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"Nach 16 Jahren Lukaschenko ist man doch müde"

Am Abend protestierten Tausende gegen den Wahlsieg Alexander Lukaschenkos. Es habe zwar einen "liberalen" Wahlkampf gegeben, sagt Stephan Malerius - doch viele seien Lukaschenkos überdrüssig.

20.12.2010
    Dirk Müller: Der letzte Diktator Europas soll er sein, jedenfalls aus Sicht vieler Beobachter im In- und Ausland: Alexander Lukaschenko, seit 16 Jahren Präsident von Weißrussland, ein Mann mit eiserner Hand, und an diesem Wochenende wollte er zum vierten Mal hintereinander zum ersten Mann des Staates gewählt werden, trotz oder auch wegen seines autokratischen, autoritären Führungsstils. Nicht wenige Weißrussen profitieren schließlich auch davon und es hat offiziell zumindest wieder einmal geklappt. Mehr als 80 Prozent der Stimmen soll Alexander Lukaschenko bekommen haben. – Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Slawist Stephan Malerius von der Konrad-Adenauer-Stiftung, in diesen Tagen für uns in Minsk. Guten Morgen!

    Stephan Malerius: Guten Morgen.

    Müller: Herr Malerius, ein Sieg, über den wir schon am Mittwoch oder Donnerstag vergangener Woche hätten sprechen können?

    Malerius: Einerseits ja, weil niemand davon ausgegangen ist, niemand die Illusion hatte, dass die Stimmen hier tatsächlich ausgezählt werden. Andererseits blicken wir zurück auf drei Monate relativ liberalen Wahlkampfs. Wir hatten ja neun Kandidaten, die gegen Lukaschenko angetreten sind und die drei Monate doch einen relativ offenen Wahlkampf machen konnten. Das ist eine ganz neue Erfahrung für die Menschen hier im Land. Sie sind zwei Mal 30 Minuten im Fernsehen aufgetreten, im Radio hatten sie Live-Zeit und haben sich während dieser öffentlichen Zeit abgearbeitet an Lukaschenko und konnten ihn ganz offen kritisieren. Auch der Wahlkampf in den Regionen ist relativ ungestört verlaufen. Insofern: Das, was wir heute Nacht beobachten konnten, das ist relativ überraschend dann doch.

    Müller: Sie sprechen jetzt die Ausschreitungen an, die Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und Oppositionsanhängern. Wie ist das ausgegangen?

    Malerius: Zunächst: Gegen acht Uhr haben sich hier im Zentrum von Minsk circa 10.000 Menschen versammelt. Der Strom der Demonstranten, der ist vom Oktoberplatz im Zentrum der Stadt über den Freiheitsprospekt Richtung Regierungssitz gegangen. Es sind immer mehr Menschen geworden, 20.000. Das ist sicherlich die größte Demonstration seit Mitte der 90er-Jahre gewesen und sie spiegelt auch die Stimmung im Land wieder. Nach 16 Jahren Lukaschenko ist man doch müde und möchte ein neues Gesicht sehen, eine neue Stimme hören. Deswegen ist das Protestpotenzial relativ hoch gewesen und die Protestierenden haben sich vor dem Regierungssitz, wo die zentrale Wahlkommission sich befindet und so getan hat, als wenn die Stimmen ausgezählt werden, versammelt und haben dort protestiert und da ist es dann zu Auseinandersetzungen gekommen. Das Bild ist ein bisschen unübersichtlich, ob es nun Provokationen gewesen sind, die von der Staatsmacht inszeniert worden sind, oder ob es tatsächlich auch Demonstranten gewesen sind, denn der Zug selbst ist sehr friedlich gewesen. Auf jeden Fall sind die Demonstrationen dann aufgelöst worden, sehr viele Teilnehmer sind zusammengeschlagen worden und nach meinen letzten Informationen befinden sich fast alle Oppositionskandidaten mittlerweile in Haft.

    Müller: Also jetzt kann man nicht unbedingt sagen, wenn wir von Ihrer ersten Antwort noch einmal ausgehen, nehmen Ihre zweite dazu, dass Weißrussland, dass Lukaschenko in den vergangenen Wochen, Monaten demokratischer geworden ist?

    Malerius: Er hat den Anschein von Demokratie, einer demokratischen Entwicklung im Land erwecken wollen. Ich würde sagen, was wir beobachten konnten hier in den letzten drei Monaten, war der Versuch, Demokratie zu imitieren. Aber dass er demokratisch werden würde, davon ist niemand ausgegangen. Man konnte in den letzten drei Monaten sehen, dass es einen Widerspruch eigentlich gegeben hat zwischen auf der einen Seite einer liberalen Entwicklung im Land oder einer liberalen Atmosphäre, die sicherlich auch mittelfristig Auswirkungen haben wird, denn die Menschen haben, glaube ich, in diesen drei Monaten gelernt, Angst abzulegen und auch offen aufzutreten, zu sagen, ich bin gegen Lukaschenko und ich bin für diesen oder jenen Kandidaten. Aber niemand hatte eigentlich Illusionen, dass am Wahltag selbst ein demokratisches Prozedere eingehalten werden würde.

    Müller: Könnte sich Alexander Lukaschenko mehr Demokratie leisten?

    Malerius: Schwierige Frage. Sie haben in der Anmoderation gesagt, er ist zum vierten Mal Präsident geworden, und schauen wir uns in Europa um. Es gibt keinen Präsidenten, der auch nur sich für eine dritte Amtszeit bestätigen lässt. Also ich sehe für ihn eigentlich nicht die Möglichkeit, sich demokratisch zu legitimieren, nach dem, was 16 Jahre lang im Land passiert ist. Hinzu kommt eben die Stimmung im Land, von der ich gesprochen habe, also der Überdruss und die Müdigkeit gegenüber Lukaschenko. Die ist relativ groß und da muss er sehr vorsichtig sein, ob er tatsächlich offene demokratische Verhältnisse hier zulässt und es zu Wahlen kommen lässt, die dann fair und frei und transparent ausgezählt werden.

    Müller: Wenn wir das richtig gelesen haben, Herr Malerius, dann soll er ja 80 Prozent der Stimmen bekommen haben. Jetzt versuchen wir das mal losgelöst vom politischen Druck, von möglichen Manipulationen zu sehen. Wie viele würden ihn denn in freien Wahlen wählen?

    Malerius: Das ist schwer zu sagen. Es gibt hier keine zuverlässigen Meinungsumfragen und letztendlich, denke ich, ist es auch egal, ob er nun 70, 80 oder 90 Prozent bekommen hat. Ich denke, Fakt ist, die Stimmen wurden nicht ausgezählt, und Fakt ist auch, dass es hier ein großes Protestpotenzial in der Bevölkerung gibt. Insofern: alle Spekulationen darüber, wie viel er nun bekommen hätte, die halte ich nicht für produktiv. Ich denke, wir müssen uns daran halten, was wir genau beobachten konnten, und wir konnten hier Wahlen beobachten, die nicht demokratisch abgelaufen sind.

    Müller: Aber er ist ja durchaus in Teilen des Landes populär, bei vielen jedenfalls, die ihn jetzt auch gewählt haben und auch unter anderen Vorzeichen ja wohl gewählt haben würden. Was hat Lukaschenko für das Land erreicht?

    Malerius: Na ja, ich würde noch mal leicht widersprechen, denn es hat am Abend, gestern Abend auch Exit Polls gegeben, unabhängige Exit Polls – auch da muss man sicherlich vorsichtig sein -, die aber davon gesprochen haben, dass Lukaschenko bei den Wahlen 38,7 Prozent bekommen hat gegenüber 44 Prozent der gesamten Oppositionskandidaten. Das heißt, es hätte eine zweite Runde geben müssen.
    Wenn Sie fragen, was hat er erreicht in den 16 Jahren, dann muss man sicherlich konstatieren, dass das Land im Vergleich auch zu den Nachbarn Ukraine, auch sogar im Vergleich zu Russland relativ wirtschaftlich stabil ist, aber diese Stabilität, die ist auch dotiert aus Russland. Das heißt, er konnte die hohen Sozialleistungen, die er 16 Jahre lang umgesetzt hat, aufgrund von Subventionen, direkten Subventionen über Gas- und Ölpreise, die verbilligt aus Russland geliefert worden sind, durchhalten, und das ist kein Ergebnis von gelungener Wirtschaftspolitik, denn die Wirtschaft hier ist so gut wie gar nicht reformiert, es gibt keine Privatwirtschaft, 80 Prozent sind in staatlichem Besitz und Privatisierung, die wird nur ganz, ganz zaghaft und nicht transparent durchgeführt und angegangen.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der Slawist und Osteuropaexperte Stephan Malerius, für die Konrad-Adenauer-Stiftung derzeit in Weißrussland, in Minsk. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Malerius: Vielen Dank.

    Lukaschenko vor der Wiederwahl - Präsidentschaftswahl in Weißrussland