Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Mythologische Gründungsereignisse

Wie kein anderes Medium ist die analoge Fotografie der Welt der Tatsachen verpflichtet. Dennoch ist sie im höchsten Maße kommentarbedürftig, da je nach Kontext das Bild anders gelesen werden kann. Zwei Ausgaben der Zeitschrift "Kunstforum International" beschäftigen sich mit dem Phänomen Fotografie.

Von Andrea Gnam | 14.03.2005
    Zehn verbotene Aufnahmen, die ein Ritual in einem Kloster im Himalaya zeigen, stehen zu Beginn der einführenden Betrachtungen von Heinz-Norbert Jocks zu "Gebrauch" und "Ende der Fotografie". Er hat sich in Deutschland und Frankreich mit mehr als 20 Sammlern, Galeristen, Theoretikern, Museumsleuten und Verlegern über ihre Leidenschaft für das Medium unterhalten. Die ausführlichen Gespräche und ein Teil der Fotografien, auf die man im Verlauf der Begegnung zu sprechen kommen wird, sind in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben der Zeitschrift "Kunstforum International" veröffentlicht. Die Faszination an der Fotografie besteht zunächst im Blick auf eine entschwundene Welt. Vor allem Fotografien aus der Zeit der Frühphase bis 1900 tauchen wie eine Erscheinung vor uns Heutigen auf. Es ist, wie Wilfried Wiegand zu vernehmen glaubt, "als würde eine andere Stimme zu uns sprechen". Selbst leidenschaftlicher Sammler der frühen Fotografie rechnet er "die Erfindung der Fotografie zu den mythologischen Gründungsereignissen der Moderne".

    In sepiafarbenes Hell-Dunkel getaucht und nur in Umrissen zu erkennen sind die tanzenden Mönche, deren Fotografien den visuellen Auftakt zum Thema bilden. In einem Sekundenbruchteil hatte der Fotograf den Mönchen im Kloster heimlich ihr Bild entwendet. Wim Wenders hat sich an anderer Stelle in einem Essay einmal der Frage gewidmet, was der Fotograf eigentlich einem Ort zurückgeben kann, von dem er sich davonstiehlt, sowie er dessen Bild eingefangen hat. Die Fotoserie der tanzenden Mönche aus den Achtziger Jahren indes hat einen ähnlichen Reiz wie die Aufnahmen aus dem Krimkrieg von Roger Fenton hundert Jahre zuvor. Régis Durand sagt im Gespräch mit Jocks, Fentons Bilder seien deshalb so faszinierend "weil sie uns etwa zeigen, was wir noch nie zuvor gesehen haben."

    Eine der Mythen der Fotografie, um die das Gespräch unweigerlich kreist, ist die Frage nach ihrer Wahrheit. Wie kein anderes Medium ist die traditionelle Fotografie, die analog vorgegebene Gegenstände aufzeichnet, der Welt der Tatsachen verpflichtet. Dennoch ist sie im höchsten Maße kommentarbedürftig, da je nach Kontext das Bild anders gelesen werden kann. Lügt die Fotografie also? Und wird angesichts des Apparates, der einen Großteil der Arbeit im Selbstlauf erledigt, die Subjektivität des Fotografen nicht überschätzt? Einig sind sich alle Gesprächspartner, die in der Vermittlung der Fotografie ihre Lebensaufgabe gefunden haben, darin, dass Fotografie oft allzu schnell der Kunst zugerechnet wird.

    Herta Wolf, die wie einige andere Theoretiker den historischen Blick auf die Fotografie einfordert, erläutert, dass die Zuschreibung der Fotografie zur Kunst ihren Ausgang in einer Rechtstreitigkeit hatte. Nach französischem Recht musste die Fotografie zu den Künsten gerechnet werden, um den Anspruch der Fotografen auf das Eigentum an ihren Fotografien zu begründen. Nur so konnten sie vor Geschäften mit nicht autorisierten Reproduktionen geschützt werden. Wichtiger als der Kunstaspekt ist den Sammlern das Moment der Echtheit: Wer in der lokalen Kultur verwurzelt ist, über die er mit seinen Fotografien berichtet, kann Momente von universaler Gültigkeit einfangen.


    Neben den großen, wiederkehrenden Fragen sind es die vielen Details, welche den Gesprächen ihre Farbigkeit geben. Sind Sammler und Galeristen erst einmal ins Erzählen gekommen, öffnet sich die Tür zur Schatzkammer ihrer langjährigen Arbeit. So erfährt man, wie wichtig die auf dem Markt erhältliche Vielfalt an Papieren für die Qualität eines Abzugs ist - das Angebot hat sich stetig reduziert. Auch über das Problem großformatige Farbfotografien länger als 30 Jahre zu konservieren wird gesprochen. Wertvolle Farbfotographien müssten im Prinzip in Kühlhäusern gelagert werden, selbst die Negative nehmen im Lauf der Zeit Schaden. Übereinstimmung herrscht bei der Frage nach den Fotografen, welche jeweils die Begeisterung für Fotografie geweckt und bis heute aufrechterhalten haben. Die historische Trias bilden August Sander mit seinen Porträtaufnahmen aus allen Gesellschaftsschichten der 10er und 20 er Jahre, Atget, der Fotograf des alten Paris, und Walker Evans. Er hat auf seinen Bildern die Misere der Wanderarbeiter im Amerika der dreißiger Jahre kompromisslos und doch würdevoll festgehalten.

    Die einzigen Fotografen, die befragt werden, sind Bernd und Hilla Becher. Sie sind die wohl einflussreichsten deutschen Fotografen der Gegenwart. Charmant und bescheiden stutzen sie die Mythen zurecht, die sich um ihre fotografischen Serien von industriellen Produktionsstätten gerankt haben: Nein, es wäre ihnen nicht primär um eine Grammatik ästhetischer Formen zu tun gewesen. Der Zwang zur Beschränkung und Systematisierung habe sich vielmehr aus der Vielfalt des Vorgefundenen ergeben. Das Kommen und Gehen der nur auf Zeit ausgelegten und zum Verschwinden verurteilten Zweckbauten habe sie nachhaltig fasziniert. "Wir erlebten intensiv alle Krisen" kommentiert Hilla Becher ihre Arbeit und formuliert damit wie nebenbei das zwingendste Moment von Fotografie.

    Kunstforum International 171 (Juli - August 2004): "Der Gebrauch der Fotografie"
    Kunstforum International 172 (September -Oktober 2004): "Das Ende der Fotografie"