Samstag, 20. April 2024

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Mutra - Die Fratze

"Andere Staaten haben eine Mafia, in Bulgarien hat die Mafia ihren Staat." Diesen Satz zitieren die Bulgaren gerne achselzuckend, wenn sie ihrem Ärger über die Zustände im Land Luft machen. Tatsächlich sind sie überall zu sehen, die sogenannten "Mutri", auf Deutsch "Fratzen": Neureiche, die in den neunziger Jahren durch Schmuggel, Diebstahl oder Korruption Geld machten.

Mit Reportagen von Simone Böcker | 24.01.2009
    Ein Bürger aus Sofia über Mafiosi in Bulgarien

    "Sie sind überall. Das ist eine alte Wunde, und keiner weiß, wann die mal gesäubert werden wird. Bis jetzt wurde noch nicht einmal damit angefangen. Hier in Bulgarien spricht man von Gemeinden, ganzen Städten, die sich die Clans aufgeteilt haben. Das ist Fakt, jeder weiß das."

    Und ein junger Staatsanwalt über eine neue Generation im Justizsystem.

    "Bei uns - in der Staatsanwaltschaft speziell - sind wir sehr enthusiastisch. Es gibt bei allen Kollegen hier eigentlich einen großen Willen zur Veränderung. Wir wollen, dass das Justizsystem in Bulgarien nicht immer nur mit Negativem verbunden wird."

    Gesichter Europas: Mutra, die Fratze - Organisierte Kriminalität in Bulgarien. Mit Reportagen von Simone Böcker. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber.

    Seit zwei Jahren ist Bulgarien Mitglied der Europäischen Union. Doch für die meisten Europäer ist das Land immer noch ein weißer Fleck auf der Landkarte. Nur so viel scheint mittlerweile bekannt zu sein: Bulgarien ist ein Balkanland, dass trotz aller angemahnten Reformen in Korruption, Misswirtschaft und Organisierter Kriminalität versinkt. Etliche EU-Fortschrittsberichte haben dies zur Genüge attestiert und kritisiert. Erstmals in der Geschichte hat die Europäische Kommission im Juli vergangenen Jahres sogar die Auszahlung von EU-Fördergeldern gestoppt, wegen publik gewordener Fälle von Betrug und Missbrauch.

    Auch die Bulgaren selbst kritisieren die unrühmlichen Zustände in ihrem Land. "Andere Staaten haben eine Mafia, in Bulgarien hat die Mafia ihren Staat." Dieser Satz ist schon zu einem geflügelten Sprichwort in Bulgarien geworden.


    Der Ursprung der Organisierten Kriminalität liegt in der Wendezeit vor 20 Jahren. Die Zeit des Übergangs vom Kommunismus zu einem wilden, ungezügelten Kapitalismus ist bis heute ein Trauma für die meisten Bulgaren. Sie bedeutete für viele nicht Aufbruch, sondern vielmehr Zusammenbruch.

    as Chaos dieser Zeit bot den Nährboden für kriminelle Gruppen aller Art und es war der Beginn eines neuen Phänomens: der "Mutri", übersetzt "Fratzen", wie die Mafiosi in Bulgarien genannt werden. Schmuggel, Diebstahl, Schutzgelderpressung - ihre kriminellen Geschäfte reichen bis zur vollständigen Ausplünderung des Staats bei der Privatisierung.

    Viele der damaligen Akteure sind nicht mehr am Leben: Erschossen auf der Straße - Auftragsmorde, die so gut wie nie aufgeklärt wurden.


    Die Opfer der wilden 90er Jahre - Spaziergang auf dem Sofioter Zentralfriedhof
    Dicht gedrängt stehen die Grabsteine auf dem Sofioter Zentralfriedhof. Über das parkartige, etwas verwilderte Gelände weht ein eisiger Wind. Tihomir Bezlov schlägt seinen Mantelkragen hoch und steuert auf eines der Gräber zu: Am Kopfende ragt ein mannshoher Grabstein aus schwarzem Marmor empor. Neben dem Namen ist ein Porträt eingraviert, von Dmitri Minev, genannt "Rusnaka" - Der Russe.

    "Das war einer der spektakulärsten Morde in Bulgarien. Der Mann wurde in der zentralsten Straße in Sofia, auf dem Vitosha Boulevard, erschossen. Vor einem Cafe, in das er immer gegangen ist. Ein sehr professionell ausgeführter Auftragsmord."

    Tihomir Bezlov ist Kriminologe beim Zentrum für Demokratieforschung in Sofia. Der Mann Mitte 40, mit strengem Blick und großer Brille, weiß fast alles über sie - über die lebenden und ermordeten "Mutri" der sogenannten "Übergangszeit", der 90er Jahre.

    Plötzlich tauchten sie überall auf: Schwarz gekleidete Männer mit wenig Hals, aber dafür umso breiteren Schultern, die mit teuren Autos durch die Straßen brausten - viele von ihnen ehemalige Leistungssportler. Während des Kommunismus noch intensiv gefördert und hofiert, standen sie nach der Wende plötzlich auf der Straße.

    "Diese Sportler, vor allem Boxer, Ringer, Judo- und Karatekämpfer, hatten Erfahrung mit Gewalt. Sie waren gewohnt, Schmerzen zu ertragen und Schmerzen zuzufügen, womit der normale Mensch keine Erfahrung hat."

    Ein Windstoß lässt die trockenen Blätter im Kreis tanzen, die sich neben dem Grab gesammelt haben.

    "Gleichzeitig war der Staat in diesen Jahren in einer Krise: finanziell und was die Gesetze anging. Er hatte praktisch sein Gewaltmonopol abgegeben. Und genau in dem Moment kam es zu einem enormen Boom an kriminellen Aktivitäten. Dieser Mix aus ehemaligen Sportlern, aus ehemaligen Polizisten, Gefängnisinsassen, gründete Sicherheitsfirmen, die Schutz gegen Bezahlung anboten. Sie verkauften Gewalt."

    Dmitri Rusnaka war einer von ihnen. Autodiebstahl, Schutzgelderpressung, Schmuggel, Mord - die Palette der "Grupirovki", der kriminellen Banden, war groß. Tihomir Bezlov rückt seine Brille mit den getönten Gläsern zurecht. Seit über zehn Jahren beschäftigt er sich mit der Organisierten Kriminalität in Bulgarien. Die "goldene Ära", erzählt er, die begann Mitte der 90er Jahre, mit der Gründung sogenannter Versicherungsgesellschaften. Dmitri Rusnaka war einer der Bosse von "SIC" - eine der kriminellsten Organisationen der damaligen Zeit.

    "Der Unterschied zu normalen Versicherungsgesellschaften ist der, dass kein Dieb sich getraut hat, Eigentum anzurühren, das zum Beispiel bei SIC versichert war. Wenn ein Sticker der Versicherung am Auto oder im Schaufenster klebte, dann haben sie das Objekt in Ruhe gelassen, weil sie es sonst mit den Schlägern der Versicherung zu tun bekamen, die die Diebe suchten und drohten, sie umzubringen. Deswegen bekamen die Versicherten ihren gestohlenen Besitz meistens zurück."

    Umgekehrt hieß das: Wer nicht die Dienste von SIC oder ähnlichen Kriminellen in Anspruch nahm, dem wurde sein Auto mit größter Sicherheit gestohlen, erzählt Tihomir Bezlov und geht weiter den Weg hinab. Angst und Unsicherheit gehörten für die Bulgaren in dieser Zeit zum Alltag.

    Von der nahen Verkehrsstraße dringt Lärm herüber. Alte Frauen legen Blumen auf die Gräber ihrer Angehörigen nieder, manchmal auch Brot, Kuchen, Plastikflaschen mit Wein oder Schnaps. Tihomir Bezlov bleibt vor dem Grab von Emil Kjulev stehen, einer anderen prominenten Figur der turbulenten Übergangszeit.

    "Kjulev war ursprünglich im Polizeidienst und arbeitete im Bereich Schwerverbrechen. Unmittelbar nach der Wende hat er den Dienst verlassen und begonnen, sich mit juristischer Beratung zu beschäftigen. Er hat als Anwalt angefangen und sein Leben als zweitreichster Mann in Bulgarien beendet."

    Tihomir Bezlov nennt Leute wie Kjulev "politische Investoren": Leute, die Politiker kaufen, um Geschäftsvorteile zu bekommen. Die ihre guten Kontakte zu alten Kollegen aus den kommunistischen Strukturen dazu benutzt haben, sich Immobilien, Fabriken, ganze Industriezweige günstig unter den Nagel zu reißen.

    Danach treten sie auf wie ganz normale Geschäftsmänner - doch manchmal mit erhöhtem Sicherheitsrisiko. Wie Dmitri Minev und Emil Kjulev sind mittlerweile fast 200 Unterweltbosse den unerbittlichen Machtkämpfen zum Opfer gefallen.

    "Auch das Töten ist eine Investition, und sie ist sehr vorteilhaft, um Konkurrenten auszuschalten. Ein Auftragsmord zum Beispiel kostet 100.000 oder eine Million Euro oder Dollar, während zum Beispiel das Platzieren eines guten Produktes mehrere Millionen für Reklame, Marketing und so weiter kostet. Wenn aber der Chef einer Firma einfach erschossen wird, dann ist auf einen Schlag sein ganzes Geschäft erledigt. So war das mit Emil Kjulev und vielen anderen."

    Tihomir Bezlov wendet sich ab und schlägt den Rückweg ein Richtung Haupttor. Die 90er Jahre sind zum Glück vorbei, meint der Kriminologe. Heute würden der Schmuggel, die gewalttätigen Machenschaften der "Grupirovki" fast keine Rolle mehr spielen. Auch die Zahl der Auftragsmorde, die in den westeuropäischen Medien immer für großes Aufsehen sorgen, nehme weiter ab. Die politischen Investoren, ja, die seien weiterhin gefährlich. Aber Mafia - das Wort bereitet Tihomir Bezlov heute eher Kopfschmerzen.



    In seinem Roman "Verfall" beschreibt der bulgarische Schriftsteller Vladimir Zarev zwei typische menschliche Schicksale in Zeiten des politischen Umbruchs. Dabei kontrastiert er den sozialen Abstieg eines während des Sozialismus gefeierten Schriftstellers mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des kleinen Beamten Bojan Tilev. Bislang Fotograf im Innenministerium, schlägt Tilev unversehens eine steile kriminelle Karriere ein. Von einem hohen Parteifunktionär, dem General, persönlich auserwählt, wird er mit Schmuggelgeschäften beauftragt. Denn Geld ist das Mittel, mit dem die Kommunisten versuchen, ihre Macht zu erhalten.

    "Damals, als der General ihn zu sich in seine Villa nach Shelesniza bestellt hatte, ein dörfliches, herausgeputztes Häuschen mit Tonnen unter dem Dachtrauf, die das Regenwasser auffangen sollten, war er zwei Stunden später völlig verwirrt wieder heimgekehrt und hatte Maria sofort alles erzählt.

    "Tu es nicht!", hatte sie ihn damals gewarnt.

    "Ich muss: Das ist ein Befehl!", log er.

    "Niemand kann Dir so etwas befehlen."

    "Im Gegenteil!", log er erneut.

    Kaum einen Monat später kündigte Bojan im Innenministerium und tauschte die Stille des Fotolabors mit dem feinen Stimmengewirr im Hotel New Ottany. Er war auf einmal Tag und Nacht beschäftigt. Das viele Geld, das er jetzt verdiente, zerschlug sein gleichförmiges, träges Leben wie ein kräftiger Hagelschauer.

    Anfangs zählte er es noch, bis seine Finger weh taten vor lauter Zählen - Anfeuchten - Zählen - Anfeuchten der dicken Bündel mit den Dollarscheinen. Das feine Zischen, das ein Schein machte, wenn man ihn herauszog, betäubte ihn. Er zählte sie, weil er Angst hatte, dass die Summe nicht stimmen könnte, und beeilte sich nach vollzogenem Ritual, den gemieteten Safe im Tresorraum des New Ottany wieder zu verschließen und sich dem schimmernden Grün der Scheine zu entziehen wie einem bösen Traum.

    Nach und nach verlor er seinen Schlaf, seine Begeisterung für Fußball, seine Potenz; aber dafür bekam er einen BMW von einem Araber, der sich auf den Export gestohlener Pkw spezialisiert hatte, schließlich einen Mercedes. Er verkaufte das Zweizimmerappartement in der gewaltigen Plattenbausiedlung Ljulin im Nordwesten Sofias und blätterte cash 89.000 Dollar hin für eine zweihundert Quadratmeter große Maisonettewohnung im feinen Viertel Losenez. Eine Wendeltreppe führte aus dem Wohnzimmer hinauf in die vier oberen Zimmer, und die Fenster öffneten sich weit zum Vitoscha-Gebirge hin, mit dessen Anblick sie aufwachten und einschliefen. War das die Zeit, in der er Maria verlor?"

    Viele "Mutri" operieren mittlerweile offiziell als seriöse Geschäftsleute - mittels eines Netzwerks aus legalem und illegalem Business, verflochten mit lokalen Behörden und alten Seilschaften. Auf diese Weise schaffen sie es, Gesetze zu umgehen, oder gar eigene Gesetze zu schaffen - ohne Kontrolle, ohne Einmischung. Es wird vermutet, dass Verbindungen bis in die höchsten Machtetagen der Regierung bestehen, zu Personen, die einen politischen Schutzschirm über die Mutri spannen.

    Vor allem auf der lokalen politischen Ebene, in den Rathäusern der Gemeinden und in den Landkreisen 'verbandeln' sie sich direkt mit den örtlichen politischen Kräften. Ein Geschäftsmodell, das eine Win-Win Situation darstellt: sowohl für die Mutri als auch für die Politiker. Oftmals bilden sie eine Einheit, in der sie durch gegenseitiges Gewähren lassen und Geldgeschenke ihre jeweiligen Interessen ergänzen.

    So auch in Dupnitsa - einer auf den ersten Blick normalen, ruhigen Kleinstadt am Fuße des Rila-Gebirges. Etwas mehr als 40.000 Einwohner zählt der Ort. Er liegt rund 60 Kilometer von Sofia entfernt. Zwar gibt es in Dupnitsa einen gewählten Bürgermeister und gewählte Ratsmitglieder, das Sagen haben jedoch andere.


    Terror in Dupnitsa - Eine Stadt im Griff der "Mutri"
    Der Versammlungssaal im Rathaus von Dupnitsa ist gut gefüllt. In den Sitzreihen vor dem Podium haben die 33 Ratsmitglieder Platz genommen. Bürgermeister Atanas Janev betritt den Raum.

    In der Seitenreihe sitzt Lidia Pavlova. Die kleine Frau mit der dunklen Haarmähne und den knallroten Lippen schreibt für die Zeitung "Struma". Ungeduldig schüttelt sie den Kopf, als der Bürgermeister den ersten Antrag verliest.

    Es geht um den Sportplatz der Stadt. Ein Hotel soll dort gebaut werden und der Bürgermeister will die Gemeindeimmobilie günstig an einen Investor abgeben. An "unseren Mann", wie er sagt. Lidia Pavlova schnaubt verächtlich. "Ohne Ausschreibung", zischt sie leise. Es geht zur Abstimmung. Einstimmig sprechen sich alle 33 Ratsmitglieder für den Vorschlag aus.

    "Alle Verkäufe werden hier ohne Ausschreibung abgewickelt. Es geht nicht darum, dass der Gewinn der Gemeinde zugute kommt, sondern es geht nur darum, dass der Auftrag an 'unseren Mann' gelangt, wie der Bürgermeister sagte, wie hier bei dem Sportplatz, einem der attraktivsten Objekte im Zentrum. Warum geht der Auftrag gerade an diesen Investor? Es gäbe ja vielleicht auch andere Kandidaten, die bessere Offerten machen. Aber nein, das wollen sie nicht."

    Die Sitzung hat nicht lange gedauert. Zu keinem Punkt gab es Diskussionsbedarf. Lidia Pavlova kann ihre Empörung kaum unterdrücken. Der gesamte Gemeindebesitz werde einfach verscherbelt. Ein abgekartetes Spiel. Denn in Wirklichkeit habe das Ratsgremium überhaupt nichts zu sagen.

    "Der Bürgermeister Atanas Janev hat zwei Berater. Oft sagt er, er habe 100 Berater. Nur: Dupnitsa hat nie einen Beraterstab von 100 Leuten gesehen. Dupnitsa hat nur zwei gesehen."

    Und das sind Plamen Galev und Angel Hristov, genannt die "Galevi-Brüder". Zwei kräftige Männer um die 40. Ihre kahlen kugelrunden Köpfe sitzen auf massigen Körpern. Ehemals im Polizeidienst, wurden sie wegen Verdacht auf kriminelle Machenschaften suspendiert. Seitdem haben sie ein riesiges Vermögen angehäuft. Wodurch ist bis heute unklar. Klar ist dagegen, so schreibt Lidia Pavlova in ihrer Zeitung immer wieder, dass sie die Mitglieder des Gemeinderats gekauft haben.

    "Jeden Tag sind sie im Büro des Bürgermeisters und entscheiden über die Dinge der Stadt. Der Bürgermeister kann keine Entscheidung treffen ohne das Einverständnis der beiden. Sie sind keine Politiker, aber von ihnen hängen alle Politiker der Stadt ab. Alle. Möglich ist das, weil die Galevi-Brüder den Politikern Geld geben. Vor jeder Wahlkampagne sagt mir Plamen Galev: Sie wissen doch wie die Dinge laufen. Was fragen Sie mich?"

    Regelmäßige Bestechungsgelder und krumme Geschäfte - die Zeitung "Struma" schreibt als einzige offen darüber, was in Dupnitsa abläuft und worüber andere schweigen. Seit sieben Jahren kämpft Lidia Pavlova gegen die illegalen Methoden der Galevi- Brüder.

    "Der Bürgermeister und die Galevi-Brüder haben schon öfters versucht zu veranlassen, dass ich entlassen werde. Sie haben sogar ihre Pressekonferenzen abgeschafft, damit ich nicht auftauche. Weil ich immer gekommen bin, auch wenn sie mich gar nicht eingeladen haben. Sie haben mündlich Anordnung gegeben, mich nicht ins Rathaus reinzulassen."

    Jetzt lacht die zarte Frau über ihre eigene Renitenz. Doch eigentlich ist ihr gar nicht zum Lachen zumute. Erst vor kurzem wurde ihr Sohn verprügelt, in einer Diskothek. Grundlos habe einer der Bodyguards der Galevi-Brüder Schläge ausgeteilt. Weder die Polizei noch die Ärzte in der Unfallklinik waren bereit, Hilfe zu leisten.

    "Während der Ereignisse in dieser Nacht habe ich verstanden, dass die Leute Angst haben. Wenn es um die Galevi-Brüder geht, dann sind alle gelähmt und sie machen aus Angst ihre Arbeit nicht mehr. Ein Teil der Polizei ist den Brüdern sogar gefällig. Manche Polizisten waschen ihnen die Autos. Einige haben praktisch zwei Arbeitsplätze. Ich sehe sie oft zusammen mit den Galevi-Brüdern."

    Lidia Pavlova kennt unzählige Fälle von Einschüchterung. Menschen, die bei ihr in der Redaktion anrufen und ihr Geschichten von Prügel und Bedrohungen erzählen, die aber ihren Namen nicht nennen wollen.

    Gleichzeitig treten die "Brüder" als Wohltäter auf: Eine großzügige Spende für das Krankenhaus oder einen Kindergarten, eine neue Parkanlage für die Stadt - das sind die Methoden, mit denen sich die Galevi-Brüder Zustimmung und Einfluss bei den Bürgern erkaufen. Und so mischt sich unter die Angst auch immer mehr Bewunderung.

    "Im Leben der normalen Leute passieren nicht so viele schöne Dinge wie bei den Galevi-Brüdern. Die schöne Villa, in der sie leben, die Autos, mit denen sie herumfahren! Und die Leute sagen: Das sind erfolgreiche Männer! Die Frauen zu Haus sagen zu ihren Männern: Warum kannst du nicht sein wie sie? Die Kinder lieben sie. Sie sind wie Supermann. Wie Helden aus Filmen."

    Lidia Pavlova verlässt das Rathausgebäude. Schnellen Schrittes eilt sie über den öden Rathausplatz in Richtung Fußgängerzone.

    "Die Leute haben noch immer mit den Problemen der Nachwendezeit zu kämpfen. Sie kämpfen um Anerkennung, und sie haben Probleme ihre Familien zu ernähren. Alle wollen Gewinner sein, keine Verlierer. Aber meistens sind sie Verlierer. Sie müssen zusehen, wie sie ihre elementarsten Bedürfnisse stillen. Die Leute sagen sich: Nur wenn wir auf der Seite der Galevi-Brüder sind, bekommen auch wir etwas vom Kuchen ab."



    "Die Zeit verging auf einmal im Nu und reichte vorne und hinten nicht. Bojan befasste sich als erstes mit dem Handels- und Strafrecht und merkte sich die Gesetze mit der Leidenschaftslosigkeit des Computers, der ihr bescheidenes Büro zierte. Die Lastwagen mit den Marlboro 100 kamen alle ein bis zwei Wochen an, aber jetzt war er nicht mehr allein, wenn er die Ware abnahm. Und er sah nicht mehr so hilflos aus wie beim ersten Mal.

    Bojan stopfte das Geld in den Lederkoffer, den er inzwischen benutzte, und schichtete die Geldpäckchen dann in seinen Safe. In seinem Bewusstsein gehörte das Geld noch immer niemandem. Das ein Teil davon aus unerfindlichen Gründen ihm zufiel, daran gewöhnte er sich nur langsam - so wie man sich daran gewöhnt, ins Bordell zu gehen, wo Geld die Liebe ersetzt. Das kindliche Schamgefühl, das er angesichts des aufgetürmten Geldes anfänglich besessen hatte, nahm ab und machte einer von Überdrehtheit und Überheblichkeit genährten Sicherheit, dass ihm das eben zustehe, Platz.

    Dabei entdeckte er die immaterielle Dimension des Geldes, die Macht, die es auf seinen Besitzer übertrug wie einen "Segen": Man war selbst unerreichbar, unbelangbar und daher auf irritierende Weise frei. Dazu gehörte eine bestimmte Art sich zu benehmen, die Bojan einübte. Er übte, den Pagen des New Ottany große Trinkgelder zu geben; er übte, Maria teure Parfüms und Kosmetika zu kaufen und - das Wichtigste - Menschen zu kaufen, vor allem ihre Zustimmung, ihr Schweigen oder ihren Gehorsam."

    Der Kampf gegen organisierte Kriminalität setzt einen funktionierenden Polizeiapparat und ein effizientes Justizsystem voraus. Doch hier hapert es noch gewaltig. Allein die Grundausstattung in den oftmals maroden Polizeirevieren lässt zu wünschen übrig. Das Justizsystem gilt als korrupt, ineffektiv und von allen gesellschaftlichen Bereichen als am stärksten reformbedürftig.

    Es fehlen Ergebnisse, mahnt die EU-Kommission in ihren Fortschrittsberichten. Zwar werden immer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt, die Täter jedoch oft nicht zur Verantwortung gezogen und bestraft.

    In der Bevölkerung hat sich deshalb die Gewissheit breit gemacht, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Und es gibt kaum einen Glauben mehr an die Reformbemühungen der Regierung, auch wenn die Politiker immer wieder beteuern, dass es ihnen nicht am Willen dazu fehle. Trotz all der Aktionspläne und schon eingeführten Reformen ist von außen kaum erkennbar, wie ernsthaft die Regierung tatsächlich an Veränderungen interessiert ist. Viele hoffen deshalb auf einen Generationswechsel. Denn vor allem junge Menschen sind es, die ihr Land zu einem funktionierenden Rechtsstaat verändern wollen.


    Reformen, um effektiver arbeiten zu können - Ein Staatsanwalt über die lahmen Mühlen der bulgarischen Justiz
    In den frühen Morgenstunden ist es im Büro von Staatsanwalt Bozhidar Dzhambazov noch angenehm ruhig. Eine wichtige Verhandlung steht heute an, der 36-Jährige trifft die letzten Vorbereitungen für sein Plädoyer. Und obwohl er bereits seit zwei Jahren stellvertretender Vorsitzender der Sofioter Staatsanwaltschaft ist, ist er etwas nervös. Seine Finger spielen mit der Telefonschnur, als er die Verwaltung anruft. Nein, die Raumnummer des Verhandlungssaals stünde noch nicht fest, heißt es, obwohl der Prozess eigentlich in ein paar Minuten anfangen soll. Der Staatsanwalt grinst verlegen. Das sei immer so, zu wenig Räume, kein Grund zur Beunruhigung. Noch Zeit für einen Blick in die Akten.

    "Der Prozess ging ursprünglich gegen Ivan Todorov, genannt Doktora. Gegen seine Firma 'Amigos 3' wurde ermittelt, bis er 2006 erschossen wurde. Angeklagt sind außerdem drei ehemalige Mitinhaber der Firma. Die Angeklagten sollen Scheinfirmen dazu genutzt haben, um Geld ins Ausland zu bringen. 98 Millionen Leva, umgerechnet rund 49 Millionen Euro, sind mit Koffern aus Makedonien nach Bulgarien gebracht worden. Das Geld soll aus dem Zigarettenschmuggel stammen. Und das ist die Hauptanschuldigung: Geldwäsche, gewonnen durch Zigarettenschmuggel."

    Schließlich kommt der Anruf. Die Verhandlung wird in Saal elf stattfinden. Bozhidar Dzhambazov packt seine Unterlagen zusammen und wirft sich seinen purpurfarbenen Umhang über. Seit 2005 ist er mit dem Fall "Doktora" beschäftigt, die Ermittlungen begannen bereits Ende der 90er Jahre. Es sei längst an der Zeit, die Sache abzuschließen, seufzt Bozhidar Dzhambazov.

    Vor dem Gerichtssaal warten Journalisten. In dem holzvertäfelten Raum haben sich eine Handvoll weiterer Zuschauer versammelt. Die Anwälte beantragen an diesem Morgen die Anhörung einer weiteren Zeugin, einer Mitarbeiterin der Firma "Amigos 3". Der Richter stimmt zu, der Prozess wird vertagt - auf einen Termin in zwei Monaten. Bozhidar Dzhambazov ist verärgert.

    "Wir haben schon fast die gesamte Firma 'Amigos 3' verhört, es ist absurd. Es wäre natürlich möglich gewesen, die Zeugin schon in den letzten drei Jahren vorzuladen. Trotzdem hat der Richter den Antrag zugelassen, weil die Rechte der Angeklagten in Bulgarien sehr weitreichend sind und die Richter sehr auf deren Einhaltung achten müssen."

    Sein Plädoyer steckt Bozhidar Dzhambazov wieder in die Tasche. Dass er es auch heute nicht halten konnte, überrascht ihn nicht. 20 Prozesstermine hat es bis jetzt gegeben, von denen seien noch nicht einmal die Hälfte für die wirkliche Arbeit genutzt worden, erzählt der Staatsanwalt.

    "Meine Meinung - und die vieler Kollegen der Staatsanwaltschaft - ist, dass man einen vernünftigen Kompromiss braucht zwischen den Rechten der Angeklagten und der Arbeitsfähigkeit der Gerichte. Die gibt es im Moment nicht. Das ist kein Geheimnis, das kann man überall hören und lesen, wie die Prozesse hinausgezögert werden, wegen Krankheit oder Nichterscheinen."

    Vor dem Gerichtssaal unterhält sich Bozhidar Dzhambazov mit einigen Journalisten. Er beantwortet Fragen, scherzt. Er kennt die meisten. Die Journalisten mögen ihn, weil er offen ist. Er gilt als jemand, der Probleme anspricht.

    Bozhidar Dzhambazov macht sich auf den Weg zurück in sein Büro. Für ihn ist klar: Es braucht weitere Reformen, damit das System endlich effektiv arbeiten kann. Doch Veränderung hängt manchmal nicht nur von Gesetzen ab.

    "Das Justizsystem ist wie überall sehr konservativ. Die Bevölkerung hatte jetzt 15 Jahre, um sich vom Sozialismus auf den Kapitalismus umzustellen. Im Justizsystem gehen die Veränderungen noch langsamer von Statten. Vergessen Sie nicht, dass das Justizsystem viele Ebenen hat. Zwischen der untersten Ebene, wo die Jüngsten arbeiten, und den Ebenen darüber, wo die Leute mit 20, 30 Jahren Erfahrung arbeiten, gibt es einen großen Unterschied im Denken. Aber ein Fall geht durch die Instanzen nach oben, und wenn sich unten die Denkweise verändert und oben nicht, dann kommt man nur schwer zu einem Ergebnis. Das braucht Zeit."

    Und wie steht es mit der Korruption, die oft als größtes Problem im Justizwesen genannt wird? Bozhidar Dzhambazov runzelt die Augenbrauen. Man müsse das ernst nehmen und bekämpfen, aber in seinem Umfeld spiele das keine große Rolle. Wichtiger sei vielmehr ein "neuer Geist" in der Arbeits- und Denkweise, und da sei viel geschehen in den letzten zwei Jahren, seit dem Wechsel des Generalstaatsanwaltes.

    "Vor drei Jahren wäre es sehr schwierig gewesen, mit Ihnen dieses Interview zu machen und offen über Probleme des Justizsystems zu reden. Das passiert jetzt und ich persönlich mache das sehr oft. Ich kann auch jederzeit zum Generalstaatsanwalt ins Büro gehen und mit ihm sprechen. Wenn es ein ernstes Problem gibt, dann versteckt er sich nicht, sondern im Gegenteil: Er nimmt dazu Stellung, man setzt sich an einen Tisch und versucht es zu lösen."

    Im Büro des jungen Staatsanwalts herrscht rege Betriebsamkeit. Kollegen kommen und gehen, das Telefon klingelt ununterbrochen. Seit wenigen Monaten ist Bozhidar Dzhambazov Vorsitzender einer neuen Spezialeinheit, die sich mit den Fällen von Missbrauch der EU-Gelder beschäftigt. Eine neue Priorität der Staatsanwaltschaft. Bozhidar Dzhambazov ist überzeugt: Es wird dabei Ergebnisse geben. Und früher oder später wird er auch den Fall "Doktora" abschließen. An seinem Willen jedenfalls wird es nicht scheitern.



    " In den ersten Nachwendejahren predigte man im Fernsehen Tag und Nacht die Marktwirtschaft, doch wenn es überhaupt einen Markt gab, dann nur im Bereich des Schmuggels und der unsauberen Geschäfte. Im gesetzlichen Vakuum herrschte eine erbarmungslose Konkurrenz, und ein brutaler Verdrängungswettbewerb setzte ein; Bojan war längst nicht mehr der einzige, der gefälschte West-Zigaretten importierte. Dadurch verfielen die Preise teurer Marken, und die Gewinne nahmen drastisch ab. Toni Houri ließ die Dinge einfach laufen.

    Nach dem Mittagessen wusste Bojan, dass es mit den Wundern, die Houri bisher vor seinen Augen vollbracht hatte, nun ein Ende haben würde. Die Inflation hatte die Hundert-Prozent-Marke überschritten, überall brach der Finanzmarkt zusammen, und der Raub der großen auf Kosten der Kleinen nahm weiter zu. Bojan ging es "für den Augenblick" noch bestens mit seinem märchenhaft gestiegenen Reichtum. Doch während er Toni Houri dabei beobachtete, wie er das dritte Tellerchen gehackter Petersilie leerte, fragte er sich: "Was nun?" und empfand dabei Trauer über das Ende des eingespielten Systems."

    In den letzten Jahren spricht man in Bulgarien auch oft von einer "Baumafia". Denn die Baubranche ist ein Bereich, in dem sich die illegalen Machenschaften von einigen Investoren besonders deutlich zeigen. Dabei hat sich vor allem die Tourismusindustrie als besonders lukrativ erwiesen.

    An der Schwarzmeerküste entstehen schon seit Jahren Hotelkomplexe ohne Genehmigung und gegen ökologische Richtlinien. Der neuste Trend heißt jedoch: Skitourismus. Das Städtchen Bansko im Piringebirge gilt als Exempel für eine besonders skrupellose Weise, wo illegale Skipisten in Naturschutzgebiete geschlagen wurden.

    Viele weitere Großprojekte sind derzeit geplant. Die Schattenseite des Traums vom neuen Skiparadies wird auch immer mehr den Bulgaren bewusst. Im Naturpark Vitosha, dem Gebirge in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt Sofia, ist der Kampf gegen die Baumafia jedoch noch nicht verloren.


    Nicht alles gleichgültig hinnehmen - Der Kampf der Naturschützer gegen die Baumafia
    Mit großen Schritten folgt Alexander Dountchev einem Pfad zum Gipfel des Berges Vitosha, rechts und links Wacholderbüsche, der Torfboden federt unter seinen abgewetzten Wanderschuhen. Der groß gewachsene 29-Jährige ist Forstwirtschaftler im Naturpark Vitosha. Er hat ein schmales Gesicht, hinter randlosen Brillengläsern funkeln dunkle, wache Augen.

    "Das ist der Naturpark Vitosha. Er ist der älteste in Bulgarien und streng geschützt. Das heißt, es ist nur erlaubt, hier zu Wandern und Ski zu fahren, und zwar in begrenzten Maßen. Bautätigkeiten im Park sind verboten. Denn die Schäden, die der Tourismus hier angerichtet hat, sind bereits zu groß, und jeder weitere Ausbau würde sich negativ auswirken."

    Alexander macht sich auf zur Skipiste "Vitosha Lale", um dort nach dem Rechten zu sehen. Begleitet wird er heute von Nadeschda Maximova, einer Umweltaktivistin. Gemeinsam wollen sie begutachten, was Bagger und Planierraupen auf der Skipiste angerichtet haben.

    Schon von weitem bietet sich ein Bild der Zerstörung: Erd- und Steinhaufen inmitten der idyllischen Berglandschaft, eine frisch gegrabene Trasse wühlt sich durch die Sträucher und Felsformationen, unmittelbar durch einen der sogenannten Steinflüsse. Wagenradgroße Steine ziehen sich wie in einem trockenen Flussbett den Hang hinab, sie gehören zu den Naturattraktionen des Parks. Eigentlich hatte die Firma "Vitosha Ski" nur die Erlaubnis, die Spitzen von 19 großen Felsbrocken zu kappen, die die Abfahrt auf der Piste behindern.

    "Unter dem Vorwand, dass sie nur von einigen markierten Steinen die Spitzen entfernen würden, haben sie Bulldozer und Bagger und Lkw hier hoch gebracht. Sie haben einfach eine neue Straße angelegt und dabei 100 Meter des Steinflusses zerstört, der hier ursprünglich lang geführt hat. Sie haben dabei auch die geschützte Gras- und Buschvegetation vernichtet. Das ist illegal."

    Die Straße ist bereits fertig, stellt der junge Forstbeamte fest. Sie verbindet jetzt zwei existierende Pisten. Weitere Pisten sollen folgen, weiß Alexander Dountchev und schaltet sein GPS-Gerät ein. Damit ermittelt er den genauen Standort, um nachher seine Beobachtungen in einer Karte einzutragen. In den letzten Monaten war Alexander Dountchev fast jeden Tag hier oben.

    "Wenn ich die Arbeiter entdecke, rufe ich die Polizei, zur Unterstützung und zum Schutz. Und um zu ermitteln, wer sie beauftragt und wer dazu die Erlaubnis gegeben hat. Aber nur selten bekommen wir Antworten auf diese Fragen. Die Polizei sagt ihnen nur, dass sie abhauen sollen und am nächsten Tag sind die Arbeiter wieder da, und erneut müssen wir mit der Polizei anrücken. So sieht das aus."

    Eine Sisyphosarbeit, aber aufzugeben kam dem Naturliebhaber noch nie in den Sinn. Unter seinem Arm klemmt ein dicker Aktenordner. In dem sind alle wichtigen Dokumente abgeheftet. So hat er sie immer griffbereit, die Beweise für die illegalen Bautätigkeiten an vielen Orten in Bulgarien. Verträge, Landkarten, Anklageschriften, Briefverkehr mit den Ministerien. Die Dokumente hält er den Investoren und Bürgermeistern dann unter die Nase, wenn sie behaupten, alles ginge mit rechten Dingen zu. Aber das hilft meist nichts.

    "Es gibt keine Strafen! Für nichts! Egal was passiert, niemand wird bestraft. Jahrelang wird immer wieder Berufung beim Gericht eingelegt. Sehr oft werden die Anklagen fallen gelassen. Wenn sie sehr schwerwiegend sind, findet man Wege, die Richter zu kaufen, um das Problem dann auf diese Weise aus der Welt zu schaffen."

    Dafür hat Alexander etliche Beispiele in seinem Aktenordner parat. Und auch die zuständigen Behörden bleiben meist untätig, kritisiert er.

    "Ein Grund sind auch die niedrigen Gehälter und der sehr starke Druck von höchsten Ebenen. Beamte beschweren sich, dass sie bei ihrer Arbeit gehindert werden. Sie haben da zum Beispiel jemanden gefasst, dann kommt ein Anruf aus dem Ministerium oder von einem der Chefs. Die sagen dann: 'Das ist unser Mann, lasst ihn laufen.' So wird die Arbeit der Beamten sinnlos. Sie machen sie einfach nicht mehr."

    Doch mittlerweile haben sich etliche Umweltorganisationen gegründet, die gegen die Bauaktivitäten demonstrieren. Junge Leute, wie Nadeschda Maximova, die es nicht zulassen wollen, dass ihre Natur allein wegen Investoreninteressen zerstört wird. Nadeschda zückt ihre Kamera und fotografiert die Schäden.

    "Ich möchte die Öffentlichkeit über diese Geschehnisse informieren, die auf diesem Berg vor der Nase aller Institutionen und staatlichen Behörden geschehen. Drei Millionen Menschen wohnen am Fuß dieses Berges und kaum einer weiß, was hier oben passiert. Es gibt eine regelrechte Medienblockade."

    Alexander nickt zustimmend. Auch das haben er und seine Kollegen schon erlebt.

    "Nachdem wir publik gemacht haben, dass alles, was oben auf dem Vitosha passiert, gegen das Gesetz ist, sind Berichte in mehreren Fernsehsendern verhindert worden. Journalisten haben erzählt, dass man ihnen nach Meinungsverschiedenheiten mit ihren Chefs gesagt habe, dass sie die Berichte nicht bringen sollen wegen des Drucks von außen, dem Druck auf die Fernsehdirektoren."

    Ein letzter Blick auf die umgepflügte Piste, dann machen sich die beiden Umweltschützer auf den Rückweg nach Sofia. Auch am nächsten Tag wird Alexander wiederkommen und versuchen, die Arbeiter an dem zerstörerischen Werk zu hindern.



    "Als Bojan sich endlich aus dem stinkenden Lokal verabschiedet hatte, geschah es mit dem Gefühl, wirklich das Richtige getan zu haben. Mochte Bulgarien noch so unregierbar sein, der Staatsapparat noch so unverantwortlich, eines Tages mussten Recht und Ordnung auch hier Einzug halten. Nicht wegen der Banker und der Kreditmillionäre, nicht wegen der Politiker und dem korrupten Justizsystem - die brauchte nicht einmal das verarmte Volk. Der größte Teil der Leute hielt sich und die Familie ohnehin nur durch kleine Betrügereien über Wasser und war darauf eingestellt, auf den Wellen des Chaos zu reiten. Der Taxichauffeur fummelte so lange an seinem Taxameter herum, bis der Kilometer nur noch achthundert Meter betrug. Sein Fahrgast, der vielleicht ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieb, verkaufte ihm dafür vielleicht vergammelten Käse. Das waren nur zwei Beispiele dafür, wie sich Armut, Betrug und Chaos zu einem unentwirrbaren Knäuel verflochten, aus dem es kein Entrinnen gab. Die Ordnung drängte also wirklich nicht für die Menschen nach Bulgarien, egal, was die Eurokommissare mit erhobenem Zeigefinger erzählten. Nötig war sie einzig und allein, weil das Geld ihrer bedurfte."

    Wenn publik wird, dass Politik, Verwaltung oder Teile der Wirtschaft in Korruption und kriminelle Machenschaften verwickelt sind, überrascht das in Bulgarien fast niemanden mehr. Schon lange haben sich die Menschen mit den Verhältnissen abgefunden. Kaum jemand glaubt noch daran, etwas verändern zu können. Dennoch: Seit dem Stopp der EU-Gelder kocht die Wut gegen die Regierung wieder hoch. Erneut lieferte sie in den Augen der meisten Bulgaren den Beweis dafür, mit den Problemen nicht fertig zu werden. Rücktrittsforderungen werden gestellt. Die Regierungskoalition hat mittlerweile das sechste Misstrauensvotum überstanden.

    Vergangene Woche hat ein breites Bündnis von Studenten, Naturschützern, Rentnern, Landwirten und Frauenverbänden zu Massenprotesten aufgerufen, um der Regierung die rote Karte zu zeigen. Lange genug habe man in einem Mafiastaat ohne Gesetze am unteren Ende der sozialen Skala gelebt, so die Organisatoren. Sie fordern einen grundlegenden Wechsel in der Politik, mehr Transparenz und Mitbestimmung.


    Nieder mit der Mafia - Der Wunsch nach einem "normalen" Staat
    Langsam füllt sich der halbrunde Platz vor dem Parlamentsgebäude in Sofia. Über 3000 Demonstranten stehen schließlich um das Reiterdenkmal des russischen Zaren Alexander II. Die charakteristischen gelben Pflastersteine des Regierungsviertels sind mit Schnee bedeckt.

    Ein älterer Mann mit weißem Bart hält den Vorbeigehenden einen Bogen Papier unter die Nase. "Hier unterschreiben Sie, für Ihre Rechte", ruft er. "Wir werden die Diebe und Lügner abberufen". Viele bleiben stehen, unterschreiben, diskutieren, schimpfen auf die Politiker. Hände ballen sich zu Fäusten, werden Richtung Parlamentsgebäude gereckt. Vor den Stufen des Denkmals stehen Mirtscho Milanov und seine Frau Valentina. Sie sind gekommen, um ihren protestierenden Sohn zu unterstützen.

    "Unser Sohn ist Student, er ist 23 Jahre alt. Und wir wollen nicht, dass er irgendwann sein Glück woanders in der Welt suchen muss. Denn die Studenten haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie alle. Auch sie leiden unter der Unfähigkeit der Regierung, unter der Korruption, der Mafia, den Mutri."

    Mirtscho Milanov reibt sich die kalten Hände. Der 50-Jährige mit dem graumelierten Drei-Tage-Bart ist Wärmetechniker, Spezialgebiet Gasheizungen. Die aktuelle Gaskrise sei eine Ironie des Schicksals, scherzt er. Denn im Moment gehe in Bulgarien mit Gas gar nichts. Doch daran seien ausnahmsweise nicht die Politiker Schuld. Auch wenn Mirtscho sonst nichts von ihnen hält. Das seien doch alles Mafiosi - Mutri, wie man in Bulgarien sagt.

    "Sie sind überall. Das ist eine alte Wunde, und keiner weiß, wann die mal gesäubert werden wird. Bis jetzt wurde noch nicht einmal damit angefangen. Hier in Bulgarien spricht man von Gemeinden, ganzen Städten, die sich die Clans aufgeteilt haben. Das ist Fakt, jeder weiß das. Hier wissen alle, wer die Verbrecher sind, aber keiner ist im Gefängnis. Und ich habe den Eindruck, die Polizei schützt sie dabei."

    Ein paar Schritte entfernt haben die Naturschützer ihre Lautsprecher aufgebaut und wettern gegen illegale Bauaktivitäten. Daneben hält eine Gruppe Ärzte Schilder hoch, auf denen steht: Es reicht, ihr seid eine Schande, Rücktritt und Gefängnis. Gemeint ist die Regierungskoalition aus Sozialisten, der Zarenpartei und der Partei der türkischen Minderheit. Vor allem gegen die Sozialisten - die ehemaligen Kommunisten - richtet sich der Zorn der Demonstranten. Mirtscho und Valentina waren 30 Jahre alt zur Zeit der Wende, auch damals standen sie auf der Straße und haben demonstriert.

    "Wir werden nie das erste große Meeting vergessen, das hier 500 Meter weiter stattgefunden hat. Da waren wir circa eine Million Leute. Und alle wollten wir Veränderung. Die Hoffnung war, dass wir ein ganz normaler Staat werden. Ein normaler Staat im Sinne der europäischen Werte und Demokratie. Leider ist das so nicht passiert."

    Die Hoffnung auf eine schnelle Veränderung haben die Milanovs schon lange begraben. Valentina schaut traurig unter ihrer braunen Pelzmütze hervor. Immer, wenn die Dinge gerade ein bisschen besser laufen, wenn die Menschen beginnen, sich freier zu fühlen, dann gibt es wieder irgendeinen Rückschlag, seufzt sie. Und alles ist wieder so instabil und chaotisch wie zuvor. Mirtscho tritt auf der Stelle, um sich die Füße aufzuwärmen.

    Demonstranten werfen Schneebälle auf die Polizisten hinter der Absperrung. Die Polizei hat begonnen, die Versammlung aufzulösen. Die Milanovs sind ein bisschen enttäuscht von der geringen Beteiligung an der groß angekündigten Demonstration.

    "Im Prinzip ist der Bulgare ein Pantoffelheld. Wenn man bei Schnaps und Salat zusammen sitzt, dann schwingen wir große Reden und dann sind wir uns alle einig. Aber wenn Sie sehen, wie wenige heute nur gekommen sind, dann ist das enttäuschend für eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern."

    Auch Mirtscho und Valentina wenden sich zum Gehen. Wieder ein bisschen Hoffnung, die verloren gegangen ist. Vielleicht werden sie doch noch auswandern, zusammen mit ihrem Sohn, nach Westeuropa. Es gibt nur ein Problem: Leider ist eben kein Land so schön wie Bulgarien, sagt Mirtscho und lacht.

    "Im Moment haben wir keine Perspektive. Wir können nur abwarten, was passieren wird. Wir warten die nächsten Parlamentswahlen ab, und wenn sich die Farce mit dieser Koalition wiederholen wird, dann werden wir wohl über andere Wege nachdenken müssen."



    Sie hörten "Gesichter Europas": "Mutra, die Fratze" - Organisierte Kriminalität in Bulgarien. Autorin der Reportagen war Simone Böcker.

    Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Roman "Verfall" von Vladimir Zarev in der Übersetzung von Thomas Frahm, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch 2007. Sie wurden gelesen von Hendrik Stickan. Die Musik suchte Babette Michel aus. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!