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Mut zur Muße

Burn-out und permanente Erschöpfung sind für heutige Arbeitnehmer die Belege ihrer Arbeit - diese Schlüsse zieht der Psychologe Stephan Grünewald unter anderem aus gut 5000 Interviews zu dem Thema. In seinem Buch ruft er zur Muße und zum Träumen auf.

Von Gisa Funck | 28.05.2013
    "Wir führen einen Kreuzzug gegen die Langeweile. Langeweile ist so das Schreckgespenst unserer Effizienz-Neuzeit. Aber Langeweile ist eigentlich so die Verfasstheit, in der wir kreativ sein können. In der wir uns selbst noch einmal ganz anders spüren, indem wir uns selbst noch einmal eine ganz andere Richtung geben können. Ich zitiere ja auch den Egon Friedell, der sagt: Selig sind die Stunden der Langeweile, denn in diesen Stunden arbeitet unsere Seele. "

    Langeweile, freie Zeit, wirklich einmal gar nichts tun. Ja, womöglich noch nicht einmal an etwas Zielgerichtetes denken. Das bedeutete immer schon eine harte, existenzielle Prüfung für den ablenkungsfreudigen Homo Sapiens. Schließlich rührt das Unglück der Welt nach Blaise Pascal bekanntermaßen nicht zuletzt daher, dass kein Mensch es auf Dauer mit sich allein und schön ruhig in seinem Zimmer aushält. Muße braucht Zeit und vor allem Mut. Sie war noch nie etwas für Feiglinge. Doch dank ständig neuer Krisenberichte, einer allgemein wachsenden Verunsicherung und der Möglichkeit zur Non-Stop-Kommunikation, scheint der Bürger von heute unfähiger denn je zur Muße zu sein. Ja, selbst schon ihre lasterhafte Schwundform, den Müßiggang - also: das bloße Pause-Machen - kriegen offenbar immer weniger hin, bilanziert der Kölner Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald in seinem Buch Die erschöpfte Gesellschaft:

    "In der freien Zeit erleben wir auf einmal, dass alle diese ungelösten Fragen und Probleme schlagartig auf uns einstürzen. Was will ich vom Leben? Wofür erziehe ich meine Kinder? Bin ich mit mir und meiner Familie zufrieden? Was bringt die Zukunft in Deutschland oder in der Welt? Diese Fragen sind uns aber ungeheuerlich Und dann ist die Gefahr groß, dass wir wieder in die besinnungslose Betriebsamkeit des Hamsterrads einsteigen. Weil in dieser besinnungslosen Betriebsamkeit machen wir uns keine Gedanken. Das heißt: die große Tendenz, die ich beobachte: Sobald sich offene, unverplante Zeit eröffnet, greifen wir entweder zum Handy oder zum Smartphone und führen den Kreuzzug gegen die Langeweile. Machen Unterhaltungs-Daddelei, um irgendwie abgelenkt zu sein. Oder wir stürzen uns ins Effizienzgetriebe, dann sind wir auch anders abgelenkt. "

    Angeblich mehr als 5000 Tiefeninterviews haben Grünewald und seine Mitarbeiter des Marktforschungsinstituts Rheingold mit Probanden aus ganz unterschiedlichen Berufssparten gemacht. Das Ergebnis dieser Befragungen liest sich ebenso bizarr wie erschütternd. Und unterscheidet sich tatsächlich nicht sehr von den Bilanzen anderer Bücher, die neuerdings vermehrt über die neue deutsche Rastlosigkeit veröffentlicht werden. Denn, obwohl inzwischen fast jeder zweite Arbeitnehmer hierzulande über zu viel Stress am Arbeitsplatz klagt, stürzen sich die meisten Beschäftigten doch - das stellt nun auch Grünewald fest - merkwürdigerweise auch in ihrer Freizeit noch weiter in Aktivitäten.

    Da mailen, tippen, chatten, bloggen, daten, shoppen oder joggen viele selbst nach Feierabend noch weiter - statt sich endlich mal ein bisschen auszuruhen. Eine Hetze ohne Unterlass, die immer öfter im Burn-out endet. Also in der totalen Erschöpfung, die aber bezeichnenderweise in unserer beschleunigten Leistungsgesellschaft einen durchaus positiven Klang besitzt. Nur wer einen Burn-out hat, so die landläufige Meinung, hat auch wirklich für seine Sache gebrannt. Auf diese Weise avanciert der Psychodefekt geradezu zur "Tapferkeitsmedaille" des heutigen Fleißarbeiters, schreibt Grünewald. Zumal dieser inzwischen sowieso oft nur noch am Grad seiner Erschöpfung ablesen kann, dass er überhaupt gearbeitet hat. Denn je mehr uns der Computer die Arbeit abnimmt, desto weniger messbar wird sie für uns – und desto sinnloser kommt sie vielen vor:

    "In früheren Zeiten gab es diese Rückbestätigung dergestalt, dass man das Werk des Tages vor Augen hatte und einen Werkstolz empfand. Also der Schreiner war stolz auf das Möbelstück, das er gefertigt hatte. Der Vertreter vielleicht über den Abschluss, den er getätigt hatte. Heute sind viele Arbeitsprozesse, in der Wirtschaft vor allen Dingen, so fragmentiert, frikassiert, so formalisiert, dass man das Gefühl hat, man hat zwar den ganzen Tag irgendetwas gemacht, war in Meetings, hat Mail-Hundertschaften bearbeitet, aber man weiß überhaupt nicht mehr genau, was man gemacht hat. Und man sucht sich jetzt seine Rückbestätigung darin, wie groß der Grad der Erschöpfung ist. Das heißt, der Werkstolz ist durch den Erschöpfungsstolz ersetzt worden. Und wenn ich abends komplett ausgelaugt bin, habe ich das Gefühl: Mann, das war ein guter Tag!"

    So ganz neu klingen Grünewalds Befunde in "Die erschöpfte Gesellschaft " tatsächlich nicht. Karl Marx hätte vermutlich von entfremdeter Arbeit statt von mangelndem Werkstolz gesprochen. Heutige Soziologen wie etwa Hartmut Rosa warnen bereits seit Jahren vor zu viel und vor zu stark beschleunigter Kommunikation. Und nicht nur immer mehr gestresste Fernseh-Promis wie Miriam Meckel oder Sarah Kuttner warten neuerdings mit mahnenden Burn-out-Beichten auf. Auch immer mehr Kulturwissenschaftler und Kulturjournalisten wie zuletzt etwa der Philosoph Manfred Koch oder der ZEIT-Autor Ulrich Schnabel plädieren für eine Rückkehr zu Muße und Entschleunigung. Nichts anderes tut nun auch Grünewald. Nur, dass er als Psychologe lieber nicht von "Muße", sondern von der seelenerquickend-schöpferischen Kraft des Träumens spricht:

    "Wir brauchen wieder eine andere Rhythmik im Alltag von Innehalten und Betriebsamkeit. Innehalten ist etwas total Schöpferisches, das ist nicht vertane Zeit. Wir brauchen wieder den Mut, nicht direkt aufzustehen, wenn der Wecker klingelt, sondern: Wir bleiben mal eine Viertelstunde liegen und dösen. Und spüren mal nach: Was hat sich da ereignet? Weil der Traum letztendlich die Betriebsblindheit des Tages kompensiert. Der Traum rückt in den Blick, welche Sehnsüchte untergegangen sind, welche Probleme wir nicht bearbeitet haben. Der Traum macht Werbung letztendlich für die nicht-gelebten Seiten unserer Wirklichkeit. Und er provoziert uns: Guck mal hin! Mach’ was anders! Kram’ dein Leben um!"

    Schon in seinem Buch "Deutschland auf der Couch" hat Grünewald der Berliner Republik vor sieben Jahren therapeutisch die Leviten gelesen. Die Nation, so warnte er schon damals, verharre zu sehr in "in überdrehter Erstarrung". In "Die erschöpfte Gesellschaft" wiederholt Grünewald nun noch einmal seine mahnenden Thesen, wenngleich er sie mit neuen, aktuellen Beispielen belegt: Sei es der Untergang der Costa Concordia oder der Bürgerprotest gegen Stuttgart 21. Sei es die Früh-Vergreisung der jungen Generation Biedermeier oder der Aufstieg der interneteuphorischen Piraten-Partei.

    Was Grünewalds trotz dem lesenswertem Gesellschaftspsychogramm allerdings vor allem fehlt, ist eine historische und sozialpolitische Perspektive. Denn warum sind Muße und Träumen heute eigentlich so tabuisiert, und das keineswegs nur in Deutschland? Hier lediglich auf die fehlende deutsche Identität, die aktuelle Krisenlage oder die Nazi-Vergangenheit zu verweisen, wegen der die Deutschen angeblich besonders viel Angst vor Visionen hätten, greift als Erklärung zu kurz. Immerhin gab es auch hierzulande durchaus Epochen, in denen die Muße als erstrebenswerte Lebensform höchstes Ansehen genoss, während stundenlanges Arbeiten als seelentötende Tätigkeit verpönt war. Vor allem die Dichter der Romantik priesen den magischen Moment einer Unio Mystica mit dem Göttlichen in Stille und Einsamkeit – und schickten in ihren Werken nicht zufällig ständig Taugenichtse auf Wanderschaft.

    Erst mit dem Siegeszug der protestantischen Leistungsethik und durch die Industrialisierung wurden das absichtslose Träumen und die Muße verdächtig. Aus dem schöpferischen Müßiggänger wurde der sozial geächtete Faulenzer, der den Mächtigen schon deshalb suspekt war, weil er kostbare Arbeitszeit unkontrolliert und scheinbar unproduktiv verschwendete. Unsere heutige Unfähigkeit zum süßen Nichtstun hat also auch viel mit einem rigiden Disziplinierungsprozess der kapitalistischen Gesellschaft zu tun, wie ihn schon Max Weber und Norbert Elias beschrieben haben. Ein Prozess, der inzwischen offenbar so weit fortgeschritten ist, dass bei vielen Arbeitnehmern der Ausbeuter längst im eigenen Kopf sitzt. Ganz ähnlich wie der fleißige Protestant früher die Faulheit als Sünde bewertete, so ist nun auch dem effizienz-gläubigen Workaholic jede Unterbrechung seiner Geschäftigkeit ein Gräuel. Und nimmt keineswegs nur die Intoleranz gegen Träume und Muße zu, sondern gegen nichts weniger als den Lebensgenuss per se, wie man etwa am kollektiven Kreuzzug gegen Raucher und Übergewichtige sehen kann. Die wachsende Intoleranz gegen alles Irgendwie-Ineffiziente beobachtet auch Grünewald mit Sorge:

    "Ich nenne das: das liberale Paradox. Wenn wir unsere Bundesregierung angucken, da haben wir eine Frau aus dem Osten, da haben wir einen Rollstuhlfahrer, da haben wir einen Homosexuellen und einen Vietnamesen. Wunderbar, wunderbar liberal! Aber gleichzeitig haben wir im Moment eine Tabuisierung des Anders-Werdens. Also, alle die Zustände, die uns in eine andere, durchlässigere Verfasstheit bringen können, die tabuisieren wir. Ob es das Trauern, das Träumen, die sexuelle Hingabe, der Genuss von Essen, das Rauchen oder der Alkohol ist: Alles das sind Sachen, die jetzt via Kontrolltendenz immer weiter zurückgedrängt werden. Wir haben die Fiktion errichtet eines Lebens, was wir komplett steuern und im Griff haben können. Wir vereinseitigen uns in unserem Effizienz-Gebaren. Dadurch sind wir am Ende nur noch erschöpft, aber nicht mehr schöpferisch."

    Literatur:
    Stephan Grünewald: "Die erschöpfte Gesellschaft- Warum Deutschland neu träumen muss", Campus Verlag, 187 Seiten, 19.99 Euro.