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Mythos Krim (4/5)
Tataren kämpfen gegen die Annexion

Willkürliche Festnahmen, Misshandlungen und Folter – die Menschenrechtslage auf der Krim ist laut der UN katastrophal. Das bekommen auch die Krimtataren zu spüren. Einige kämpfen aktiv gegen die russische Annexion und lassen sich von Gerichtsverfahren und Gefängnisstrafen nicht abschrecken.

Von Gesine Dornblüth | 30.11.2017
    Ilmi Umerov wird Ende September zu zwei Jahren Haft verurteilt.
    Einlasskontrolle im Gericht von Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Der Wachmann prüft Pässe, leuchtet in Handtaschen. Alte Frauen mit Spitzenkopftüchern und junge Leute stehen Schlange. Einige tragen T-Shirts mit einem aufgedruckten Männergesicht. Darunter steht die Forderung "Free Umerow".
    Ilmi Umerow ist Krimtatar, Arzt, Politiker. An diesem Septembertag steht wieder einmal ein Gerichtstermin an. Ihm wird Separatismus vorgeworfen. Der Prozess zieht sich seit Monaten.
    Als die Krim von Kiew aus regiert wurde, hatte Umerow diverse hohe politische Ämter. Zuletzt war er im Medschlis aktiv, der politischen Vertretung der Krimtataren. Der Medschlis erkennt den Beitritt der Krim zu Russland nicht an. Russland hat die Organisation als extremistisch eingestuft und verboten.
    Umerows Tochter Ayshe setzt sich in die erste Reihe, packt Notizblock und Smartphone aus.
    "Seit Mai letzten Jahres beschäftigen wir uns ausschließlich mit dem Prozess gegen meinen Vater. Unser Leben findet nur noch zwischen dem Gericht und unserem Zuhause statt."
    Vorwurf: Aufruf zu Massenunruhen
    Ihr Vater betritt den Saal. Sein Gesicht ist leicht gerötet. Er bewegt sich langsam. Ilmi Umerow ist 60 Jahre alt, herzkrank und leidet an Parkinson und Diabetes. Auch er trägt ein T-Shirt mit einer Losung darauf. Er, der Angeklagte, fordert Freiheit für einen anderen Krimtataren, für Achtem Tschigos.
    Tschigos wurde kurz zuvor verurteilt. Er soll Anfang 2014, vor der Annexion der Krim, zu Massenunruhen aufgerufen haben. Damals war die Krim auch nach offizieller russischer Lesart noch Bestandteil der Ukraine. Dennoch verhängte ein russisches Gericht eine achtjährige Haftstrafe.
    Der Richter, Mitte dreißig, drahtig, kurz geschnittenes Haar, spricht so leise, dass ihn kaum jemand versteht. Stunden vergehen mit dem Verlesen von Prozessakten. Ayshe Umerowa malt die Karos in ihrem Notizblock aus. Ihr Vater erhält nur einmal das Wort.
    "Das Strafverfahren gegen mich ist politisch motiviert, fabriziert und gefälscht – und zwar wegen meiner Haltung als Bürger und als Politiker."
    Tags darauf bei den Umerows zu Hause. Sie wohnen in Bachtschissaraj, der Hauptstadt des untergegangenen krimtatarischen Reiches. Prächtige Rosenbüsche säumen die Hofeinfahrt. Vater und Tochter sitzen auf der Terrasse, Ayshe hinter einem Laptop.
    Umerow erkennt das Krim-Referendum nicht an
    Die beiden bereiten den nächsten Verhandlungstag vor. Der Prozess dreht sich um ein Interview, das Umerow dem krimtatarischen Fernsehsender ATR gegeben hat. Er soll, so die Staatsanwaltschaft, in krimtatarischer Sprache zur Abspaltung der Krim von Russland aufgerufen haben. Das stimme nicht, beteuert Umerow. Er sei falsch übersetzt worden. Er habe nicht zur Abspaltung aufgerufen, sondern lediglich seine Meinung geäußert, dass die Krim zur Ukraine gehöre. Das sei ja wohl nicht verboten.
    "Ich erkläre überall, dass ich das Ergebnis des Referendums von 2014 nicht anerkenne, dass ich den Anschluss der Krim an Russland nicht anerkenne und dass ich die Jurisdiktion Russlands auf der Krim nicht anerkenne."
    Umerow hat sich schon als Kind für die Krimtataren eingesetzt, zu Sowjetzeiten war das, als er noch im fernen Usbekistan lebte. Ende der 80er-Jahre war er einer der ersten, die auf die Krim zurückkehrten. Willkommen war er nicht.
    "Als ich hier in Bachtschissaraj als Arzt arbeiten wollte, hat der Chefarzt die Belegschaft zusammengerufen. Und das Kollektiv hat beschlossen, keine Krimtataren einzustellen. Ich war bei der Abstimmung im Saal. Ganze zwei Leute haben sich damals geweigert, die Hand zu heben. Von 100 oder 110. So war ich zwar in meiner Heimat, hatte aber keine Arbeit."
    Gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen
    Erst als die Sowjetunion auseinandergebrochen war und die Ukraine unabhängig wurde, machte Umerow politisch Karriere. Die Krimtataren bekamen eine bestimmte Anzahl von Sitzen im Parlament in Kiew und auf der Krim. Ihr Verhältnis zur herrschenden, russisch dominierten Elite in Simferopol blieb aber gespannt. Und nach 2014 wandte es sich gegen sie. Die Justiz eröffnete das Verfahren gegen Umerow und wies ihn sogar gegen seinen Willen in eine Psychiatrie ein. Mehrere Wochen war er dort.
    "Ich befand mich unter hundert Geisteskranken. Die sanitären, hygienischen Bedingungen waren schrecklich. Am fünften Tag verlor ich das Bewusstsein."
    Trotz all dieser Erfahrungen will Umerow sich nicht beugen.
    "Die Krimtataren sind das angestammte Volk der Krim. Die Worte Putins, die Krim sei heilige russische Erde, sind eine Lüge. Über die Frage, ob die Krim einem anderen Staat angehören soll, muss das angestammte Volk entscheiden. Oder zumindest mitentscheiden."
    Ilmi Umerow wird Ende September zu zwei Jahren Haft verurteilt. Kurz danach kommen er und der zu acht Jahren verurteilte Achtem Tschigos unerwartet frei, werden in die Türkei ausgeflogen und reisen von dort nach Kiew. Sie hoffen, bald auf die Krim, in ihre Heimat, zurückzukehren.