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Musikwissenschaft
Brahms im Urwald

Musik kann zu Tränen rühren, aggressiv machen oder beruhigen. Bei fast jedem Hörer löst sie etwas aus. Ob das allerdings bei Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen dasselbe ist und ob sich die Reaktionen auch körperlich vergleichbar äußern, ist weitgehend unklar. Kommunikationsforscher der TU Berlin und Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig sind im Labor und im Regenwald der Frage nachgegangen, welche universellen Reaktionen Musik auslöst.

Von Lennart Pyritz | 31.03.2015
    Ein Schlaflied aus dem zentralafrikanischen Dschungel, ein Violinkonzert von Johannes Brahms oder der Soundtrack einer vergnüglichen Bar-Szene aus dem Science-Fiction-Epos "Krieg der Sterne" - Musikstücke lösen beim Hören unmittelbar verschiedene Assoziationen und Gefühle aus.
    "Wir haben uns die Frage gestellt: Warum ist das so? Und wie können wir das erklären?", sagt Hauke Egermann, Musikwissenschaftler an der Technischen Universität Berlin. "Was gibt es da vielleicht für Zusammenhänge zwischen musikalischen Strukturen und ihren Wirkungen und sind diese Zusammenhänge durch Lernen beeinflusst, sind sie durch kulturelles Wissen, individuelles Wissen beeinflusst? Was sind die mentalen Vermittlungsprozesse dahinter?"
    Um zu überprüfen, inwieweit Musik beim Menschen universelle Reaktionen auslöst und wo Unterschiede liegen, suchte Egermann die Zusammenarbeit mit einer kanadischen Musikethnologin, die bereits seit Jahren die Kultur von Mbenzélé-Pygmäen erforscht, die isoliert im kongolesischen Regenwald leben.
    "Das heißt, sie benutzen keine Elektrizität und keine Medien, über die sie mit westlichen kulturellen Inhalten in Kontakt kommen könnten. Das heißt, diese Menschen dort haben noch nie westliche Musik gehört und konnten nie lernen mit dieser Musik außermusikalische Dinge zu verbinden, also zu assoziieren."
    Universelle Reaktionen auf Musik
    Pygmäische Musik für Beerdigungen und um die Männer bei der Jagd zu schützen, die Tondichtung "Tod und Verklärung" von Richard Strauss, Sequenzen von Film-Soundtracks: Die Wissenschaftler spielten den Pygmäen und einer kanadischen Vergleichsgruppe Ausschnitte von emotional angelegten Musikstücken des eigenen und des jeweils fremden Kulturkreises vor und maßen die Reaktionen. Dazu instruierten sie die Hörer, ein computerbasiertes Diagramm zu nutzen. In dem konnten die Versuchsteilnehmer über Fingerbewegungen auf einem Touchscreen selbst ihre Emotionen beschreiben.
    "Das eine ist das Ausmaß der Erregung des Gefühls, das man gerade empfindet. Und das andere ist, ob das Gefühl eher positiv oder eher negativ ist. Und das ist dann stufenlos abbildbar."
    Zudem protokollierten die Forscher mittels Sensoren körperliche Reaktionen für das Maß der Erregung: Hautleitwert, Atemrate und Herzfrequenz. Hinsichtlich des Erregungsgrades zeigten sich Übereinstimmungen:
    "Wenn westliche Musik anregend wirkt auf westliche Hörer, dann steigt ihr Hautleitwert, ihre Herzfrequenz und ihre Atemrate. Und das Gleiche haben wir auch bei den Pygmäen gesehen. Und was wir auch gesehen haben, dass wenn die westlichen Hörer ihre Musik als stimulierend einstufen, dass die Pygmäen dem auch entsprochen haben."
    Bei der westlichen Musik stimmten also Pygmäen und Kanadier in der körperlichen Reaktion und deren Einschätzung überein. Bei der Zuordnung von Empfindungen zur westlichen Musik unterschieden sich allerdings beide Gruppen: Die Pygmäen sortierten nicht wie die Kanadier in komplexe positive und negative Kategorien, sondern bewerteten die Stücke einheitlich und eher neutral.
    Die Musik aus Alfred Hitchcocks Film "Psycho" erzeugte also im Mittel bei allen Hörern körperliche Erregung, aber nur die Kanadier bewerteten sie als eindeutig negativ und aggressiv. Etwas anders fielen die Ergebnisse bei der Musik der Pygmäen aus.
    "Die wurde von allen Gruppen als positiv erlebt. Für die westlichen Hörer war es einfach nur positiv und es hat einen mittleren Erregungsgrad erzeugt. Und die Pygmäen haben insgesamt ihre eigene Musik immer als erregender noch erlebt."
    Kongo und Kanada
    Eindeutige Übereinstimmungen in der Bewertung und der körperlichen Reaktion gab es allerdings nicht. Das Fazit von Egermann und seinen Kollegen: Musik ist keine universelle Sprache der Gefühle, kann aber kulturübergreifend körperlich erregen.
    "Was wir im letzten Analyseschritt auch gemacht haben, ist, dass wir die Musik analysiert haben bezüglich akustischer Qualitäten. Und da kam dann noch raus, dass beide Gruppen, auch unabhängig von ihrem Hintergrund, überzufällig auf Erhöhung des Tempos, Erhöhung der Tonhöhe und Erhöhung der Klangfarbe mit Erregung reagieren - physiologisch und was das Tempo angeht auch subjektiv."
    Leben, Weltbild, Kultur, Musik und Wissensschatz beider Versuchsgruppen unterscheiden sich drastisch. Die emotionale Bewertung eines Stückes hängt ab von individuellen Assoziationen und Eigenheiten des jeweiligen Kulturkreises. Trotz aller offensichtlichen Kontraste zwischen Kanadiern und Pygmäen hält Egermann seine Rückschlüsse für zulässig.
    "Unsere Haupterkenntnis liegt eigentlich in dieser Tatsache, dass aufgrund dieser unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen, aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe, wir trotzdem diese ähnliche Erregungskomponente in beiden Gruppen gefunden haben. Insofern: Alles das, was unterschiedlich ist - es gibt ja noch weit mehr, was diese beiden Gruppen unterscheidet - scheint dann keinen Einfluss darauf zu haben."
    Auch Tom Fritz hat erforscht, welche universellen Reaktionen Musik auslösen kann. Der Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hat dafür die Mafa in Westafrika studiert, die teils auch noch isoliert von ihrer medialisierten Umwelt leben. In einem Experiment spielte Fritz Mafa-Hörern westliche Musikstücke vor.
    "Die haben sie dann aber auch rückwärts gespielt gehört und kakofon verzerrt gehört und auch noch rückwärts kakofon verzerrt gehört. Und das sind Maßnahmen, die beim westlichen Hörer sofort auslösen, dass man die als unangenehm empfindet."
    Bei den Mafa, die auch die ursprünglichen Stücke noch nie gehört hatten, war die Reaktion ähnlich.
    "Alle fanden den Rock 'n' Roll in seiner konsonanten Version angenehmer als den Rock 'n' Roll in seiner kontinuierlich dissonanten Version. Das war gleichartig bei den Mafa-Hörern und bei den deutschen Hörern."
    Die Studie von Hauke Egermann und dessen Kollegen ergänze die bisherigen Ergebnisse zum subjektiven Musikempfinden um einen wichtigen Baustein.
    "Was die richtig Neuartiges beitragen, ist, dass sie eben zusätzlich diesen Aspekt der körperlichen Erregung untersucht haben und da interkulturelle Gemeinsamkeiten gefunden haben."