Freitag, 19. April 2024

Archiv


Muss Prag auf die Beneschdekrete verzichten?

27.02.2002
    Laminski: Das Thema Vertreibung ist seit Wochen hochaktuell und es hat international politische Relevanz bekommen. Der ungarische Premierminister Orban will die Beneschdekrete abschaffen, der tschechische Politiker Klaus will sie in europäischen Gesetzen verankern. Am Telefon begrüße ich Bernd Posselt. Er ist Europapolitiker und stellvertretender Vorsitzender im gemischten parlamentarischen Ausschuss zwischen dem tschechischen Parlament und dem Europaparlament. Dieser Ausschuss begleitet die Beitrittsverhandlungen auf parlamentarischer Ebene. Außerdem ist er Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Guten Morgen Herr Posselt.

    Posselt: Guten Morgen.

    Laminski: Herr Posselt, kann ein Land der EU beitreten, wenn es auf die Gesetze wie die Beneschdekrete nicht verzichten will?

    Posselt: Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft und wer Unrechtsdekrete in eine Rechtsgemeinschaft einschleppen will, der handelt wie jemand, der Computerviren in ein funktionierendes Datenverarbeitungssystem einschleppt. Er gefährdet das ganze Datenverarbeitungssystem, und die Rechtsgemeinschaft EU muss um ihrer selbst willen darauf bestehen, dass solche Unrechtsdekrete vor einem EU-Beitritt eines Kandidatenlandes beseitigt werden. Zu diesem Zweck wurden 1993 die Kopenhagener Kriterien entwickelt, an deren Spitze Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Minderheitenrechte stehen.

    Laminski: Also Prag muss auf die Beneschdekrete verzichten?

    Posselt: Die Beneschdekrete gehören eindeutig nicht in den Rechtsbestand der EU, und das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern das Europäische Parlament hat dies in drei Entschließungen 1999, 2000 und 2001 fast einstimmig in seiner Stellungnahme zu den Fortschrittsberichten über die Beitrittsreife der Länder erklärt, also das ist nicht irgendeine Entschließung, sondern das ist die grundlegende Stellungnahme des Parlaments.

    Laminski: Aber im Moment sieht es so aus als ob Prag nicht darauf verzichten will. Was passiert denn jetzt?

    Posselt: Es gibt endlich in der tschechischen Republik eine intensive Diskussion über die Beneschdekrete. Der Herr Zeman behauptet, sie sind erloschen, der Herr Klaus, das ist der Oppositionsführer und Parlamentspräsident will sie aber im EU-Recht verankern und bestätigt damit, dass sie nicht erloschen sind, wie der Herr Premierminister Zeman gegenüber dem Bundeskanzler Schröder behauptet hat. Also, hier widersprechen sich schon mal zwei tschechische Politiker. Die Christdemokraten nehmen eine etwas europäischere Haltung ein und sagen, dass das Problem auf eine vernünftige Weise gelöst werden müsse, aber wissen auch nicht so recht wie. Es gibt endlich eine Diskussion, und ich freue mich vor allem, dass gerade in der tschechischen Jugend, in tschechischen intellektuellen Kreisen und auch in tschechischen Medien, immer deutlicher Stimmen vernehmbar sind, die sagen, das diese Dekrete einen Genozid an den Sudetendeutschen herbeigeführt haben und weg müssen.

    Laminski: Herr Posselt, als Präsident der PAN-Europa-Union und Europaparlamentarier der CSU bereisen Sie häufig auch Regionen, die nicht zur EU gehören, etwa den Balkan oder Osteuropa. Wie wird das Thema dort aufgenommen? Spüren Sie Ressentiments, etwa in Polen?

    Posselt: Ich spüre keine Ressentiments, sondern sehr viel Interesse und Neugier. Man beginnt sich mit diesen Themen auseinander zusetzen. Ich finde es z.B. beeindruckend, dass in Polen jetzt auf polnisch die Memoiren von Herbert Hupka von ihm persönlich vorgestellt worden sind. Er hat auch wiederholt Vorträge an Universitäten, z.B. an der Breslauer Universität, gehalten. Ich selbst habe als Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landesmannschaft an der Karlsuniversität über die Sudetendeuteschen-Problematik in einem überfüllten Hörsaal auf Initiative der Studenten gesprochen. Also, ich sehe einfach ein neues Interesse am Thema, und wo Sie den Balkan nennen: Gerade auf dem Balkan spüren wir doch ganz deutlich, wie brennend aktuell leider Gottes das Thema Vertreibung ist, und Milosevic hat sich ja schon auf Benesch und die Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg berufen. Jetzt hat Herr Zeman in einem Interview quasi den Israelis empfohlen, mit den Palästinensern so umzugehen, wie die Tschechen 1945 mit den Sudetendeutschen. Solche Vergleich helfen natürlich, deutlich zu machen, dass das kein Thema von gestern, sondern leider ein brennend aktuelles Thema ist.

    Laminski: Sie sprechen von einem neuen Interesse. Worin liegt denn die aktuelle Bedeutung dieser historisch eigentlich überholten Dekrete? Sie kann ja nicht nur darin liegen, dass Politiker sich auf die Geschichte berufen?

    Posselt: Ich würde sagen, es gibt drei Punkte: Erstens ist es für jedes Volk notwendig, seine Geschichte aufzuarbeiten. Die Deutschen müssen das tun, bei allen Schmerzen, die das bereitet, und auch hier hat es ja lange gedauert bis das wirklich stattgefunden hat. Und junge Tschechen und Polen fragen eben jetzt ihre Eltern und Großeltern unbequem nach der Vergangenheit, so wie das junge Leute bei uns auch erst einige Jahrzehnte nach dem Krieg getan haben. Das ist ein schmerzhafter Prozess, der in Gang kommen muss, und wir merken an der heftigen innertschechischen Diskussion im Moment, dass ein solches Verbrechen eigentlich unter Umständen nicht nur die Opfer belastet, sondern auch diejenigen, die es bisher nicht geschafft haben, dieses Thema aufzuarbeiten. Von Tätern würde ich hierbei nicht sprechen, weil es gibt ja nur individuelle Schuld und keine Kollektivschuld. Aber wenn man ein Verbrechen verschweigt oder beschönigt, macht man sich ja irgendwo mitschuldig an diesen Verbrechen. Damit muss Schluss sein. Alles Völker müssen ihre Geschichte aufarbeiten. Zweitens bin ich der Meinung, dass es notwendig ist, die Vertreibungen der Vergangenheit im Rahmen des möglichen aufzuarbeiten und zu heilen und wieder gut zu machen, um zu verhindern, dass solche Verbrechen in Gegenwart und Zukunft statt finden. Es darf nicht das letzte Wort der Geschichte sein, dass sich Verbrechen lohnen, sonst ermutigt man Wiederholungstäter. Und drittens bin ich der Ansicht, dass es notwendig ist, das Heimatrecht zum Grundgesetz der internationalen und europäischen Rechtsordnung zu machen. Vertreibung darf nie wieder im Mittelpunkt der Politik sein, und insofern ist das eine zukunftsgerichtete Debatte. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Dekrete ja nach wie vor angewandt werden.

    Laminski: Das Vertriebenen-Thema füllt die Feuilleton-Seiten seit Wochen. Sehen Sie darin auch eine Renaissance des Nationalismus oder des Patriotismus, weil Sie von Heimatrecht sprechen?

    Posselt: Ich glaube, das hat überhaupt nichts damit zu tun. Die Vertreibung war eine elementare Menschenrechtsverletzung, und diese Vertreibung hat Menschen aller politischen Orientierungen getroffen. Insofern glaube ich, dass eine Aufarbeitung dieser elementaren Menschenrechtsverletzung die Voraussetzung dafür ist, dass wir ein Europa der Menschenrechte als gesamteuropäische Menschenrechtsgemeinschaft errichten können, in der sich die Völker in die Augen schauen können. Es gibt keinen Anlass, die deutschen Verbrechen oder die Verbrechen, die in deutschen Namen begangen wurden zu beschönigen, aber genauso müssen auch die Verbrechen aufgearbeitet werden, die an Deutschen begangen wurden.

    Laminski: Es ist sehr erstaunlich, dass diese Thematik die Gefühle derart anspricht. Das war beim Thema Leitkultur vor einigen Monaten genauso. Gibt es da Parallelen?

    Posselt: Ich glaube, dass dies viel tiefer geht, weil wir ja auch sehen, dass ein Schriftsteller wie Günther Grass, der zwar ein Vertriebener ist, aber dieses Thema selbst jahrzehntelang gemieden hat, plötzlich mit seinem neuesten Roman dieses Thema aufgreift, wie das vorher z.B. auch schon Siegfried Lenz getan hat. Also, es gibt auch bedeutende deutsche Links-Intellektuelle, die jetzt beginnen, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen, weil es eben nicht eine politische Auseinandersetzung ist, sondern einfach ein untrennbarer Bestandteil der eigenen Geschichte. Wir dürfen nicht vergessen, dass 15 Millionen Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden, und diese 15 Millionen Deutschen und ihre Nachkommen - das ist doch ein erheblicher Teil des deutschen Volkes und des deutschen Schicksals - haben sich niemals nur als eine monolithische politische Einheit gesehen, sondern da gibt es eine Fülle von Landsmannschaften, Traditionen, politischen Auffassungen, wie im übrigen deutschen Volk oder im übrigen Europa auch. Alle eint eben der Wille, gegen diese Menschenrechtsverletzungen und ihre Ursachen anzugehen und dafür zu sorgen, dass dies nie wieder geschieht.

    Laminski: Das Thema Vertreibung und seine politische Relevanz für Europa - das war der Europapolitiker Bernd Posselt. Besten Dank Herr Posselt für dieses Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio