Dienstag, 19. März 2024

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Mussorgskis "Boris Godunow" in Zürich
Faszinierender Klang - per Glasfaserkabel

Große Oper mit Chor und Orchester sind aufgrund der Corona-Einschränkungen zurzeit nicht möglich. Das Opernhaus Zürich hat sich deshalb für Mussorgskis "Boris Godunow"ein besonderes Konzept überlegt. Beide Ensembles agierten im geräumigen Probenraum drei Kilometer entfernt - und wurden per Glasfaserkabel übertragen.

Von Elisabeth Richter | 21.09.2020
    Eine Frau mit blonden langen Haaren sitzt auf einem von mehreren goldenen Stühlen, dahinter steht ein schwarzgekleideter Mann und hebt singend die Arme.
    Während die Sänger auf der Bühne spielen durften, wurden Orchester und Chor live zugeschaltet. (Opernhaus Zürich/ Monika Rittershaus)
    Groß, mächtig überwältigend klingt die Musik in den Chören in Mussorgskis Boris Godunow – wie hier in der Krönungsszene. Und doch mischen sich oft störende Elemente in den Klang. Sie können als Zeichen der gebrochenen Seele des Potentaten verstanden werden. Historisch ist nicht gesichert, ob Boris den eigentlichen Thronfolger Dmitri, ein Kind, ermorden ließ. Mussorgski aber geht davon aus. Immer wieder wird der Titelheld von Gespenstern verfolgt, in Wahnvorstellungen erscheint ihm das getötete Kind.
    Ein kaum zu überbietendes Sänger-Ensemble
    Michael Volle als Boris Godunow färbt seinen Bariton mit feinen Nuancen, er singt und spielt diese im wahrsten Sinne des Wortes "Wahnsinnspartie" mit atemberaubender Authentizität. Man folgt ihm in jede Gefühlsregung, man glaubt ihm den Wahn, man spürt seine Doppelzüngigkeit, seine Panik. Nirgends vermisst man Kraft, sollte man vorher Zweifel gehabt haben, denn die Partie wird auch oft mit einem Bass besetzt. Überhaupt wurde bei dieser Zürcher Neu-Inszenierung ein kaum zu überbietendes Sänger-Ensemble geboten. Einer darunter war Brindley Sherratt als Mönch Pimen, der Chronist der russischen Geschichte, ausgestattet mit facettenreichem, sonor-kernigem Bass.
    Musikalisch und szenisch ging das Opernhaus Zürich in diesen Pandemie-Zeiten einen eigenen, durchaus risikobehafteten und auch kostspieligen Weg. Mussorgskis Boris Godunow ist ein opulent besetztes Werk. Aber Chor und Orchester haben zur Zeit in keinem Opernhaus genügend Abstands-Raum. In Zürich agierten beide Ensembles im geräumigen Probenraum drei Kilometer entfernt, per Glasfaserkabel wurde der Klang direkt ins Opernhaus übertragen. Dort sangen die Sänger live.
    Die Abstände, erklärt Tonmeister Oleg Surgurtschow, werden mit weit mehr als 60 Mikrophonen überbrückt. Das Tonsignal gelangt in höchster Qualität ins Opernhaus.
    "Ich bekomme an mein Mischpult alle einzelnen Mikrophone vom Orchester und vom Chor. Ich mache eine Mischung auf mehrere Lautsprecher im Saal und auf der Bühne, dass ich und alle den Eindruck bekommen, das kommt wirklich aus dem Orchestergraben und das Orchester klingt so authentisch, wie es klingen muss. I do my best, ich versuche es natürlich. Es ist nicht dasselbe wie ein live Orchester, das ist klar, aber das ist ein hochwertiger Klang."
    Faszinierender Klang
    Tatsächlich war der Klang faszinierend, Kompliment! Live-Bühne im Opernhaus und Fern-Orchester und –Chor hatten keinerlei Koordinierungsprobleme. Dirigent Kirill Karabits sorgte für einen facettenreichen immer durchsichtigen Klang, trotz aller Opulenz. Die vielen stilistisch in den Impressionismus Debussys vorausweisenden Passagen arbeitete er mit wunderbarer Farbigkeit heraus. Dissonanzen und Sprödigkeit des Klangs als Ausdruck der angespannten Seelenlagen verband Karabits überzeugend mit den konventionelleren Passagen im Stil der Grand Opéra. Der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor faszinierte mit gut balancierter, nicht überzogener Kraft.
    Szenisch-schauspielerische Intensität
    Regisseur Barrie Kosky musste diese große Chor-Oper ohne Chor auf der Bühne inszenieren. Ihm gelang mit allen Sängern eine kammerspielartige und vor allem szenisch-schauspielerische Intensität.
    Barrie Kosky hat sich zeitlose Orte von Bühnenbildner Rufus Didwiszus bauen lassen. Die ersten zwei Akte führen in ein Archiv, meterhohe mobile graue Regale, im Raum Stapel von Büchern verteilt. Sie speichern das Wissen, die Geschichte, vielleicht die Wahrheit. Ja sie fangen sogar – als kleine humoristische Note – an zu sprechen. Wenn der Chor aus der Ferne singt, bewegen sich manchmal die Bücherdeckel im Takt.
    Durch die Szene geistert in allen Akten ein junger Mann, ein Hippie mit Ringel-Strickjacke und Pferdeschwanz, er beobachtet das Geschehen, ist von den Grausamkeiten zu Tode erschreckt. Am Schluss entpuppt er sich als Gottesnarr, der in dieser Oper das letzte Wort hat und das Schicksal des geknechteten und an der Nase herumgeführten russischen Volkes beweint.
    Ein berührender Abend
    Im Schlussbild – es ist von einer riesigen Glocke in fast leerem Raum mit einigen verstreuten Büchern dominiert – vermisst man den zum wütenden Mob werden Chor auf der Bühne dann schon ein wenig. Den Wahn und die Fantasien des aufgebrachten Volkes zeigt aber der Gottesnarr. Ein gelynchter, blutiger Bojar wird zum Klöppel der Glocke, den der Gottesnarr wie besessen schwingt.
    Die Glocke hängt über einer Art Brunnen, in dem Boris Godunow zuvor schon unerlöst zu Tode gekommen ist. In ihm verschwinden bis auf den Gottesnarren alle. Wie besessen sammelt er die Bücher auf - das geballte Wissen, die Wahrheit – und überantwortet sie dem Orkus, in dem er dann auch selbst verschwindet. Ernüchternd, bitter. Aber ein berührender Abend.