, lösen sich auch andere Kategorien wie Rasse und Geschlecht auf. Dieses Konzept der fission will Didi Neidhart auf das zeitgenössische Geschehen übertragbar machen. Seine "Anleitung zum sonaren Fracking" bezieht auch die Images mit ein, die Popmusik transportiert.
    "Lady Gaga ist bestimmt in den Bereichen, die nicht direkt mit Musik zusammenhängen, genderpolitisch sehr fissionär. Bei der Musik, ich denke mir, es ist eher müßig, im Mainstream nach so was zu suchen."
    "Wir bauen uns ein Fissionskraftwerk"
    Didi Neidhart sieht sein Buch als Bastelanleitung, mit Gedanken-Übungen: Im ABC der Fissionen stellt er fissionäre Paarungen gegenüber:
    Abba und Herbert Achternbusch, Brian Eno und Sergej Eisenstein, Yoko Ono und Ovid - was ist hier Auto, was Flugzeug, und was bleibt übrig?!
    "Ich würde da aber nicht wie ein Professor durchgehen und sagen, das ist fissionär, du kriegst einen Einser, und das ist nur 'fissionär 2.0'."
    Am Ende seiner Anleitung landet Didi Neidhart beim "fissionären Begehren", das ebenso entkernt ist wie der Fusion Sound von "On The Corner". Wenn Marlene Dietrich im Frack eine andere Frau küsste, war das irritierend und reizvoll zugleich, weil eine solche Szene normale Identifikationsmuster aushöhlte. Dies gilt auch, wenn eine Person alle Attribute einer begehrenswerten Frau hat - schöne Haare, lange Wimpern, schlanke Figur, glamouröses Auftreten - dabei aber einen Bart trägt: Conchita Wurst verkörpert das entkernte Begehren als Prinzip, ist für kein Begehren im Sinn der Norm geeignet.
    Conchita Wurst zeigt, wie willkürlich die Rollenmuster der Geschlechter sind, aber noch mehr zeigt diese Figur, dass das Starwesen im Showgeschäft nach festen Regeln verläuft. Nach dieser Erkenntnis sorgt der fissionäre Blick dafür, dass wir trotzdem nicht den Spaß verlieren.