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Muslime in China
Jeden Freitag Schweinefleisch

Sayragul Sauytbay gehört zur kasachischen Minderheit in China, ihr Glaube ist eine Mischung aus Islam und Schamanismus. Zunächst arbeitet sie als Schulleiterin, dient treu dem Staat. Dann erlebt sie die brutalen Seiten des Regimes. Von ihren Erfahrungen im Umerziehungslager berichtet sie in einem Buch.

Von Levent Aktoprak | 17.11.2020
Sayragul Sauytbay, ethnische Kasachin mit chinesischem Pass, in einem kasachischen Gericht
Sayragul Sauytbay, ethnische Kasachin mit chinesischem Pass, in einem kasachischen Gericht (AFP / Ruslan Pryanikov)
Die schmerzhaften Einschnitte im Alltag erfolgten nicht wie früher im Abstand von Jahren, sondern zunächst von Monaten, dann von Wochen, mittlerweile innerhalb von Tagen. Und bald zählte jede Sekunde. Nachts stand ich mit Wali unter einem Apfelbaum im Garten. "In unserem Land haben die Kinder keine Zukunft mehr, du musst versuchen, so schnell wie möglich eure Pässe zu bekommen und nach Kasachstan abzuhauen …", zischte ich, "wenn das in dem Tempo so weiter geht, könnt ihr drei sonst auch bald nicht mehr ausreisen." (Sayragul Sauytbay und Alexandra Cavelius: "Die Kronzeugin")
Erzählt Sayragul Sauytbay in ihrer Autobiografie. 1976 wird sie in einem kleinen entlegenen Dorf am Fuße des Gebirges Tian Shan geboren. Sie ist Kasachin und nennt ihre Heimat Ostturkestan. Kasachen und Uiguren nennen ungern ihre Heimat Xinjiang. Unter Mao Zedong wurde Ost-Turkistan 1949 gewaltsam einverleibt und zur autonomen Region Xinjiang (Neue Grenzen) unbenannt.
"Meine Familie musste ohne mich gehen"
Sayragul Sauytbay wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familien im Dorf halten zusammen, sie betreiben Ackerbau und Viehzucht und der Islam gehört wie der Schamanismus zum Alltag der Dorfbewohner. Sie schließt die Schule mit guten Noten ab und beginnt weit weg vom Heimatdorf ein Medizinstudium. Unmittelbar nach ihrem erfolgreichen Abschluss bekommt sie eine gut bezahlte Anstellung in einem großen Krankenhaus. Als ihre Mutter jedoch schwer erkrankt, kehrt sie nach einiger Zeit wieder in ihr Heimatdorf zurück. Da man dort aber keine Mediziner braucht, lässt sie sich zur Lehrerin umschulen und wird Direktorin mehrerer Vorschulen. In dieser Zeit sieht sie, wie sich das Leben in den kasachischen Dörfern verändert.
Im Interview erzählt sie: "Als wir den Druck der Regierung immer stärker gespürt haben, wollte ich mit meiner Familie nach Kasachstan auswandern. Kurz darauf hat die KP Chinas aber meinen Reisepass eingezogen und der Weg ins Ausland war mir als Beamtin versperrt. Meine Familie musste ohne mich gehen."
Traditionelles gesellschaftliches Leben stirbt
Ihrer Familie gelingt schließlich 2016 die Flucht zu den Verwandten nach Kasachstan. Erst 18 Monate später wird Sayragul Sauytbay ihre beiden Kinder und ihren Ehemann wiedersehen. Der Druck auf Sauytbay wird indessen immer größer. Peking droht, die Familie müsse zurückkehren. Als Lehrerin ist sie Staatsbeamtin und Mitglied der KP. Sie ist ein Teil des Systems. Man erwartet von ihr Partei- und Staatstreue. Dabei ist Sayragul Sauytbay loyal und fleißig, hat aber immer wieder das Gefühl, dass es irgendwie nicht genügt. Zunehmend werden in ihr die Zweifel an dem totalitären System größer. Zumal sie seit Langem kritisch die Assimilierungskampagne Pekings verfolgt.
Unterdrückte Uiguren in China: Das Auslöschen einer Kultur
Nach Recherchen über die extrem gesunkene Geburtenrate in Xinjiang sprechen Wissenschaftler vom "Genozid" an Uiguren. Chinas Kommunistische Partei rechtfertigt ihre Politik gegen muslimische Minderheiten als Terrorbekämpfung.
"Die KP Chinas lockt viele männliche Chinesen mit dem Versprechen nach Ostturkestan, ihnen dort Haus, Geld, einen festen Job und gute Lebensbedingungen zu bieten, wenn sie ein uigurisches oder kasachisches Mädchen heiraten", sagt sie im Interview.
"Unser Land wurde in ein Freiluftgefängnis verwandelt"
Für internationale Experten kommt die Unterdrückung in Xinjiang einem kultureller Genozid gleich: Bärte, Gebetsmützen und Kopftücher werden zunehmend verboten oder auch die Muttersprache in staatlichen Kindergärten. Sayragul Sauytbay muss mit ansehen, wie sich ihre Heimat zu einer brutal überwachten Diktatur verwandelt, wie das traditionelle gesellschaftliche Leben in Ostturkistan allmählich stirbt.
"Die KP Chinas hat ein umfassendes Überwachungssystem in Ostturkestan geschaffen und unser Land in ein Freiluftgefängnis verwandelt. Ohne Erlaubnis dürfen die Menschen keinen Finger rühren. Jede Bewegung, jeder Schritt wird streng kontrolliert. Die Menschen leben in ständiger Angst. In meiner Heimat gibt es kein normales Leben mehr."
Programm "Familie werden"
Auch davon schreibt Sayragul Sauytbay in ihrer Biografie "Die Kronzeugin":
Im Oktober 2017 verordneten die Behörden ein Programm namens "Familie werden" für Kasachen und Chinesen, damit unsereins die chinesische Kultur besser kennenlernte. Zu dem Zweck mussten wir Einheimischen einmal im Monat für acht Tage in einer chinesischen Familie leben oder die Chinesen bei uns. Letztere hatten das Vorrecht, darüber zu entscheiden, wie es ihnen lieber war … Können Sie sich vorstellen, was das für junge Mädchen, Ehefrauen oder alleinstehende Mütter wie mich bedeutete? Jederzeit durfte der Hausherr über unsere Körper verfügen wie über den seiner eigenen Ehefrau. (Sayragul Sauytbay und Alexandra Cavelius: "Die Kronzeugin")
Verhaftung und Folter
In ihrer Biografie "Die Kronzeugin" hebt Sarygul Sauytbay besonders auch die Lage der uigurischen und kasachischen Mädchen und Frauen in Xinjiang hervor und berichtet von der Willkür, der sie ausgesetzt sind. Auch Sauytbay gerät in die Mühlen des autoritären Regimes und bekommt die Macht des Apparates zu spüren. Sie wird verhaftet, gefoltert und muss mehrere Monate in einen der vielen chinesischen Straflager unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben und den dortigen, ausschließlich muslimischen Lagerinsassen, die noch schlimmer behandelt werden, chinesisch beibringen.
Kaum hatte ich den ersten Fuß in den Raum gesetzt, erhoben sich 56 Menschen mit klirrenden Fußketten und riefen: "Wir sind bereit!" Alle trugen blaue Hemden und Hosen. Ihre Köpfe waren kahl rasiert. Die Haut totenbleich. Vor der Tafel musste ich stramm stehen, seitlich flankiert von zwei Wachen mit automatischen Schnellfeuerwaffen. Kurz geriet ich ins Schwanken, so unvorbereitet und so heftig hat mich dieser Anblick getroffen. Blaugeschlagene Augen, verstümmelte Finger, dunkle Flecken überall … Akademiker, Bauern, Künstler, Studenten, Geschäftsleute … Etwa 60 Prozent waren Männer, zwischen 18 und 50 Jahren. Der Rest Mädchen, Frauen und Alte ... In jedem dieser Gesichter stand die blanke Angst. Alle Lichter in ihren Augen waren erloschen. (Sayragul Sauytbay und Alexandra Cavelius: "Die Kronzeugin")
Jeden Freitag Schweinefleisch
Das Buch "Die Kronzeugin" beschreibt detailliert auf vielen Seiten den grauenvollen Lageralltag in Xinjiang: Die Gefangenen würden immer wieder indoktriniert, sagt Sayralgul Sauytbay, mit Parolen wie z. B. "ich bin stolz darauf ein Chinese zu sein", "mein Leben und alles verdanke ich der Partei", "hoch lebe Xi Jingping". Und bei kleineren Vergehen würden sie gefoltert und vergewaltigt. Und an jedem Freitag, dem wichtigen Wochentag der Muslime, gebe es Schweinfleisch zu Essen. Auch das gehört mit zum chinesischen Umerziehungsprogramm.
Minderheiten in China: Die Lage der Uiguren
Millionenfache Lagerhaft, Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen: Die Menschenrechtslage in Chinas Uiguren-Provinz Xinjiang wird immer prekärer. Einige Forscher sprechen sogar von kulturellem Genozid. Fragen und Antworten zu einem Konflikt, in den möglicherweise auch internationale Firmen verstrickt sind.
Nach Berichten internationaler Beobachter sollen schätzungsweise über eine Million Uiguren, Kasachen und andere Muslime in den rund 1200 Straflagern in Xinjiang gefangen sein und deren Kinder als Halb- oder Vollwaisen in Internaten und Waisenhäusern untergebracht. Diese Reaktionen Pekings auf gewaltsame Unruhen in Xinjiang sehen kritische Stimmen als überzogen und inakzeptabel an und gehen davon aus, dass in der Provinz Xinjiang ein beispielloses Gulag-System existiert.
"Übergriffe offenlegen"
"Für Frau Sauytbay ist es wichtig auch das andere Gesicht Chinas zu zeigen, abseits von wirtschaftlichen Erfolg und Gewinn. Und natürlich diese schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit offenzulegen, insbesondere die Übergriffe auf Mädchen und Frauen", sagt die Schriftstellerin Alexandra Cavelius.
Sie hat Sayragul Sauytbay nach ihrer dramatischen Flucht von China über Kasachstan nach Schweden viele Tage interviewt und ihre Lebensgeschichte festgehalten. Sauytbay ist kein Einzelschicksal, sagt Cavelius, viele Frauen in Xinjiang würden Ähnliches durchleiden. Deshalb fordert sie auch mehr Solidarität von Feministinnen in Deutschland ein.
Sauytbay ist schließlich die Flucht gelungen und sie lebt mit ihrer Familie im Exil in Schweden, aber von einem Happy End kann da keine Rede sein. Als Zeitzeugin hat sie jedenfalls international für Aufmerksamkeit gesorgt, genauso wie die China Cables.
Sie sagt: "Im Konzentrationslager stand ich unter ständiger Aufsicht des Wachpersonals. Ich musste das tun, was mir gesagt wurde. Das Wachpersonal war gnadenlos, herzlos und hatte keinerlei Gefühle gegenüber den Gefangenen. Sie machten mit ihnen, was immer sie wollten."
Sayragul Sauytbay und Alexandra Cavelius: Die Kronzeugin.
Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft.

Europa Verlag, 352 Seiten, 22 Euro.