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Muslimische Friedensrichter zwischen Scharia und deutschem Rechtsstaat

Ihre Bezeichnung klingt ehrbar: Friedensrichter. Sie sollen Kompromisse zwischen Opfern und Tätern herbeiführen. Doch ihre Arbeit in muslimisch geprägten Stadtvierteln in Deutschland ist umstritten. Kritiker, wie Buchautor und Jurist Joachim Wagner, werfen ihnen vor, gegen die deutsche Justiz zu arbeiten.

Von Dorothea Jung | 17.10.2011
    Joachim Wagner hat sich in ein Milieu begeben, das für die meisten Menschen im Verborgenen liegt: Er hat drei muslimische Friedensrichter interviewt und ihre Arbeit in kleinen Porträts beschrieben. Vor allem aber hat er mit Polizisten, Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern geredet und hat Ermittlungsakten eingesehen. So öffnet er dem Leser eine parallele Welt, in der eine Rechtsauffassung Bedeutung hat, die sich von Deutschen Gesetzen grundlegend unterscheidet.
    Ein Beispiel aus Berlin Neukölln: Fuat S. ist Mitglied einer großen arabischen Familie. Er ist spielsüchtig und leiht sich ständig Geld. Auf 150.000 Euro belaufen sich seine Schulden bei Mustafa O. Einem 16-fach vorbestraften Mann, der gerade auf Bewährung in Freiheit ist. Einem Araber, dessen Clan in dem Ruf steht, sich die familiären Hartz IV-Bezüge mit Schutzgelderpressung, Zuhälterei und Drogenhandel aufzustocken. Als die Zurückzahlung des Darlehens ausbleibt, wird Fuat S. in die Mangel genommen. Mustafa O. und seine Brüder schlagen den säumigen Zahler zusammen. Mit zertrümmerten Händen und Knien kommt Fuat S. ins Krankenhaus. "Dort sagt der Mann vor der Polizei aus und belastet dabei im Wesentlichen Mustafa O.", sagt Buchautor Joachim Wagner. Doch dann sei das Stammesrecht auf den Plan getreten.

    "In derselben Nacht wurde ein Friedensrichter namens Allouche hier in Berlin eingeschaltet, und der hat dann mit beiden Familien in mehreren Treffen verhandelt, und dann ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass man zwischen beiden Familien Frieden schließen muss."

    Der Einsatz des Friedensrichters hatte Konsequenzen für das spätere Gerichtsverfahren gegen die drei Brüder O. Mit der Begründung, er habe bei seiner ersten, belastenden Aussage gegen Mustafa O. vielleicht das Falsche gesagt, machte Fuat S. im Prozess vor der Strafkammer plötzlich von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.

    "Und das hatte zur Folge, dass der Haupttäter freigesprochen wurde und der fast nicht vorbestrafte jüngere Bruder, der eigentlich sozusagen die Nebenrolle ausgeübt hat nach den ersten Aussagen, eine ganz geringe Strafe bekam; und da sagte mir der zuständige Staatsanwalt, dass in diesem Prozess gelogen wurde, bis dass sich die Balken biegen."

    Nach Recherchen von Joachim Wagner hatte der arabische Streitschlichter ein Friedensabkommen mit den beiden Parteien geschlossen. Die Vereinbarung besagte: Die Familie des Opfers verpflichtet sich, die 150.000 Euro zurückzuzahlen - abzüglich eines satten Schmerzensgeldes für Fuat S. Im Gegenzug hat dieser vor Gericht mit einer Falschaussage zu verhindern, dass Mustafa O. in den Knast wandert. Und genauso kam es.

    "Wenn man das Urteil liest, hat man den Eindruck, dass es ein Verzweiflungsurteil ist. Denn die Richterin stützt sich auf die Einlassungen des jüngeren Bruders, obwohl die Handy-Daten das genaue Gegenteil beweisen, also: Das ist ein Urteil, was irgendjemanden verurteilen will, aber alle wissen, dass sie vermutlich den Falschen verurteilt haben."

    Anhand von vielen anschaulichen Fallbeispielen beschreibt Joachim Wagner, wie durch den Einsatz von Friedensrichtern Elemente der Scharia und des traditionellen Stammesrechts den deutschen Rechtsstaat behindern können. Und er zeichnet die Abläufe der Streitschlichtung nach. Von der Kontaktaufnahme über die Verhandlung bis hin zum Friedensabkommen, das Täter- und Opferfamilie unterschreiben müssen.

    "Und dann kommt es dazu, dass in der Regel eine Kompensation bezahlt wird, zwischen Zehn- bis Vierzigtausend Euro, je nach Schwere der Verletzung - da gibt es richtige Taxen in diesem Markt. Und dann ist die Geschäftsgrundlage aller dieser Schlichtungen, dass das Opfer seine Aussagen im weiteren Verlauf des Prozesses, insbesondere in der Hauptverhandlung, entweder nicht wiederholt, sich nicht erinnern kann, oder aber Verletzungen bagatellisiert."

    Das nennt Joachim Wagner, der selbst auch Jurist ist, systematische Beeinflussung oder Erpressung von Zeugen zur Falschaussage - mit dem Ziel der Strafvereitelung. Nach Meinung des Autors sabotieren die Streitschlichter dadurch die Arbeit von Polizei und Justiz. Seine Beobachtung: Oft genug ziehen Staatsanwälte und Richter gegenüber versierten Verteidigern im Prozess den Kürzeren. Denn die Anwälte setzen auf das Recht ihrer Mandanten, die Aussage wegen drohender Selbstbelastung zu verweigern. Und der Autor kritisiert, dass sowohl Ermittler als auch Richter zu selten nachfragen, warum Aussagen geändert oder zurückgenommen wurden.
    Fast nie werde gegen die Friedensrichter wegen Strafvereitelung ermittelt. Deren Rechtsverständnis, wonach jede Straftat Vergeltung braucht, es sei denn man kompensiert sie mit Geld oder anderen Leistungen, sei nicht mit dem deutschen Gesetz vereinbar. Zweckmäßig sei der Einsatz von Friedensrichtern, wenn es um die Deeskalation bei Schlägereien geht und um Bagatelldelikte - oder um zivilrechtliche Kontroversen, familiäre Konflikte und Vertragsstreitigkeiten.
    Im Strafrecht jedoch hätten derartige Friedensrichter nichts zu suchen. Der Autor weist darauf hin, dass es hier oft um schwere Gewalttaten im Milieu von organisierter Kriminalität geht.

    "Viele Leute sagen: Was hat man eigentlich gegen Schlichtung, wenn man einen Konflikt so über die Bühne kriegt. Aber die meisten Schlichtungen werden begleitet von Gewalt oder Gewaltdrohungen - und sind deshalb häufig keine Schlichtungen auf einer Ebene, sondern es sind Machtdiktate der stärkeren, mächtigeren und reicheren Familie gegenüber einer ärmeren Familie."

    Auf einigen Seiten widmet sich der Autor der Scharia und den islamischen Verbänden in Deutschland. Diese Ausführungen sind zu allgemein gehalten. Das islamische Strafrecht ist ein viel komplexeres System von Vorschriften als es der Autor skizziert und man merkt, dass er kein Islamwissenschaftler ist. Auch die islamischen Dachverbände spielen beim Einsatz der Friedensrichter nur eine geringe Rolle; es sind immer einzelne Imame einzelner Moscheegemeinden, die sich hier engagieren. Und es sind auch nicht immer nur Imame. Die Rechtsauffassung der Friedensrichter ist nur zu einem Teil religiös begründet - ihre andere Basis liegt in Sippentraditionen und im Stammesrecht.
    Wie diese beiden Aspekte voneinander abhängen, wo sie sich bedingen und wo nicht - da hätte man sich genauere Informationen gewünscht. Aber dieser kleine Mangel ist keinesfalls ein Grund, das Buch aus der Hand zu legen. Besonders kenntnisreich und fundiert schildert der Autor die Auswirkungen der Schattenjustiz auf die Ermittlungsarbeit und die Gerichtsverfahren. In sachlicher, unaufgeregter Tonart hat Joachim Wagner eine Fülle von lebendigen Beispielen aus einer wenig erforschten Parallelwelt zusammengetragen. Und genau diese Fälle machen das Buch spannend und lesenswert.

    Joachim Wagner: Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat.
    Econ Verlag, 236 S., 18,00 Euro.
    ISBN: 978-3-430-20127-8