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Muslime in Georgien
"Wo steht geschrieben, dass Attentate gerechtfertigt sind?"

Rund 10.000 tschetschenische Flüchtlinge leben in Georgien, die meisten sind Muslime. Islamisten werben hier um Kämpfer. Die georgische Schriftstellerin Naira Gelaschwili setzt auf religiöse Bildung, um zu zeigen: Mit dem Koran lässt sich Terrorismus nicht rechtfertigen.

Von Martin Gerner | 11.10.2018
    Naira Gelaschwili auf der Buchmesse Leipzig 2017
    Will ein richtiges Verständnis des Islam und des Koran schaffen: Naira Gelaschwili (imago / Gerhard Leber)
    Naira Gelaschwili sitzt in Tiflis bei Kaffee im Kaukasischen Haus, das sie nach dem Zerfall der Sowjetunion gegründet hat. Eine Abteilung für Forschung zum Islam und Orient gibt es hier auch. Tschtschenien ist ein Grund:
    "Wir wissen alles, was dort geschehen ist, weil diese tschetschenischen Flüchtlinge zu uns gekommen sind, nach dem Zweiten Tschetschenien-Krieg", sagt Naira Gelaschwili. "Hier wohnten sie, in diesem Haus wohnten die Flüchtlinge. Und unser Haus, das Kaukasische Haus, wurde zu einem 'Haus der Terroristen' erklärt von den russischen Medien. Weil wir diese unglücklichen Menschen, Frauen, Kinder, junge Menschen, beherbergt haben."
    Mehr als 10.000 Tschetschenen flüchteten während der Tschetschenien-Kriege 1994 und 1999 bis 2009 südwärts, ins benachbarte Georgien.
    "Russland hat Tschetschenien absolut zugrunde gerichtet, vernichtet und die Welt hat geschwiegen. In dieser Zeit haben sogar die westlichen Banken und Stiftungen Russland noch geholfen. Das ist Tatsache. Wie entsteht der Terrorismus? Aus der Ungerechtigkeit entsteht er."
    Ohne Papiere in Georgien bleibt vielen Tschetschenen die gesellschaftliche Teilhabe in Georgien versagt, auch im Pankissi-Tal, einer rund 30 Kilometer langen Schlucht im Großen Kaukasus, im Nordwesten Georgiens, umgeben von 5.000 Meter hohen Bergen.
    Radikalisierung nach dem Krieg
    "Terrorismus war bis dahin für die Tschetschenen absolut fremd. Er ist erst im zweiten russisch-tschetschenischen Krieg entstanden. Der Terrorismus entsteht aus Macht- und Ausweglosigkeit."
    Mit den Tschetschenien-Kriegen politisiert sich der Islam in Teilen Georgiens, alte Sufi-Traditionen sind von fundamentalistischer Rhetorik herausgefordert. Im Pankissi-Tal entstehen neuen Moschee, gebaut mit dem Geld arabischer und türkischer Gönner.
    "Im Pankissi-Tal ist schon eine Jugend entstanden, die in arabischen Ländern Bildung bekommen hat und die zurückgekommen ist. Und diese sind die Radikalen, die Salafiten."
    Das Pankissi-Tal wird vorübergehen Rückzugsort für radikale Kämpfer, die vor russisschen Angriffen Schutz suchen. Waffen-, Drogenhandel und Entführungen kommen hinzu. Später intervenieren US-amerikanische Anti-Terror-Einheiten gegen mutmaßliche al-Qaida-Kämpfer, bringen sie nach Guantanamo. Die Sicherheitslage bessert sich - bis zum Krieg in Syrien.
    "Dann ist plötzlich dieser Islamische Staat entstanden. Dort herrscht Arbeitslosigkeit im Pankissi-Tal und Armut. Statt der Region zu helfen und den jungen Tschetschenen irgendwelche Perspektiven zu geben. Die Jungen sind sportlich. Sport könnte man dort entwickeln, damit sie irgendwie beschäftigt sind. Aber nichts! Was man jetzt mit diesem unglücklichen Volk macht, Sicherheitskräfte schicken - dann gehen diese jungen Leute, weil der Staat nichts für sie macht."
    Ein von Dschihadisten ausgehändigtes Foto zeigt mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe IS, darunter der Militärchef und gebürtiger Georgier Abu Omar al-Shishani (links)
    Ein von Dschihadisten ausgehändigtes Foto zeigt mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe IS, darunter der Militärchef und gebürtiger Georgier Abu Omar al-Shishani (links) (AFP / HO / Al-Itisam Media)
    Berichten zufolge stammt Omar al-Schischani, Führungsperson des Islamischen Staats, aus dem Pankissi-Tal. Naira Gelaschwili erinnert sich an ein Gespräch mit einem jungen Mann dort:
    "Das ist alles Propaganda. Scheinbilder. Gemacht! Dieser junge Mann war so überzeugt. Weil er überhaupt kein Vertrauen mehr hatte zur Welt. Alle lügen, alle betreiben Gewalt. Und er wollte dorthin gehen. Aus solchen Emotionen sind die jungen Leute dort hingegangen. Und es ist sehr erstaunlich, dass sie dort zu führenden Persönlichkeiten geworden sind."
    Islam mit heidnischen und christlichen Bräuchen
    Die Menschen im Pankissi-Tal fühlen sich von Medien und Öffentlichkeit verunglimpft, die Masse ist friedliebend. Das Kaukasische Haus hat auch deshalb ein Übersetzung des Koran für die Bewohner in Auftrag gegeben.
    "Erstens gab es nur eine Übersetzung des Korans, aus dem Französischen. Jede Nation muss eine richtige Übersetzung des Koran aus dem arabischen Original haben. Und Zweitens: Das ist für uns sehr wichtig, weil wir eigene, georgische Muslime haben."
    Georgier, die sich zum Islam bekennen, leben außerdem in Adscharien, an der Grenze zu Türkei und Schwarzem Meer und in Mes'chetien. Neun Prozent sind auf dem Papier Muslime. Im Pankissi-Tal werden sie Kisten genannt. Islam mischt sich hier historisch mit heidnischen und christlichen Bräuchen.
    "Die georgischen Tschetschenen leben hier schon seit über 200 Jahren, in der Pankissi-Schlucht. Wir nennen sie Kisten, aber sie sind tschetschenisch. Sie sprechen fließend Georgisch. Sie sind eine sehr treue Minderheit, sehr patriotisch. Aber sie haben keinen Koran gehabt. Arabisch konnten sie nicht lesen. Und auf Georgisch gab es keinen."
    Erste georgische Koran-Übersetzung
    Gelaschwili erinnert sich an die Verteilung der Koran-Übersetzung dort.
    "Sie sind sehr dankbar. Da haben wir den Koran in das Pankissi-Tal gebracht. Einfach verschenkt. Damit alle Bibliotheken und Schulen die Übersetzung haben. Dann können sie es in der georgischen Sprache lesen. Mit riesigem kritischen Apparat. Mit Kommentaren zu schiitischen wie sunnitischen Auslegungen."

    Dialog ist ohne Alternative, findet Gelaschwili. Unter Präsident Schewardnadse, Anfang der 90er Jahre, war sie zuständig für den Ausgleich zwischen den Ethnien.

    "Wir wollen mit diesem Koran religiöse Bildung einbürgern. Ein richtiges Verständnis des Islam und des Koran schaffen. Und nicht, was der Wahabismus macht. Also irgendeine Interpretation des Koran, die nicht dem Text entspricht. Wo steht denn geschrieben, dass Attentate gerechtfertigt sind? Wer predigt so einen Koran? Es steht doch geschrieben: der Mord an einem einzigen Menschen entspricht dem Mord an der ganzen Menschheit."